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9

»Nein, Sir«, sagte Mrs. Higgs zu dem flotten Offizier, welcher grüßte, als sie an der Tür erschien. »Mrs. Darnley und die junge Dame wohnen nicht mehr hier. Wir nehmen gewöhnlich keine Mieter, Sir; nur im letzten Jahr habe ich eine Ausnahme gemacht, um ihnen in ihrer Notlage einen Gefallen zu tun, und weil mein Mann und mein Sohn nicht da waren. Sie sind zu der alten Mrs. Tubb umgezogen. Das erste weiße Häuschen, Sir, an der Biegung der Straße. Sie können es nicht verfehlen, Sir, über der Tür steht ›Hawthorne Lodge‹.«

Obwohl die Ursache von Vannys Besuch in Iffley ein Todesfall war, brauchte er sich nicht als Überbringer einer traurigen Botschaft zu fühlen. Die beiden Damen wußten schon lange von Olivers Tod, und heute würden sie nur noch einen genauen Bericht über sein Testament bekommen, der ihren Kummer lindern und ihre schwärmerische Verehrung für den toten Freund noch vermehren sollte. Die Menge der Gefallenen hatte während dieser Jahre den Tod zu etwas derartig Vertrautem gemacht, daß die Menschen den Verlust ihrer Söhne und Brüder fast ohne Schmerz, nur mit einem Seufzer über vorausgesehenes und unvermeidliches Unglück ertrugen, als handelte es sich um schlechtes Wetter oder um Steuern. Es lag ein Hauch von Größe, fast von Triumph über einem solchen glatt abgeschlossenen Leben, das als Tat empfunden wurde, nicht als eine Folge unfreiwilligen Mißgeschicks. Kurz und nüchtern war der Lebenslauf des Soldaten: Anfang und Ende, dazwischen wackere Lustigkeit; und wenn sein einziger Triumph im Tode lag, so ist das schließlich das Schicksal jeder Tat, denn indem sie getan wird, muß sie notwendigerweise erlöschen. Das Schlimme daran war nur – wie Vanny in diesen Tagen oft Gelegenheit hatte zu beobachten – daß mit der getanen Tat, zum Beispiel mit diesem Kriege, der Zweck, den sie gehabt hatte oder hätte haben sollen, ebenfalls erledigt war und unwichtig wurde. Jede menschliche Leistung geht in der allgemeinen Flut des Geschehens unter, und ihr Ergebnis wird bald zweifelhaft und unauffindbar. Wir müssen uns damit zufrieden geben, unsere Triumphe im Fluge zu erhaschen, fortwährend zu sterben und willig zu sterben. In Olivers Fall war wenigstens nicht der Faden eines jungen Lebens grausam abgeschnitten worden, obgleich das die alten Damen in den Kondolenzbriefen an seine Mutter sicher behauptet hatten. Oliver würde nichts dabei gewonnen haben, wenn er hundert Jahre alt geworden wäre; niemals hätte er bessere Freunde gefunden oder die Frauen auf eine andere Art geliebt. Seine späteren Jahre wären nur blasse Nachahmungen seiner früheren geworden. Er war erschöpft gewesen; er hatte ausgespielt.

Hawthorne Lodge war ein modernisiertes Bauernhaus, sauber und behaglich, wenn man sich einmal an die winzigen Fenster und die niedrigen Stuben gewöhnt hatte und sich nicht mehr von ihnen bedrückt fühlte.

»So waren Sie also am Schluß noch bei ihm«, seufzte Mrs. Darnley mit einem halben Lächeln, nachdem sie sich von der Aufregung erholt hatte, die der Empfang eines so vornehmen Besuches ihr bereitete. »Ach, zu denken, daß wir ihn verloren haben, diesen guten jungen Mann, diesen treuen Menschenfreund, diese sanfte, gütige, reine Seele, die in der Tat in den Himmel gehen mußte, um ihresgleichen zu finden! – Schau doch, daß wir Tee bekommen, liebe Rose. – Es nimmt einem den Glauben an die Vorsehung, wenn solch ein grüner Zweig abgeschnitten wird, wo es so viel totes Holz in der Welt gibt, das zum Verbrennen bereit liegt. Unser armer junger Oliver, niemals hat er einer Fliege was zuleide getan! Und die bösen, alten Fürsten und Heerführer, die doch schuld sind am Blute des lieben Jungen, leben in Hülle und Fülle weiter!«

»Was auch die Feinde verbrochen haben mögen, unsern Oliver haben sie jedenfalls nicht getötet; und genau genommen hat es sich in seinem Fall auch nicht um Blut gehandelt. Es war ja mehrere Tage nach Abschluß des Waffenstillstandes. Das Feuer war überall eingestellt, aber die Truppen gingen schnell vor; und ein Motorradfahrer, der wohl dachte, daß nun alle Gefahr vorbei sei, sauste auf der falschen Straßenseite um eine Kurve, ohne Signal zu geben. Oliver versuchte einen Zusammenstoß zu vermeiden und fuhr dabei gegen einen Chausseestein. Sein Wagen hat sich überschlagen; er ist darunter geraten und hat sich das Genick gebrochen. Es war keine äußere Verletzung zu sehen, kaum ein Kratzer. Da der Unfall nach dem Waffenstillstand geschah, war es mir möglich, zur rechten Zeit nach Dijon zu kommen und die Leiche noch zu sehen; ich ließ ihn an einem abgelegenen, ruhigen Platz anständig begraben. Aber wahrscheinlich wird man ihn dort nicht ruhen lassen. Seine Mutter wird die Leiche nach Amerika überführen wollen. Im Tode hatte sein Gesicht ganz den alten Ausdruck angenommen. Nicht wahr, Sie erinnern sich doch noch, wie er als Junge aussah? Wir konnten eine Aufnahme machen. Ich habe einen Abzug bei mir.«

»Sie haben ihn andauernd photographiert«, warf Rose kühl dazwischen, während sie Tee einschenkte. Sie betrachtete die Photographie einen Augenblick aufmerksam und melancholisch und reichte sie ihrer Mutter. Mrs. Darnley hatte wie gewöhnlich ihre Brille nicht zur Hand, und sie hätte das Bild ebensogut verkehrt herum halten können, so wenig erkannte sie es. Aber sie hatte ihre Anstandsbegriffe. Vanny trug die Uniform eines Stabsoffiziers. Das flößte ihr Hochachtung ein und sie wußte wohl, was sie bei dieser Gelegenheit zu empfinden hatte.

»Ach, ja«, murmelte sie, »er sah so vornehm aus – wenn er sich nur nicht immer so geplagt und sich die Augen verdorben hätte, weil er Tag und Nacht Bücher las wie ein armer, blasser Gelehrter, während der große Reichtum ungenützt in Amerika herumlag. Er brauchte Ruhe und Glück, der arme liebe Junge, und jetzt hat er es gefunden, Sir, das glaube ich bestimmt.« Hier wischte sie sich die Augen, von unverkennbarer Befriedigung über ihr gutes Benehmen erfüllt.

Vanny lächelte der alten Frau mitfühlend zu und steckte die Photographie, die er eigentlich bei den Darnleys hatte lassen wollen, still wieder in die Tasche. Dann wandte er sich mit höflicher Miene, als nähme er eine beliebige Unterhaltung wieder auf, an Rose.

»Diesmal habe übrigens nicht ich die Aufnahme gemacht. Ich hatte keinen Apparat mit; einen so guten wie diesen habe ich nie besessen. Ein junger Arzt aus dem amerikanischen Krankenhaus, wohin man ihn schaffte, hat ihn photographiert, ein Dr. Piper – Tom Piper nannten sie ihn – der ein ehemaliger Schulfreund von ihm gewesen sein soll. Wenigstens muß ich sagen, daß ich noch nie einen Militärarzt gesehen habe, der so von einem Todesfall ergriffen war.«

»Ja, sie sind gewöhnlich sehr abgebrüht«, seufzte Mrs. Darnley, während sie Brot und Butter anbot. »Aber es hilft nichts, sich zu sagen, daß dies der Weg alles Fleisches ist. Wenn es unsere Nächsten und Liebsten trifft, zerreißt es uns doch das Herz. Sie finden uns in doppelter Trauer vor, Sir, seit Sie das letzte Mal da waren. Nachdem wir unsern Jim verloren hatten, mußten wir es auch noch erleben, daß der Pfarrer dahinsiechte und sozusagen Hungers gestorben ist, obgleich ich nichts dafür konnte, daß alle Lebensmittel rationiert waren. Und dann mußten wir auch noch hören, daß es Mr. Oliver ebenfalls getroffen hat. Alle drei zusammen, es ist furchtbar! Aber Mr. Oliver, Sir, wird sicher im Himmel zu den Schönsten gehören.« Mrs. Darnley wischte sich wiederum eine Träne ab, strich einige Krümel von ihrem Schoß und nahm sich noch etwas Tee.

»Sie sind nochmals verwundet worden«, bemerkte Rose, indem sie die schmalen Goldschnüre an Vannys Ärmel zählte. »Vorher waren immer nur zwei Streifen da.«

»Ja, diesmal nur eine Fleischwunde. In Italien war ich der Gefahr nicht so sehr ausgesetzt, mußte nur mit Nachrichten und Befehlen von einem Hauptquartier zum andern sausen. Die Flügel sind mir jetzt beschnitten. Ich darf nicht mehr allein fliegen und bin im Begriff, meinen Abschied zu nehmen.«

»Wollen Sie wieder in Christ Church wohnen und studieren?«

»Nein, nein. Ich habe mich abgemeldet. Einmal kommt der Tag, wo man mit kindischen Dingen Schluß machen muß. Zunächst werde ich nach Paris zurückgehen, bis alles endgültig geklärt ist. Später will ich in Italien leben. Es ist die Heimat meiner Mutter. In gewissem Sinne ist es die Heimat eines jeden, der sich der Vergangenheit bewußt bleibt oder noch an eine Zukunft der Christenheit glaubt. Noch immer gehen alle unsere Wege ebenso von Rom aus, wie sie nach Rom hinführen.«

Rose antwortete nicht, und er zog ein großes Schriftstück aus der Tasche und wandte sich wieder an Mrs. Darnley.

»Ich habe Ihnen eine Abschrift von Olivers Testament mitgebracht, das nun beglaubigt worden ist. Es sind Legate zu Ihren Gunsten darin ausgesetzt worden. Soll ich es Ihnen vorlesen? Oder ich teile Ihnen besser bloß den Inhalt mit, diese juristische Ausdrucksweise ist so lächerlich. Oliver hinterläßt Ihnen beiden je eine jährliche Rente: Ihnen, Mrs. Darnley, fünfhundert Pfund im Jahr und tausend Pfund im Jahr Ihrer Tochter; und zwar gilt die Rente Ihrer Tochter nicht nur auf Lebenszeit, sondern wenn sie Kinder haben sollte, die sie überleben, beziehen diese das Geld gemeinsam, bis das jüngste von ihnen volljährig ist.«

Eine Weile herrschte Stille im Zimmer.

»Ich gestehe«, sagte Mario trocken, »daß in Anbetracht seines großen Vermögens, des Mangels an andern Erben – abgesehen von seiner alten Mutter, die sowieso reich ist – und der Tatsache, daß Sie, soviel ich weiß, heimlich verlobt waren, mich diese Summen etwas überraschen.«

»Durchaus nicht«, erwiderte Rose, »wir waren nicht verlobt. Dieses Vermächtnis ist sogar sehr großzügig, und der Zusatz betreffs meiner eventuellen Kinder ist sehr charakteristisch für Oliver. Da zeigt er sich wieder einmal völlig selbstlos und großherzig; er gönnt mir einen Mann und Kinder; aber er hat Bedenken dagegen, einen Teil des Kapitals abzulösen. Alles soll am Schluß wieder an seine Leute daheim zurückfallen.«

»Nicht alles, denn er vermacht mir, obgleich ich es in Wirklichkeit gar nicht brauche, eine sehr nette runde Summe.«

»Sind nicht auch Legate für Universitäten und Museen ausgesetzt?«

»Ja, vor allem für das Bostoner Museum, zum Gedächtnis seines Vaters, der Kunstschätze gesammelt hat; dann für die Irrenanstalt von Great Falls, das ist wohl zu Ehren seiner Mutter; und ferner für das Williams College, zwecks Stiftung eines Stipendiums für bedürftige, aber verdienstvolle junge Leute, das ist zu seinem eigenen Gedächtnis.«

»Es sah wirklich manchmal so aus«, sagte Rose lächelnd, »als sei er in irgend einem Sinn bedürftig. Und merken Sie es nicht, Sie stehen unter der gleichen Rubrik wie die Museen; Sie sollen als ein Überbleibsel erloschener Zivilisationen konserviert werden.«

Sie lachten alle, trotz der traurigen Gelegenheit, aber Vanny fühlte sich nicht ganz wohl dabei. Diese Ausfälle überraschten ihn. Weshalb diese Bitterkeit und Undankbarkeit? Bestimmt wären der Pfarrer und Jim ganz anders ergriffen gewesen.

»Und ist nicht noch ein Legat, noch eine andere Rente ausgesetzt?« fragte Rose in einem Tone, als sei sie der Antwort sicher.

»Ja; außerdem fünfhundert jährlich für Mrs. Darnleys Mündel, Robert Bowler-Darnley.«

Das mütterliche oder vielmehr großmütterliche Herz der alten Dame war über dies Vermächtnis noch mehr entzückt als über das für sie selbst.

»Die Güte dieses jungen Mannes,« rief sie, »gehörte in eine bessere Welt, wo es Heilige gibt. An Bobby, in dem er doch nichts sehen konnte als ein elendes, bemitleidenswertes Wurm – an den hat er auch gedacht und ihn mit fünfhundert im Jahr zum jungen Gentleman gemacht! Gott segne den wohltätigen Geber und belohne ihn in der andern Welt, denn in dieser war er zu rein und gut, um unsere Elendigkeit zu ertragen! Und tausend im Jahr für Rose, das ist eine mehr als königliche Freigebigkeit, und alles nur, weil sie früher ein Kinderspiel zusammen gespielt hatten, in dem sie das Aschenbrödel für den Märchenprinzen war; denn Sie müssen bedenken, Sir, daß sie nie etwas miteinander gehabt haben, außer diesem Scherz, als sie noch ein kleines Mädchen war und nicht wußte, was Heirat bedeutete. Denn später konnte sie doch nicht erwarten, daß er sich zu dem Kinde eines armen Pfarrers herablassen würde, wo er die Tochter eines Herzogs oder irgend eine reiche Erbin in seiner Heimat hätte heiraten können.«

»Nein, Mrs. Darnley, so dachte er nicht über die Sache. Ich kann Ihnen versichern, daß er manchmal sagte, wenn wir von Liebe und Heirat sprachen, er habe seine Braut schon gewählt – es kam mir vor wie Paul und Virginie – nur sei sie noch zu jung. Das war vor dem Kriege, in letzter Zeit haben wir natürlich nicht viel von diesen Dingen gesprochen und auch von andern nicht, denn wir waren ja die ganze Zeit getrennt. Doch als ich dann in Iffley Court Ihr Nachbar und in Ihrem reizenden Garten so häufig Ihr Gast war, schrieb ich ihm und gratulierte ihm zu seinem guten Geschmack und zu seinem Glück; er nahm meine Komplimente ganz schlicht und ernsthaft auf, sprach von der Heimat, die er Ihnen in Amerika bereiten wollte, und sogar – so sehr beschäftigte sich seine Phantasie mit diesem Gegenstand – von den Kindern, die er sich erhoffte.«

»Ja, er dachte immer an die Kinder. Ich war nur ein notwendiges Mittel dazu. Es sollten Jungen sein wie Jim und Bobby und vielleicht ein kleines Mädchen als idealisiertes Bild von mir. Da Sie, wie er sagte, sein bester Freund waren, hätte es ihm eigentlich noch lieber sein müssen, wenn sie Ihnen ähnlich geworden wären.«

»O, mich sah er nur als Naturschauspiel an: als einen internationalen Mischling, den man duldete und über den man vielleicht lächeln konnte. Ich glaube, er bewunderte manchmal selber die Großzügigkeit, mit der er bereit war, mein Freund zu sein; aber mein Typ eignete sich nicht dazu, reproduziert zu werden. Ihr Bruder dagegen schien ihm die Vollendung aller Männlichkeit, ebenso wie Sie die Vollendung alles Mädchentums: nordisch und unverdorben. Sie wissen, seine deutsche Erzieherin und ich pflegten ihn Siegfried zu nennen; dieser Scherz gefiel ihm, er hat ihn beinahe ernst genommen; und Sie sollten seine Brunhilde werden.«

»Ja, ich weiß. Er überredete sich gern zu dem Glauben, er sei in mich verliebt, denn das schützte ihn vor andern Frauen. Ich hätte meine Aufgabe in bedauerlichem Maße verkannt, wenn ich ihn nicht auch gegen mich selbst geschützt hätte.«

»Wollen Sie damit sagen, daß Sie seinen Heiratsantrag abgelehnt haben?«

»Ja.«

»Unsinn«, fuhr Mrs. Darnley mit gerötetem Gesicht scheltend dazwischen. »Wie wagst du, dich so vor Olivers Freund aufzuspielen? Denkst du, er wird dir glauben? Als ob der beste Mensch auf dieser Welt nicht gut genug für eine unbemittelte Waise gewesen wäre! Du hast Mr. Oliver freigegeben, weil er so gewissenhaft zu seinem Wort stand, daß er dich vielleicht geheiratet hätte, nur wegen dieses törichten Geschwätzes von damals, als ihr noch kleine Kinder wart. Du warst zu stolz, um ihn so auszunützen. Schließlich bist du meine Tochter, du wirst doch einen jungen Mann nicht einfangen! Du weißt ganz genau, daß er dich nicht geliebt hat. Das wird sich auch nie jemand einfallen lassen. Du bist zu kalt und hochmütig und bettelstolz; es war nur Christenpflicht und einfacher Anstand, den jungen Herrn frei zu geben.«

Während ihre Mutter noch redete, hatte Rose das Zimmer verlassen, um ihre Tränen zu verbergen.

»Ich fürchte, Ihre Tochter hatte eine tiefere Neigung zu unserm Freund, als sie zugeben möchte. Ihr Spott ist nur eine Maske, um ihre Gefühle zu verbergen. Das tut mir wirklich leid. Es muß ein Mißverständnis zwischen ihnen gegeben haben. Wenn Menschen von Natur aus zurückhaltend sind, dann tun ihre Worte oft ihrem Herzen unrecht. Ich wußte, daß Oliver Ihre Tochter als ein wunderbares, eigenartiges Kind verehrte; das machte mich besonders auf sie aufmerksam, als ich in Schloß Iffley war, und ich fand trotz ihrer Jugend unter ihrer ruhigen, ironischen Außenseite Anzeichen einer tiefen Weiblichkeit. Sie dachte an Oliver, wenn sie mit mir sprach; ich fühlte unter ihrer ruhigen Heiterkeit die geheime Erregung; und wenn ich mit ihr sprach, dachte ich daran, wie groß eines Tages sein Glück sein würde. Hätte das Schicksal es nicht verhindert, so hätten wir sie noch beide glücklich gesehen. Aber er hat das Ende schon vorausgeahnt und hat schwer gelitten unter dieser seltsamen, irrtümlichen Entfremdung. Wir haben in seiner Tasche ein paar Verse von ihm gefunden – ich wußte gar nicht, daß er dichtete, aber das tun wir wohl alle einmal im Leben. Ich habe die Abschrift bei mir. Möchten Sie sie gern hören?«

Mrs. Darnley konnte nicht gut nein sagen. Sie konnte sich nicht schmeicheln, von Gedichten mehr zu verstehen als von Predigten oder Psalmen; aber der Klang vieler poetischer Worte gefiel ihr und war ihr vertraut; so setzte sie sich denn in ihrem behaglichen Stuhl am Feuer zurecht und war bereit, einen ganzen Gesang über sich ergehen zu lassen.

Mario begann langsam mit leiser, gemessener Stimme zu lesen:

Sie stand am angeschwoll'nen Fluß
Allein inmitten des Verfalls,
Stand träumend wie die Rose träumt,
Halboffen in der trüben Luft,
Als hätt' der Meerwind des Geschicks
Das Herz mit Leid ihr angeweht.
Schau, Kind, dein Freund steht vor der Tür,
Heut ist es nicht der Tod, der pocht.
Auf den du harrtest, er ist hier.
Hast du für ihn kein sanftes Wort,
Der so getreu war seinem Schwur?
Die Pflicht umhegte seinen Pfad
Und holde Ahnung band uns früh,
Wortlos und stark seit manchem Jahr.
Bist du so jung, daß du erschrickst,
Und scheust du seine Wiederkehr?
Und ist die weiße Rose nur
Für seine Bahre ihm bestimmt?
Göß in dein Herz, bevor er geht,
Sein Herz nur einen Tropfen Blut,
Schlöß zitternd sich dein weißer Kelch
Und blüht' als rote Knospe fort.
Da sprach sie: »Wie das Schilf im Fluß,
So schwanken unsre Seelen stets.
Das Schicksal fügt der Menschen Bund,
Doch Liebesleid, nicht Liebeslust
Ist über unser Herz verhängt.«
Drauf neigte sie das Haupt, er schied.

Die Monotonie dieser Zeilen übte eine beruhigende Wirkung auf Mrs. Darnley aus; sie hatte die Augen geschlossen; dann war sie friedlich in das kleine Schläfchen verfallen, das sie sich gewöhnlich zu dieser Tageszeit leistete.

Vanny runzelte die Brauen, faltete die mißachteten Verse zusammen und steckte sie schweigend in die Tasche neben die mißachtete Photographie, erstaunt über die Gleichgültigkeit und Undankbarkeit dieser Frauen. Mit einer gewissen Befriedigung über den Alleinbesitz seiner Liebe zu Oliver knöpfte er die Tasche zu; und mit derselben Befriedigung zog er aus der andern Tasche ein Zigarettenetui, das ganz wie das Geschenk irgend einer hohen Persönlichkeit aussah. »O edle Welt«, dachte er, »das sind die Manieren der Zukunft. Man darf einnicken oder rauchen, ganz gleich wann, ganz gleich wo, und braucht nicht mehr zu tun, als fühlte man etwas, was man in Wirklichkeit nicht fühlt.«

Das Kratzen des Streichholzes weckte die alte Dame, sie lächelte leer und versuchte so auszusehen, als habe sie nicht geschlafen. Sie hatte die Existenz irgendwelcher Verse glatt vergessen.

»Ich muß wieder fort«, sagte Mario, indem er aufstand, und dem Alltag seinen Lauf ließ. »Darf ich mich von Miß Rose verabschieden, oder wollen Sie das für mich tun?«

In der kleinen Wohnung gab es nur wenige Räume, und die Wände waren dünn. Rose hielt sich in der Nähe auf, und als unverkennbare Geräusche ihr verkündeten, daß der Besucher aufbrach, kam sie wieder ins Wohnzimmer.

»Es ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte sie, »daß Sie persönlich gekommen sind und uns diesen Bericht gegeben haben. Sie hätten die Dokumente auch durch Ihren Notar schicken können.«

»Ich bin nicht nur einer von Olivers Testamentsvollstreckern, sondern gewissermaßen sein Repräsentant. Ich möchte seine Gefühle ehren. Wer könnte denn anders! Seine Gefühle waren so vornehm und zart und blieben leider so unerwidert.«

»Ja«, antwortete sie, von seinem Vorwurf nicht weiter getroffen. »Er war nicht sehr erfolgreich in seinen Liebesangelegenheiten. Anders als Sie, nach allem, was man hört. Er pflegte Sie als einen entsetzlichen Herzensbrecher hinzustellen; aber ich merke, er hat Ihnen unrecht getan. Wie fast allen Männern liegt auch Ihnen mehr an Ihren Freunden als an Ihren Opfern.«

Es lag ihm auf der Zunge zu sagen, daß es eine Liebe gibt, die größer ist als Frauenliebe; aber er beherrschte sich. Warum sollte er die Ärmste strafen, die sich mit bitteren Worten gegen ihren Schmerz zu verteidigen suchte? Seine Ritterlichkeit regte sich. Er ergriff mit einer gewissen freundschaftlichen Wärme ihre Hand, was bedeuten sollte, daß sie sich trotz aller Stichelei einig fühlten, und sah sie mit seinem charakteristischen Lächeln an, das voller Humor und Selbstironie war und doch unterdrückte Lebenskraft und Freude ausströmte. Dies Lächeln war eine seiner besten Waffen in seiner Eigenschaft als Herzensbrecher.

»Wie ungerecht seid ihr Frauen doch! Wir alle beten euch an, lesen euch die Wünsche von den Lippen, sind unser Leben lang eure Sklaven. Wir können nicht anders; das ist der Tribut, den wir der Natur schulden. Und dann neidet ihr uns mit der grundlosesten Eifersucht unsere Rache: unsere wenigen freien Augenblicke, unsere armen, melancholischen alten Freundschaften!«

»Sie scheinen aber bis jetzt noch nicht der Sklave irgend einer Frau zu sein?«

»Ich versichere Ihnen, ich bin andauernd verliebt. Das ist mir zur Gewohnheit geworden, und ich bin der Sklave dieser Gewohnheit. Der arme Oliver erlaubte sich nie die Annehmlichkeit von Gewohnheiten – wenigstens nicht in wichtigen Dingen. Er revidierte sich selbst fortwährend und dachte niemals daran, daß er vollkommen gewesen wäre, wenn er sich nur gestattet hätte, so zu sein, wie er von Natur aus war.«

»Bestimmt hätte er nicht gewonnen, wenn er sich noch mehr Tugenden angeeignet hätte.«

»Sie mögen Tugend nicht? Das kommt davon, wenn man eine Pfarrerstochter ist. Sie haben die Tugend und das Reden über die Tugend satt. Aber freigewachsene Tugend ist das Anziehendste, was man sich denken kann. Wer hätte sie an Oliver nicht geliebt! Er war einzig in seiner Sanftmut und Reinheit.«

Sie sah, daß Marios Augen feucht waren, als er ihr nochmals schweigend die Hand drückte und sich zum Gehen wandte. Es war hoffnungslos, mit diesen törichten Männern zu streiten. Sie waren so sentimental und so stark.

Vanny besaß menschlicher Schwachheit gegenüber viel Nachsicht und wußte die Verschiedenheit der Temperamente besonders zu schätzen, zumal bei Frauen. Er hätte die Zähmung der Widerspenstigen unternehmen können; Geist und Originalität zogen ihn mehr an, als Seltsamkeiten ihn abstießen. Auch da, wo er selbst zum Opfer von Bosheit und Betrug wurde, blieb er voll gutmütiger Gleichgültigkeit. Aber heute abend, als er längs des verlassenen Flusses – es war gerade in den Weihnachtsfeiertagen – zurück nach Oxford wanderte, konnte er eine gewisse Unruhe nicht los werden. Er war aufs äußerste überrascht und bekümmert über die Aufnahme, die er gefunden hatte. Was konnte Oliver zu dieser Familie hingezogen haben, die sich seiner Zuneigung so unwürdig erwies? Auch der Bruder war augenscheinlich eine üble Nummer gewesen, und man konnte die Predigten eines Pfarrers schätzen, ohne den Wunsch zu hegen, seine Tochter zu heiraten, und ohne seine illegitimen Enkelkinder so anständig zu versorgen. Was für eine Grille hatte Oliver wohl bewogen, seine Hoffnungen auf dieses angebliche Liebchen zu setzen, das seine Liebe verspottete und seine Verdienste nicht würdigte? Ein seltsames, stolzes Mädchen; kein Herz; sie brachte es vielleicht überhaupt nicht fertig, sich zu verlieben, und mußte deshalb verzweifeln.

Plötzlich kam ihm ein neuer Gedanke. Er blieb stehen und schaute nach der Mühle von Iffley zurück, die zwischen den Pappeln noch undeutlich sichtbar war. »Hat sie mich nicht reichlich oft und recht sonderbar angesehen?« murmelte er und schlug mit seinem Stock gegen seine Stiefel. »Hat sie nicht meine Verwundungen gezählt? Hat sie nicht gefragt, ob ich nach Christ Church zurückkommen würde? Hat sie nicht bei jeder Wendung des Gesprächs wieder von mir angefangen, statt über Oliver zu reden? Bei Gott, das ist's! Sie haßte ihn, nicht um seiner selbst willen – wer könnte das über sich bringen! – sondern weil er zwischen uns stand, weil mich sogar die Erinnerung an ihn noch verhindern wird, mich näher mit ihr einzulassen. Que faire? Umkehren und eine wohlüberlegte Attacke unternehmen? Sagen, daß ich vergessen hätte, sie zu fragen, ob sie nicht Olivers Verse sehen wollte – die ich ihr dann ja immer noch vorenthalten kann? Und wenn sie nein sagt oder gleichgültig bleibt, die Offensive eröffnen? Und es wäre nicht einmal ein Überfall, denn ich bin mir des Geländes sicher. Na, und was dann? Sie heiraten? Jamais de la vie! Ich kann keine Frau heiraten, die weder Religion, noch Familie, noch Geld hat. Das wäre ein Verbrechen, an meinen Kindern. Sie hat jetzt allerdings tausend Pfund jährlich. Aber nur solange sie lebt. Man kann doch auf einer Lebensrente keine Familie gründen. Doch wenn Heirat nicht in Frage kommt, so gibt es ja noch eine andere Möglichkeit. Sie verführen? Ich kann sie nicht verführen. Ich habe niemals eine Frau verführt, nicht absichtlich. Ich könnte ihr offen sagen, daß ich nicht heiraten kann, und ihr unter dieser Bedingung meine Liebe antragen. Sie sieht gut aus, sie ist intelligent – allzu intelligent. Für ein Mädchen vom Land hat sie eine eigenartige Vornehmheit. Aber ist ihr Blick nicht recht kalt? Es wäre doch nur Theater; eine ermüdende Komödie. Ich mag schon hie und da mal ein Mädel aus Mitleid geküßt haben, weil sie ein liebes süßes Ding war und ich sie wirklich liebte, wenn ich sie weinen sah; aber in großem Stil mit einer Frau dieses Formats aus Mitleid anfangen – das wäre absurd! Ihr Liebhaber sollte sie anbeten oder sie wenigstens bewundern und verehren, wie es der arme Oliver getan hat. Aber ich weiß, sie ist genau wie andere Frauen, nur geht sie auf Stelzen. Wenn ich sie bäte, mit mir vierzehn Tage nach Paris zu kommen – wäre sie dann wohl beleidigt? Oder würde sie mit Freuden ja sagen? Bei Gott, ich glaube, das würde sie wirklich. Sie ist modern, sie hat keine Vorurteile. Es ist ihr möglicherweise ganz egal, ob sie mit einem Mann verheiratet ist oder nicht. Sie würde ihre Persönlichkeit entwickeln. Sie würde Erfahrungen sammeln. Sie hätte ein großes Erlebnis.«

Hier fügte Mario auf französisch und italienisch verschiedene starke Ausdrücke hinzu und nahm seinen Marsch nach Oxford mit langen Schritten wieder auf.

Nach einer kleinen Weile jedoch stand er, ohne zu wissen weshalb, wiederum still, bückte sich, suchte sorgfältig unter den Kieseln auf dem Pfade nach einem geeigneten flachen Stein und warf ihn geschickt über den Wasserspiegel, so daß er mehrmals aufhüpfte. Das war ein Spiel für kleine Jungen. Er hatte sich nicht mehr damit abgegeben seit jener fernen Zeit in Brüssel, wo er, weiblichen Reizen gegenüber noch ahnungslos, an Festtagen am Kanal mit seinen kleinen Schulkameraden paarweise spazierengeführt worden war, alle in schwarzen Uniformen mit blitzenden Messingknöpfen. Steine-* werfen war verboten, konnte aber gewagt werden, wenn der junge Priester, der die Aufsicht hatte, nach einer andern Seite schaute. Er war ein liebenswürdiger junger Mann und sah zuweilen absichtlich nicht hin. Ach, an was für törichten Dingen finden wir Vergnügen – an Dingen, die wir aus Torheit lieben und die aus Torheit verboten sind! Der Stein, den Vanny über die glatte Wasserfläche hatte hüpfen lassen, war für sein Empfinden ein vollkommenes Symbol aller Geheimnisse der Leidenschaft. Seine augenblickliche Regung, den Lebemann zu spielen, wurde auf diese Weise ausgedrückt, abreagiert und mit knabenhaftem Übermut zurückgewiesen. In seiner Einbildung hatte er seine kindische Laune schon genossen; er hatte seinen Wurf getan; und jeder weitere Wurf war damit restlos erledigt.

Als er mit munterem Schritt weiter eilte, seinen Stock schwang und die Köpfe der Gräser am Wege abhieb, ging ihm ein Stichwort aus einer alten französischen Komödie im Kopf herum: » Je ne vous aime pas, Marianne; c'était Célio qui vous aimait.«

In Hawthorne Lodge hatte Rose sich inzwischen wieder in ihr kleines Zimmerchen zurückgezogen; aber jetzt, wo kein indiskreter Besucher sie hören konnte, beherrschte sie ihre Erregung nicht mehr.

»Liebe Rose, weine doch nicht«, sagte ihre Mutter sanft von der Tür her, die sie halb geöffnet hatte, ohne einzutreten; denn Mrs. Darnley hatte eine gewisse Scheu vor ihrer Tochter und wollte sich nicht in deren eigensten Kummer einmischen. »Es hat keinen Zweck, daß dir dein dummes Herz bricht um einen jungen Mann, der tot und begraben ist. Er hat dir doch eine nette Summe hinterlassen, und du kannst einen andern nehmen! Schließlich ist er uns immer fremd geblieben, er war kein Mann zum Heiraten. Aber bei alledem«, brummelte die alte Frau und verfiel in den Ton der alten Weiber, die an den Straßenecken Streichhölzer feilbieten, »bei alledem war er ein gütiger Herr


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