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9

Sein schneller Wagen führte Oliver fast noch weiter, als er gedacht hatte: bis nach New York zu dem altmodischen Hause seiner Tante Caroline in Gramercy Park. Er hatte von Edith einen Brief bekommen, den man herzlich und verwandtschaftlich nennen konnte. Sie schrieb, daß sie Oliver in Großmamas Namen zu Weihnachten einladen oder, falls er das Fest zu Hause feiern wollte, ihn bitten solle, möglichst bald nach den Feiertagen zu kommen und den Rest seiner Ferien bei ihnen zu verleben. Eigentlich hätten sie auch auf den armen Mario gerechnet. Die Sache mit seiner Mutter sei so traurig. Kein Wunder, daß er sich entsetzlich aufgeregt habe und nun fühle, er könne nicht wieder zurück nach Harvard, wo die Leute so frivol seien, und statt dessen ein neues, ernstes, männliches Leben auf eigene Faust beginnen wolle. Sie würden ihn alle sehr vermissen, könnten ihm aber natürlich nur das wünschen, was letzten Endes das Beste für ihn sei. Sie wüßten, wieviel Oliver in seiner großherzigen, vornehmen Art für Mario getan hätte, und sie empfänden das als wirkliches Band zwischen ihnen, ganz abgesehen von den verwandtschaftlichen Beziehungen. So hofften sie also alle, Maud mit einbegriffen, die ihr gerade über die Schulter schaue, er würde stets ihr Haus als sein Heim oder als sein Hotel betrachten, so oft er nach New Yorck komme. Es stehe ihm völlig frei, auszugehen, wohin er wolle, und andere Bekannte in der Stadt zu besuchen; jedenfalls sei an ihrem Tisch immer ein Platz für ihn bereit. Die oberen Stockwerke des Hauses ständen halb leer; auch wenn sie ihm einmal nicht ihr bestes Gastzimmer geben könnten, sei für einen jungen Mann von spartanischen Gewohnheiten – denn so habe Mario ihn geschildert – immer noch ein anderes Zimmer da.

»Du hast doch selbstverständlich die Einladung angenommen«, bemerkte Mrs. Alden in ungewöhnlich gnädigem Ton, als ihr Sohn ihr diesen Brief zeigte. »Es ist Zeit, daß du anfängst, dir anständige Verbindungen zu schaffen. Deine Tante Caroline ist zwar keine hervorragende Frau; sie hat sich nie um etwas anderes gekümmert als um Mode und Klatsch und auch ihre Pflichten gegen deinen armen Vater vernachlässigt, als er noch ein Junge war und in ihrem Hause lebte. Später machte sie sich nur über seine Schwierigkeiten lustig und ließ ihn seiner Wege gehen; nicht etwa, weil sie sich an den Fehlern stieß, die er wirklich hatte, sondern weil er ihr nicht verdorben genug war und sich seiner Verpflichtungen gegen mich einigermaßen bewußt blieb. Ich glaube wahrhaftig, sie wäre entzückt gewesen, wenn er mich verlassen hätte und mit irgend einer notorisch unmoralischen Person auf seiner Jacht durchgebrannt wäre. Da hätte sie was zum Lachen gehabt. Aber jetzt in ihrem hohen Alter kann man sie wohl als harmlos bezeichnen. Du bist gescheit genug, um zu merken, daß sie nur deshalb über wertvolle Dinge und wertvolle Menschen spöttelt, weil sie sie nicht versteht. Ihre Enkelinnen sind besser erzogen; deren Mutter war eine vernünftige Frau. Edith ist bestimmt ein ungewöhnliches Mädchen, hochbegabt, obwohl sie sich vielleicht in mancher Hinsicht von ihrem Idealismus zu weit führen läßt, zum Beispiel in ihrer Begeisterung für die Hochkirche und in diesem übertriebenen Interesse für ihren italienischen Vetter, auf den sie anscheinend ebenso wie du hereingefallen ist. Aber er wird die Maske abwerfen, sobald seine Großmutter gestorben ist und er ihr Geld bekommt, und dann wird keiner von euch beiden mehr von ihm hören.

Wirklich, bei der letzten Zusammenkunft der ›Töchter der Revolution ‹ hat Edith eine wundervolle Ansprache gehalten – sie war das einzige junge Mädchen, das überhaupt gesprochen hat. Sie sah so schön und ruhig aus, geradezu erleuchtet, und dabei so vornehm und damenhaft, daß ich ganz stolz war, weil ich erzählen konnte, sie sei meine Nichte.«

»Was hat sie denn in ihrer Ansprache gesagt?« fragte Oliver in seiner Unschuld.

»O, das kann ich nicht mehr so genau wiederholen. Ich weiß die Worte nicht mehr, es war der Geist des Ganzen, der uns allen so gefallen hat, ihr würdiges Auftreten trotz ihrer Jugend und ihre Gabe sich auszudrücken. Ich bin froh darüber, daß gerade sie dich eingeladen hat und dich in ihren Kreis einführen will. Es ist Zeit, daß du Damen kennen lernst, geistig hochstehende Frauen, und nicht nur unwissende Jungen oder rauhbeinige junge Männer. Ich hoffe sehr, daß du noch lernst, dir deine Freunde mit Umsicht auszusuchen. Das ist eine große Charakterprobe. Ein junger Mensch kann wohl anfangs aus Unwissenheit oder Zufall in schlechte Gesellschaft geraten, aber wenn er sich rechtzeitig wieder zurückzieht, kann er eine ganz nützliche Lehre daraus mitnehmen.«

So war Oliver von seiner selbstlosen Mutter wohlvermahnt und beinahe mit ihrem Segen entlassen worden und hatte carte blanche für gefühlvolle Erlebnisse erhalten, eine Tatsache, die ihn ermutigte und in dem unbestimmten Gefühl bestätigte, daß er nun eine Art von heiligem Hain betrete wie Orest in Goethes ›Iphigenie auf Tauris‹, und daß die Priesterin unter seinen schattenspendenden Wipfeln Edith sein werde. Sie mochte in seltsamen, veralteten, abergläubischen Vorstellungen und hartnäckigen Vorurteilen befangen sein, aber im Grunde stand sie doch über ihnen: ihr Wesen zeugte von wahrer Humanität. Sie würde ihm von der Fülle ihrer matriarchalischen Kräfte mitteilen, und er würde ihr junger Held und Anbeter sein.

Der Verkehr in den Straßen von New York war für diese poetischen Bilder recht ungünstig, und sie waren ganz verflogen, als Oliver sein Auto zögernd in Gramercy Park zum Stehen brachte. Das Haus, vor dem er hielt, mußte ungefähr das richtige sein, Nummer und Türschild blieben in der Dunkelheit unleserlich. Ein Mann in Livree und Gamaschen kam sogleich heraus und bestätigte seine Vermutung. Ja, dies sei das Haus von Mrs. van de Weyers. Man werde sein Gepäck gleich hereinbringen und sein Auto in die Garage fahren. Er brauche sich nicht zu bemühen.

Die eingefleischte Gewohnheit jedes amerikanischen Studenten, sich selbst zu bedienen, ließ Oliver fast wünschen, er dürfe seine Koffer selbst tragen und seinen Wagen selbst einstellen. Er fühlte sich wieder wie am ersten Tage auf der Jacht seines Vaters; doch erinnerte er sich daran, wie schnell er gelernt hatte, die Dienstbeflissenheit und fortwährende Anwesenheit von Untergebenen, die ihn zuerst so belästigt hatte, zu dulden. Schließlich war dies die Familie seines Vaters, er war sozusagen hier zu Hause; es wäre töricht und seiner unwürdig gewesen, sich hier wie ein Fremder vorzukommen. Er mußte die eleganten Äußerlichkeiten als Selbstverständlichkeit entgegennehmen und durfte sich nicht wie ein Tölpel anstellen.

Er war die Eingangsstufen zur Hälfte hinaufgestiegen, als sich die Tür öffnete und ein bescheidenes, wohlgeschultes Hausmädchen in Häubchen und makelloser weißer Schürze ihn knicksend begrüßte und einließ; sie nahm seinen Hut und seinen Mantel mit der lächelnden Geschäftigkeit erfüllter Erwartung entgegen. Dann ließ sie ihn sofort in ein Zimmer eintreten und meldete mit heller Stimme: »Mr. Alden, Sir.«

Ein hochgewachsener Herr erhob sich langsam aus den Tiefen eines Ledersessels, wandte sich mit einer gesetzten, wohlüberlegten Begrüßungsmiene Oliver zu, reichte ihm formell die Hand und hielt eine kleine Ansprache.

»Ah, ja, natürlich. Wir haben dich erwartet. Deine Tante Caroline hat mich gebeten, dich in ihrem Namen zu empfangen. Sie kommt immer nur zum Dinner herunter. Heute aber möchte sie allein mit dir essen, um mit dir über Familiendinge zu sprechen. Später würden sich die Mädchen freuen, wenn du zu ihnen in die Oper kämst. Hier ist deine Eintrittskarte. Du wirst sie mit ihrer Tante, Miß Stuyvesant, bei der sie zu Abend essen, in unserer Loge treffen. Ich selbst habe eine geschäftliche Verabredung. Wir wußten nicht genau, an welchem Tage du kommen würdest, und diese Saison ist sehr lebhaft. Das Mädchen wird dir dein Zimmer zeigen. Wir haben in diesen schweren Zeiten unsere männliche Dienerschaft aufgeben müssen. Deine Tante diniert um halb acht. Sie erwartet, daß man sehr pünktlich ist; wenn du aber schon eher fertig bist, komm ins Wohnzimmer, da findest du sie. Sei nicht überrascht, wenn sie etwas gefühlvoll wird; sie hat deinen Vater sehr gern gehabt. Er war ungefähr so alt wie du, als er bei uns lebte; ich war damals noch ein ganz kleiner Junge, aber ich erinnere mich noch an ihn. Die Mädchen werden dich in die weiteren Mysterien dieses Hauses einweihen und dafür sorgen, daß du es gemütlich hast. Wir freuen uns alle sehr, daß du kommen konntest, und hoffen, daß du dich bei uns wie zu Hause fühlst. Hier ist dein Hausschlüssel.«

Während dieser im Stehen vor dem Kamin gehaltenen Rede hatte Oliver Zeit, seinen vornehmen Vetter zu betrachten. Mr. James van de Weyer war die verkörperte Korrektheit: vorbildlich gepflegt, rasiert und frisiert. Man sah, daß er blondes Haar gehabt hatte, es war aber nur noch ein verblaßter, ergrauter Rest da, ebenso wie sein heller Teint nur noch die Spuren ehemaliger frischer Farbe zeigte. Er trug Gamaschen, ein Piquéstreifen säumte den Ausschnitt seiner Weste ein und umrahmte seine umfangreiche dunkle Kravatte, in der eine Perle steckte. Diese Mode war nur ein melancholischer Nachklang der lustigen Tage des ›Beau Brummel‹ und des üppigen Brauches, eine Weste über der andern zu tragen, doch deutete sie an, daß der Träger sich in den höchsten Kreisen bewegte und Diplomat, wenn nicht gar Bankier war. Deswegen hatte Mr. James van de Weyer sie sich zu eigen gemacht. In der Moral glaubte er an den guten Geschmack, und in Dingen des Geschmacks gehorchte er allen Vorschriften der öffentlichen Meinung. Er überlegte sich bei jeder Gelegenheit, was wohl von ihm erwartet werde, und er hatte das Gefühl, sich auf den allerhöchsten Maßstab zu berufen, wenn er sagte: ›Es wird allgemein geglaubt‹, oder: ›Man neigt immer mehr zu der Annahme‹, oder: ›In Wallstreet herrscht die Ansicht‹.

Der heutige Besuch brachte ihn in eine kleine Verlegenheit. Es traf sich unglücklich, daß Oliver, von dem man in Wallstreet sagte, er habe ein schönes Vermögen geerbt, dies Haus zum ersten Mal als Repräsentant und Freund Marios betrat, der die Erwartungen seiner Familie so betrüblich enttäuscht hatte. Zuerst hatte Mr. James van de Weyer Mario sehr gern gehabt und ihn für einen charmanten jungen Mann von ausgezeichneten Manieren erklärt; und obwohl es nicht im pekuniären Interesse seiner eigenen Töchter lag, hatte er sich dem Plan seiner Mutter, ihren Enkel zu adoptieren und ihm die Hälfte ihres Geldes zu hinterlassen, nicht widersetzt. Bald aber merkte er, daß Mario große Fehler hatte; er war unbezähmbar und neigte zu Spötteleien; und in Harvard hatte er in keiner Weise die Hoffnungen erfüllt, die man auf ihn gesetzt hatte. In keinem Sportzweig hatte er sich ausgezeichnet, er war nicht aufgefordert worden, einem der bekannten Klubs beizutreten, wie man es von einem van de Weyer hätte erwarten sollen; und nun war er ohne akademischen Grad davongelaufen, hatte sich in eine dumme Affäre verwickelt und legte gar keinen Wert darauf, zurückzukommen und sich zu rehabilitieren. Dennoch hatte der Junge glänzende Seiten; vielleicht würde er eines Tages einmal eine Rolle spielen: besser, man sprach überhaupt nicht über ihn, bis man wußte, was man zu erwarten hatte.

Als Oliver dem freundlichen, aufmerksamen, intelligenten Hausmädchen die drei langen Treppen hinauf folgte, war sein erster allgemeiner Eindruck, daß in dieser Familie die Frauen der nettere Teil seien. Sie würden ihn verstehen und seine Gefühle teilen. Beim Gedanken an den Chauffeur mit den Gamaschen, der von seinem Wagen Besitz ergriffen hatte, fühlte er dagegen einige Unruhe. Würde der Mann den Wagen auch nicht ungeschickt fahren und dann darüber schimpfen? Würde er auch nicht unnötigerweise an dem Auto herumexperimentieren, und würde er es richtig putzen? Und wie steif und formell war der Vetter James gewesen! Er hatte Mario kein einziges Mal erwähnt, während dies Hausmädchen soviel Anstand und freundschaftliche Gesinnung besaß, sofort zu sagen: »Sie sollen Mr. Marios Zimmer bekommen, Sir. Es ist genau, wie er es verlassen hat; das Bild seiner Mutter steht noch auf dem Tisch. Wir dachten, Sie würden es gern ansehen.« Und obwohl sie sich bei diesen Worten nicht geradezu eine Träne aus den Augen wischte, fühlte man, daß ihre Sympathie auf Marios Seite war, weil er seine Mutter liebte, und auf Olivers Seite, weil er Marios Freund war. Da Edith als schützender Genius über dem Ganzen schwebte und sogar das Hausmädchen so vollkommen war, würden Maud und seine Tante Caroline auch das Richtige für ihn sein, anders natürlich, aber sicher sehr nett und erfreulich.

Die Photographie auf Marios Tisch war keine aus neuerer Zeit wie das Bild, das Oliver aus Cambridge kannte; sie stellte die große Maddalena in ihren jüngeren Tagen und in einem Theaterkostüm dar. Sie gefiel Oliver nicht. Die Ähnlichkeit mit Mario kam ihm wie eine Karikatur vor; diese stolzen, fast männlichen Gesichtszüge schienen ihm für eine Frau allzu markant und grob.

Das geräumige Zimmer diente anscheinend als eine Art Familienmuseum. Seine Möbel und Dekorationen waren offensichtlich von der Mode längst überholt: da gab es sentimentale Stiche in Goldrahmen, verblichene ovale Photographien von Damen in Krinolinen und mit Korkzieherlocken, Aquarelle von weiblicher Hand, Stühle, die zu alten Wohnzimmerausstattungen gehört hatten, schwere Kommoden mit Marmorplatten und ein monumentales Bett mit einem verblüffenden Reichtum an Steppdecken, Paradekissen, Plumeaux und seidenen Volants. Die Gegenstände auf dem breiten Marmorwaschtisch waren riesig groß, mit grün-goldenen Rändern eingefaßt und mit goldenen Seemuscheln verziert. Glücklicherweise war es nicht nötig, sie zu benutzen. Nebenan befand sich ein kleines Badezimmer mit moderner Einrichtung, wo Oliver nun in aller Eile Toilette machte.

Die Stufen, die er gleich darauf hinunterstieg, endeten unvermittelt auf dem Podest einer pompösen Treppe, die nur bis ins erste Stockwerk reichte und durch zwei Bogen auf einen langen, schmalen Vorplatz oder vielmehr eine Halle mündete. Diese war wie ein Ballsaal nur mit rosenfarbenen Damastsitzen unter Spiegeln ausgestattet; einige elektrische Kerzen mit rosa Schirmen gaben ein gedämpftes Licht. Keine Tante Caroline war hier zu erblicken, nur ein Flügel stand am Ende des Raums. Vielleicht war dies das Musikzimmer. Als Oliver sich umdrehte, um weiter zu suchen, machten seine neuen Pumps auf dem Parkettboden ein tappendes Geräusch, und plötzlich vernahm er eine tiefe, aber sehr klare und unverkennbar weibliche Stimme, die etwas scharf sagte: »Trödeln Sie nicht da draußen herum, wer Sie auch sein mögen. Kommen Sie rein und lassen Sie sich anschauen.«

Die Stimme kam vom andern Ende der Halle, wo er nun vor einer breiten Tür einen Wandschirm bemerkte. Dahinter wurde ein noch größerer Raum sichtbar, auf dessen Plafond der Widerschein eines offenen Feuers flackerte. An der entferntesten Ecke des Kamins entdeckte Oliver zuerst ein gefälteltes, weißes Musselinhäubchen, das an eine Pagode erinnerte, darunter dann die umfangreiche Gestalt seiner ehrwürdigen Tante; sie trug schwarze Spitzenhalbhandschuhe, und ihre schwarze Moiréschleppe breitete sich majestätisch auf dem Teppich aus. Einen Augenblick sah sie ihn starr an, schlug dann die Lorgnette kräftig auf der vor ihr liegenden Zeitung zusammen, legte beides auf den kleinen Tisch neben sich und streckte, ohne sich zu erheben, beide Arme mit gespreizten Fingern theatralisch nach ihm aus. Es war unmöglich, zu zaudern. Sie verlangte, er solle sie umarmen.

»Das also ist Oliver, das ist der kleine Oliver, den sie mir in all diesen Jahren vorenthalten haben, bis er nun gar kein kleiner Oliver mehr ist, sondern der große, starke, hübsche Oliver, den Edith und Mario so bewundern. Ich hoffe, du verdienst die Bewunderung, aber deinem armen lieben Vater siehst du nicht sehr ähnlich. Der liebe Peter, das Leben ist nicht gut mit ihm umgegangen. Er war so ein süßes, stilles Baby, immer lächelte er, damals, als ich ihn noch umherschleppte und Mama mit ihm spielte. Er brauchte Liebe; und als sich jeder ohne Grund und ohne seine Schuld gegen ihn stellte, war er zu bescheiden, um sich zu verteidigen, zog sich einfach zurück, ließ sich unterdrücken und heiratete Harriet. O, Harriet ist natürlich eine famose Frau. Ich darf nichts gegen sie sagen, denn sie ist deine Mutter; du sollst ihr ähnlich sehen, aber das ist nicht wahr. Du wirst niemals dick werden. Du bist entschieden ein Alden. Ja, jetzt erkenne ich es deutlich: die langen Beine, die Kopfform, die ganze Feinheit der Züge. Du bist wie dein Onkel Nathaniel; oder vielmehr so, wie Nathaniel hätte sein können, wenn er nicht ein Narr gewesen wäre. – Aber sag mir, hast du deinen armen Vater gut gekannt? Warst du schon alt genug, um ihn zu verstehen?«

»Ich war achtzehn, als er starb. Wir waren vorher fast den ganzen Sommer allein zusammen. Er hat viel mit mir gesprochen: über seine Ideen und was ihm sonst am Herzen lag. Ich glaube, ich verstehe, worin für ihn die Schwierigkeiten bestanden haben in jeder Beziehung.«

Tante Caroline beugte sich vor und drückte Oliver die Hand.

»So ist dein Vater am Schluß doch noch glücklich gewesen. Er war über dich glücklich. Ich möchte heute viel mit dir reden, denn zum Dinner haben wir sonst jeden Tag Gäste, und zu einer andern Tageszeit empfange ich niemanden. Ich esse abends kaum etwas, nur ein Schälchen Grütze; aber dir wird man ein paar Koteletts oder so etwas auf einem Servierbrett bringen, und ich kann mit dir sprechen, während du hier am Feuer sitzt und ißt. Zuerst über Marios Affäre. Was für eine Art von Frau war es? Werden am Ende unangenehme Folgen entstehen? Hat er ihr die Heirat versprochen? Kann es eine Scheidung geben?«

»Es kann nichts dieser Art geschehen, nicht wahr, wenn ein Mann noch nicht volljährig ist? Mario ist noch ein Kind. Er verliebt sich wie ein freier Vogel. Außerdem – ich weiß nicht, wieviel er dir erzählt hat – ging die Sache völlig von der Dame aus. Man kann ihm kaum einen Vorwurf machen, außer etwa den, daß er nicht widerstanden hat, wenn man ihm das vorwerfen will.«

»Nun, wir können nicht von ihm verlangen, daß er ein keuscher Joseph ist. Wer war sie denn?«

»Eine kleine Schauspielerin, die in der Truppe von Mrs. Cyril Trumpington Nebenrollen spielt. Unverheiratet, aber nicht unerfahren.«

» Respiro; weißt du ihren Namen?«

»Aïda de Lancey.«

»Basta. Genug davon! Keine Details! Das sagt mir alles, was ich wissen möchte. Diese Sachen interessieren mich nur, weil ich Mario adoptiert habe. Ich habe meinen Wagen und meine Pferde verkauft, um ihn unterstützen zu können, ich hatte den einzigen Wagen, den es in New York noch gab. Ich kann nicht mehr im Park spazierenfahren, außer wenn James mir sein lächerliches Automobil leiht, das so niedrig ist, daß ich kaum hineinkriechen kann. Und wie kann es Vergnügen machen, in einem geschlossenen Gefährt zu fahren, und dazu so schnell, daß man weder etwas sieht, noch selbst gesehen wird? Er hat diese Maschine, um damit in sein Büro zu kommen; der Verkehr ist heutzutage so stark, daß er eine halbe Stunde dazu braucht, und auf dem ganzen Wege liest er die Morgenzeitung. Alle Würde des Lebens wird allmählich zerstört; aber lassen wir das. Es ist eure Angelegenheit; ihr jungen Leute müßt eure eigenen Dummheiten machen. Ich habe nichts mehr damit zu tun, und im Augenblick bin ich zufrieden. Ich sitze hier und denke an die gute alte Zeit. Es war etwas Prächtiges, früher auszufahren, schön gekleidet, im offenen Landauer, mit zwei eleganten, stolzen Pferden, einem Kutscher und einem Groom hintenauf und einem kleinen rüschenbesetzten Parasol, zum Schutz gegen die Sonne.

Denke aber nicht, daß ich Trübsal blase, weil das Vergangene nicht wiederkommt. Ich könnte das alles jetzt doch nicht mehr genießen, dazu sind zu viele neue Menschen da. Das ist der Vorteil davon, daß man die zweite Etappe des Alters erreicht hat. In den fünfziger und sechziger Jahren bedauert man es wohl noch, wenn man manches aufgeben muß, und macht gelegentlich noch die verzweifelte Anstrengung, jung zu sein; aber in den siebziger und achtziger Jahren ist man nur zu glücklich, wenn man sich um nichts mehr kümmern muß. Die Natur ginge gütig genug mit uns um, wenn wir uns nur ruhig fügten und natürlich wären; sie würde uns von unseren Wünschen befreien, noch ehe sie uns deren Befriedigung versagt. Und es gibt immer noch Befriedigungen, wenn man sich nur das Rechte auswählt.

Welche Freude ist Mario für mich gewesen! Ich habe das schon bei seinem ersten Anblick empfunden. Was für ein entzückender Junge! So sanft wie mein lieber, lieber Harold, von dessen Zartheit er viel geerbt hat; und doch kraftvoller, entschiedener, schöner als sein Vater; ein Schuß dieser bösen, heidnischen italienischen Kraft hat unsere nordische Weichheit in ihm gehärtet. Das bete ich an, aber es macht mich auch besorgt um ihn. Er war ein Lichtstrahl in diesem Hause, wo mir kein Mann übriggeblieben ist außer dem guten James und kein Kind außer der guten Maud. Dein Vetter James ärgert sich über ihn, weil er in Europa bleiben und sein Studium in Harvard nicht abschließen will. Der arme James hat einen wahren Aberglauben in bezug auf akademische Klubs, akademische Vorlesungen und akademische Würden. Kann man sich etwas Törichteres vorstellen? Ist es nicht Vergeudung der Jugendkraft, wenn man so krampfhaft hinter dem Sport her ist, und hinter dummen Geheimbünden wie diesen Freimaurerlogen?

Nicht daß ich glaube, das Studium – falls ein junger Mann auf dem College sich überhaupt mit dem Studium befaßt – würde mehr nützen! Was könnte Mario hier viel anfangen, wenn er die Universität absolviert hätte? Soll er malen wie sein Vater oder sich mit Heraldik beschäftigen? Aber der liebe Harold hat ja auch nichts weiter getan, als daß er schleunigst immer wieder durchgebrannt ist: nach Paris oder nach Venedig oder an einen andern Ort, der gerade bei Dilettanten Mode war. Mario kann also ebensogut drüben bleiben, die Sache gründlich machen und jung damit anfangen wie ein richtiger Lehrling. Wenn er will, kann er jederzeit wiederkommen und hat sich dann vielleicht ein gewisses Prestige erworben, das ihm Rückhalt gibt. Das Traurige ist nur, daß er sich nun, nach dem Tode seiner Mutter, gänzlich ungebunden fühlt und irgend etwas Verzweifeltes tun möchte, in die Fremdenlegion eintreten oder diese neue Spielerei, das Fliegen, lernen und sich den Hals brechen.

Selbstverständlich wäre in früheren Tagen ein so glänzender junger Mensch wie er zum Militär gegangen, und es gibt ja immer Kriege, in denen man sich totschlagen lassen kann. Diese Prüfung ist den Müttern zu allen Zeiten auferlegt worden; und ich glaube, mit diesen Autos, Aeroplanen, Unterseebooten und was diese wissenschaftlichen Unruhestifter sonst noch erfinden mögen, ist es auch nicht viel schlimmer. Wir klagen beständig über die gefährlichen Neuerungen und die verhängnisvollen Kriege, weil beides zwecklos und mörderisch ist. Wir reden, als lebten wir ohne diese Plagen in Sicherheit. Aber wir sind niemals sicher. Ist nicht mein lieber Harold mitten im tiefsten Frieden zugrunde gegangen, mitten in voller Lebensfreude und unschuldiger Begeisterung für alles, was schön und selten war? Und dann wurde uns James' Junge, gerade als er zu den schönsten Hoffnungen berechtigte, durch einen Unfall entrissen. Nach diesem Unglück ist Edith religiös geworden, denn ihr kleiner Bruder war ihr ein und alles. Sie ging ganz in ihm auf. Ich dagegen lege keinen Wert darauf, mich selbst zu betrügen. In meinem Alter lohnt sich das nicht mehr. Diese eingebildeten Trostgründe verdünnen das Unglück nur, verwandeln uns in arme, jammernde, betrogene Heuchler und verderben uns die paar wirklichen Freuden, die wir noch hätten genießen können. Das große Opfer wird auf alle Fälle von uns gefordert. Wir alle sind Leidtragende. Selbst wenn der Tod uns zu verschonen scheint, tötet die Zeit langsam alles, was wir lieben. Unsere Kinder wachsen auf und gehen von uns; sie gehören nicht länger uns. Besser, man ist tapfer, lieber Oliver; besser man ist großzügig und sagt zu dem bösen Schicksal, das die Fäden unseres Lebens so schlimm verwirrt: Tu, was du willst! Nimm mir meine Schätze einzeln oder nimm sie alle auf einmal! Dann hast du auch mein Herz mit fortgenommen, und das leere Wrack, das hier gestrandet liegt, bin nicht mehr ich.«

Tante Caroline hatte sich allmählich sehr erregt, zog schließlich ein Spitzentaschentuch hervor und betupfte die Augen ein wenig. »So etwas!« rief sie aus und richtete sich ungeduldig auf. »Da überfalle ich dich mit Tragödien und benehme mich wie eine Närrin. Gib mir die Hände und hilf mir von diesem Sofa aufzukommen. Ich muß zu Bett und meine Launen ausschlafen. Eins, zwei, drei; da sind wir schon.«

Als sie auf den Füßen stand, nahm sie seinen Arm, stützte sich schwer auf ihn und humpelte auf die Tür zu. Obgleich sie sich langsam fortbewegte, war noch viel Kraft in ihrem steifen alten Körper. Sie zog Oliver hierhin und dorthin und zwang ihn, Takt mit ihren eigenen schweren Schritten zu halten. Ihr Gewicht, ihre majestätische Gestalt, der Schwung ihrer seidenen Schleppe, die sie hinter sich herzog, das alles gab Oliver einen Eindruck von Großartigkeit, der ihm etwas Neues war, für den er aber entschieden Verständnis hatte. Unwillkürlich nahm er eine straffere Haltung an. Willig schritt er in diesem langsamen Tempo. Er war stolz auf die alte Dame neben sich. Endlich war er da, wo er hingehörte.

Als sie das Musikzimmer zur Hälfte hinter sich hatten, stand Tante Caroline plötzlich still und ließ seinen Arm fahren.

»Ich höre, du bist so was wie ein Held, im Sport natürlich, aber auch in andern Dingen. Ich weiß nicht ganz genau, was ein Held ist, und ob ich Helden mag. Ich habe noch nie gehört, daß es Helden in unserer Familie gegeben hätte. Der arme Erasmus, mio sposo, war kein Held, der liebe Harold ebensowenig, und James, den du heute abend unten kennengelernt hast, ist auch keiner. Und dein armer, lieber Vater – du weißt selbst, wie weit der davon entfernt war, ein Held zu sein. Ich glaube fast, du solltest dein Heldentum aufgeben und mehr wie wir andern werden. Es muß bei dir von der mütterlichen Seite kommen.« Sie schüttelte beim Sprechen nachdrücklich ihren Kopf, wobei zweifelhaft blieb, ob dieses Kopfschütteln nur Nervosität oder Überzeugungskraft oder bloße Neckerei war. Da sie ihm plötzlich unheimlich wurde, tauchte eine Erinnerung in ihm auf, und er fragte:

»Findest du nicht, daß der Vetter Caleb Wetherbee etwas Heroisches an sich hat?«

»Caleb Wetherbee«, entgegnete sie scharf, »ist verkrüppelt. Er ist auch geistig nicht normal; verkrüppelte Menschen sind das nie. Du kannst das Heroismus nennen, wenn du dich freundlich ausdrücken willst; aber in Wirklichkeit ist es Verzweiflung. Das gerade mag ich am Heldentum nicht. Die Helden wissen nicht, was sie tun sollen, also stellen sie sich auf den Kopf und wollen deshalb bewundert werden. Es gibt immer Leute, die den Prahlhänsen Beifall klatschen. Du aber sei kein Clown, Oliver, sei in deinen Gedanken ein Gentleman! Werde nicht hochtrabend! Berausche dich nicht, indem du ungeheure Lügen in die Welt setzt und dann selber an sie glaubst!«

Sie ergriff seinen Arm wieder und ging ein paar Schritte weiter. Dann stand sie aufs neue still und sagte mit leiserer Stimme:

»Sag mir, hat dein Vater es selbst getan, oder war es ein Unfall?«

»In jener Nacht wollte er gern besonders fest schlafen und rechnete damit, daß er vielleicht nicht wieder aufwachte.«

»Ganz wie ich mir dachte. Er sah, daß du mit Vernunft deinen eigenen Weg wählen konntest, und daß du dich von deiner Mutter freigemacht hattest. Danach fühlte er keine Verantwortung mehr auf sich ruhen und sah keine Notwendigkeit, weiterzuleben. Und warum soll man länger leben, wenn man nicht mehr gebraucht wird und das Leben einem keine Freude macht?«

Sie seufzte und dachte an die verschiedenen Aufgaben und Pflichten, die sie, wie sie sich gern einbildete, noch in dieser törichten Welt festhielten. Sie trat einen kleinen Schritt zurück, zückte ihre Lorgnette und maß Oliver liebevoll von Kopf bis zu Fuß. Warum sollte er nicht ganz gut zu Maud passen, die leider gar nicht hübsch war?

»Ist es wahr, wenn gesagt wird, daß dein Vater zehn Millionen Dollar hinterlassen hat?«

»O nein. Nicht die Hälfte; bedeutend weniger als die Hälfte.«

»Aber trotzdem hast du schon jetzt drei oder vier Millionen zur Verfügung?«

»Ja, ist das nicht schrecklich?« murmelte Oliver. »Es scheint so unvernünftig, daß ich so viel habe, und es ist so schwer für mich, zu wissen, was ich damit anfangen soll. Zur Zeit gebe ich nur einen kleinen Teil davon aus, und das Geld häuft sich einfach an und verdoppelt die Verantwortung.« Sobald er diese Worte geäußert hatte, fand er sie selbst etwas unpassend. Warum, um des Himmels willen, sprach er hier so über seine Zweifel und redete wie ein Tugendpinsel? Gleichsam um diesen unsympathischen Eindruck zu verwischen, fügte er hinzu: »Wieviel besser würde Mario an meiner Stelle damit fertig werden.«

»Mario hat genau so viel, wie augenblicklich für ihn gut ist; aber später einmal würde er sich gewiß darauf verstehen, reich zu sein. Es ist eine Kunst oder eine Tradition. Bilde dir nicht ein, deine Pflicht getan zu haben, wenn du dein Geld in Pfennigen austeilst – einen Pfennig für jeden Bettler – und die Welt so kahl und armselig zurückläßt, als gäbe es gar keinen Reichtum. Der Zweck des Reichtums besteht nicht darin, ihn zu verstreuen, sondern darin, die Lebenskunst zu verfeinern: unsere Häuser, Lebensformen, Sprache und Wohltätigkeit zu verschönen. Du persönlich kannst das niedrigste Niveau des menschlichen Lebens nicht heben, aber du kannst vielleicht das höchste Niveau heben.«

Oliver fühlte, daß er seine Tante Caroline liebte. Was für eine prachtvolle alte Dame, wie geistvoll und weise sie war! Und als sie das Ende des Vorplatzes und damit die Tür ihres Zimmers erreichten, gab er ihr einen Gutenachtkuß. Er fühlte sich höchst befriedigt und in seinen Erwartungen bestätigt. Das war die richtige Familie für ihn. Und deshalb wäre das beste, was er tun könnte, Edith zu heiraten. Dann würde es auch leichter für ihn sein, über sein Einkommen richtig zu verfügen. Edith würde alle seine gesellschaftlichen Pflichten regeln, und er würde innerlich frei werden, um in seiner Gedankenwelt zu leben, zu studieren und zu den höheren Problemen mit der besten Einsicht Stellung zu nehmen. Wie ideal würde ihr Leben werden!

Selten, ja vielleicht noch nie vorher war ihm die Zukunft in so rosigem Licht erschienen. Allerdings hatten die besagten »Koteletts auf einem Servierbrett« nur einen Teil des netten kleinen Dinners gebildet, das er mit Genuß zu sich genommen hatte, nachdem er den ganzen Tag in raschem Tempo durch die Kälte gefahren war. Er hatte, um nicht aufzufallen, sogar ausnahmsweise von der halben Flasche Champagner getrunken. Aber sein neues Glücksgefühl hatte doch ältere und tiefere Quellen. Hier waren Menschen – gescheite, vorurteilslose Menschen – die Mario liebten und an ihn glaubten, die auch Olivers Vater richtig beurteilten. Ja, wenn sie die Verhältnisse gekannt hätten, wären sie auch über Jim Darnley und den Pfarrer einer Ansicht mit Oliver gewesen; selbst für die Sache mit Rose – denn das war nur ein Kindermärchen und kein ernsthaftes Verlöbnis – würden sie Verständnis haben. Mit einem Wort: er fühlte, daß er immer recht gehabt hatte, sowohl in seinen Empfindungen wie in seinen Taten.

Konnte es ein besseres Omen für die Zukunft geben als dies, daß die Vergangenheit durch und durch vernünftig erschien, daß er keine falschen Schritte getan und keine Gelegenheit versäumt hatte? Tante Caroline – sie sah ganz wie die Sibyllen Michelangelos aus – war entschieden eine wohlwollende Sibylle gewesen; sie hatte ihm ein günstiges Orakel gegeben, und er verließ ihre Grotte voll hohen Mutes und großer Hoffnungen.


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