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5

Als Oliver Marios Briefe erhielt, war er schon mit seinem Regiment in Frankreich an Land gegangen und völlig verstrickt, wenn auch noch nicht in Stacheldraht, so doch in das endlose Netz der Vorbereitungen, der Truppenverschiebungen und des Drills. Manchmal tat er Bürodienst in Bordeaux; manchmal beaufsichtigte er Truppentransporte oder fahndete nach verlorenen Materialien oder fällte Bäume in den Landes oder saß durchnäßt und fröstelnd in einem trübseligen Lager oder wartete in irgend einem gleichgültigen Dorf auf neue Ordre und lag bei mehr oder weniger freundlichen und gewinnsüchtigen Einwohnern im Quartier. Mit alledem waren vorläufig noch keine großen Härten und Gefahren verbunden, doch häuften sich die fortwährenden Sorgen, Reibungen und Unbequemlichkeiten und gingen ihm auf die Nerven. Er war, wie man sagt, mit einem silbernen Löffel im Munde geboren. Seine sportliche Disziplin hatte sich, obwohl sie streng und genau gewesen war, immer auf einem Hintergrund von Luxus abgespielt, der sie milderte; stets hatten ihm heißes Wasser, saubere Wäsche, bequeme Betten, gutes Essen und alle andern Notwendigkeiten, sowie jede Hilfe, die Geld und ärztliche Kunst bieten konnten, reichlich zur Verfügung gestanden. Außerdem war bis jetzt sein Asketentum ein freiwilliges gewesen; von Anfang an hatte er seine Unabhängigkeit mehr als andere Jungen gewahrt: beim Sport entweder als Kapitän oder doch in einer Stellung, die es ihm erlaubt hätte, seine Führer zur Rechenschaft zu ziehen, ja sogar zu drohen, er wolle sich ganz zurückziehen und sie in der Patsche sitzen lassen.

Jetzt dagegen war er ein Sklave, seine Vorgesetzten waren Fremde, älter, grober, ungebildeter als er. Er war ohne Freunde und ohne Begeisterung. Zudem war er gewohnt zu glänzen, bewundert zu werden und als Vorbild zu gelten; und hier schien er nun, obwohl man zugab, daß er seine Sache gut machte und man sich auf ihn verlassen konnte, nur einer unter Tausenden zu sein, nur ein Name mit einer Nummer, der sogar weniger als manche andere Nummer bemerkt wurde, weil er sich weniger vordrängte. Außerdem war er nicht mehr so auffallend jung, beweglich und hübsch; auch das war ein Grund dafür, daß er, der junge Held, der sonst alle überglänzt hatte, jetzt in der Masse unterging. Müde, verblichen und langsam kam er sogar sich selbst vor, wenn er in den Spiegel schaute; und die vorgesetzten Behörden ärgerten sich über sein häufiges Kranksein. Dauernd litt er an Husten, Erkältung, Schlaflosigkeit und Dyspepsie; und es war geradezu eine Erlösung, wenn ihn eine böse Bronchitis oder Ruhr, von unverkennbarem Fieber begleitet, ins Lazarett verwies. Da konnte er im Bett geduldig den Arzt auf seiner Morgen- oder Abendvisite erwarten; und dazwischen konnte er schlafen oder ruhen. Denn er sehnte sich nach Ruhe, nach vollkommener Ruhe, nach langer Ruhe.

Doch wurde ihm diese vollkommene Ruhe für den Augenblick noch versagt. Hatte er sich erholt, so kehrte er auf seinen Posten zurück. Als er wieder einmal Rekonvaleszent war, schickten ihn seine Vorgesetzten, da sie seine tiefe Depression bemerkten, nach Paris, damit er sich dort für vierzehn Tage amüsiere. Die Nächte in der Ville lumière waren damals recht dunkel; und schon in früheren, lustigen Zeiten hatte ihn das Treiben dort nicht gerade berauscht. Zwar konnte er Vannys Meinung beistimmen, daß einem nirgends sonst so viele der menschlichen Natur angenehme Dinge mit solcher Feinheit und Diskretion geboten würden. Aber Oliver machte sich nichts aus Genüssen; er verlangte etwas, worauf er aufbauen konnte: gesunde Grundsätze und sicheren Besitz. Sogar in Dingen des Geschmacks stieß Paris ihn ab. Er haßte die Place de la Concorde und die Champs Elysées, die Boulevards und die Oper. Nur die Quais am Flusse gefielen ihm, die langen Zeilen der schräggeneigten Bäume mit dem hängenden Grün ihrer Zweige, die Kähne und das schimmernde Wasser. Es war ja eine alte Wahrheit, daß er einen transzendentalen Geist besaß, der wie ein Entengefieder alles abschüttelte und abwies, was nur der Zufall vorbeiströmen ließ. Für ihn existierte einzig das, was er moralisch zu ergreifen imstande war.

Nun aber entdeckte er, daß dieses Lebensprinzip eine unerwartete Folge hatte: er verachtete nicht nur Genüsse, sondern er fand auch Tage voll großer Mühen unerträglich. Wenn die Arbeit dazu diente, die Kräfte zu üben, wenn sie eine freie Kunst und ein freies Abenteuer war, dann liebte er sie und blühte dabei auf; aber gleichgültige, sklavenhafte, aufgezwungene Arbeit verkümmerte und vergeudete einen. Sie zerstörte ihr eigenes Werkzeug, sie zerstörte seine Seele; und er bezweifelte sehr, daß die soziale Maschinerie, die das verlangte, irgend einem guten Zwecke diente.

So wenig er also Paris leiden mochte, er war nun doch froh, dort zu sein. Wenn er von Notre Dame bis zum Trocadero gewandert war, oder in dem benachbarten Duval sein Huhn mit Salat gegessen hatte, konnte er in der Rue de Saint Simon friedlich am Feuer sitzen und lesen oder träumen. Vanny war wieder an der Front, nicht mehr bei seinem Fliegerkorps, denn er konnte den linken Arm nicht mehr unbehindert gebrauchen, sondern in Italien, als Verbindungsoffizier bei Lord Cavans Britischer Division, denn für diesen Posten war er wie kaum ein zweiter geeignet wegen seiner vollkommenen Kenntnis der italienischen Sprache. Vanny war ein Glückspilz. Das schien Oliver der einzige Lichtpunkt in dem umgebenden Dunkel. Unglücklicherweise strahlte dieses Licht aus großer geographischer und moralischer Ferne zu ihm herüber. Er selbst brauchte sich nicht bei höheren Offizieren in Gunst zu setzen oder in der großen Welt zu glänzen. Er wartete nur auf das Ende des Krieges, um nach Great Falls oder vielleicht auch nach Williamstown zurückzukehren und dort Professor der Philosophie oder Geschichte zu werden; wenigstens vermutete er, daß man ihn dort nicht zurückweisen werde, wenn er sich bereit erklärte, gratis zu arbeiten. Offenbar gab es Leute, die in dieser Welt zum Erfolg geboren waren, und solche, die zum Mißerfolg geboren waren. Mario gehörte zu der ersten Art und er, Oliver, zu der zweiten.

In diese melancholischen Betrachtungen verloren, glaubte er eines Abends ein Klopfen an seiner Tür zu vernehmen; auf jeden Fall sagte er: » Entrez!« Félise, die alte Haushälterin, kam lautlos herein, schloß die Tür hinter sich und sprach mit deutlichem Flüsterton auf ihn ein, fast in sein Ohr, damit er ihr Französisch besser verstehe.

»Es ist eine Dame da, die Monsieur zu sprechen wünscht. Es ist die Baronin.«

»Wer?«

»Die Baronin, die Baronin du Bullier, wie sie genannt wird. Eine Freundin von Mr. Mario, eine alte Freundin. Ich erklärte ihr, daß Mr. Mario nicht da ist. Sie schien wie vom Blitz getroffen. Ich sagte ihr, der junge Herr hier sei der Herr Vetter von Mr. Mario. ›Was‹ rief sie, ›ein anderer junger Herr? Ein Vetter von Mr. Mario? Melden Sie mich sofort bei ihm. Ich muß mit Mr. Marios Vetter sprechen.‹ Voilà!«

Die Alte zuckte die Achseln, neigte den Kopf zur Seite, sodaß er fast auf ihrer rechten Schulter lag, rollte die Augen und hob die Hände verzweifelt zum Himmel. Sie kannte die Baronin, sie kannte sie nur allzu gut. Sie wußte, daß die Baronin kam, um zu betteln. Das und zugleich ihre eigene Hilflosigkeit solchen Machenschaften gegenüber sollten ihre Pantomimen ausdrücken. Sie hätte ihrem jungen Herrn gern Unannehmlichkeiten erspart, aber was konnte sie tun? In Wirklichkeit jedoch hoffte sie mit gutem Grunde, daß ein Franc oder vielleicht auch zehn Francs in ihre eigene Tasche fließen würden, wenn die Baronin Erfolg hatte. Denn war die Baronin bei Kasse, so knauserte sie nicht.

Inzwischen hatte sich die geschlossene Tür wie durch Zauberei geöffnet, und eine schöne, in aristokratisches Schwarz gekleidete Person war auf der Schwelle erschienen.

»Verzeihen Sie, mein Herr«, sagte die holde Fremde mit einer Würde, die einen heimlichen Kummer zu verhüllen schien, während sie vortrat und der alten Wirtschafterin Platz machte, die das Zimmer verließ. »Verzeihen Sie die Störung. Ich glaubte, Mario sei in Paris. Ich hatte so fest auf ihn gerechnet. Er ist so gut. Nie hat er mich in all meinem Unglück im Stich gelassen.«

Hier nahm die Baronin ungebeten Platz und machte Oliver ein Zeichen, er möge sich nur auch wieder setzen. »Natürlich«, fuhr sie fort, »er ist volage. Er ist jung, er ist vielbegehrt, er ist ein Mann. Männer sind von Hause aus volages. Ihr flattert von Blume zu Blume. Ihr seid nicht treu, wie wir Frauen es sind; oder wenigstens«, fügte sie mit einem tiefen Seufzer hinzu, »wie wir es gern wären. Ach, wieviel Sorgen, wieviel Elend hat man durchzumachen! Ich weiß, mein guter Mario würde mir beistehen, wenn er hier wäre. Er würde nichts Eiligeres zu tun haben als das! Meine geliebte Mutter, mein Herr, ist krank, schwer krank. Dies sind ihre letzten Tage. Ist es nicht schon genug, daß ich sie verlieren soll? Ist es nicht schon genug, daß ich fürchten muß, sie tut, während ich hier sitze, ihren letzten Seufzer? Muß ich sie auch noch leiden sehen? Sie braucht Heizung, und das Holz ist zur Zeit unerschwinglich. Sie braucht eine kräftige Suppe, etwas Huhn; aber wer kann heutzutage noch ein Huhn bezahlen? Die Rechnung des Arztes ist allerdings nicht so dringlich, er kann warten. Aber der Apotheker, mein Herr, der Apotheker, ach, der muß sofort bezahlt werden! Und woher soll das Geld kommen? Meine Freunde sind an der Front, sind tot, verstümmelt, gefangen, und wenn sie am Leben bleiben, wer weiß, was dann wird? Die entsetzlichen Erfahrungen im Schützengraben haben sie vielleicht geistig zerrüttet. Sie haben sich am Ende seltsame Neigungen angewöhnt. Sie haben Visionen gehabt oder sind bekehrt worden, sind keusch geworden. Ach, mein Herr, es ist jammervoll. Da weiß eine arme Frau nicht mehr, wohin sie sich wenden soll!«

Während dieser Tirade hatte die Baronin auf der Ecke eines Stuhles am andern Ende des Feuers gesessen, ihren Pelz gelöst und ihren Hals enthüllt, um den eine Reihe falscher Perlen lag; die Vorderseite ihres Gewandes bestand aus nur halb geschlossenen Spitzen. Sie hatte Oliver beobachtet; aber seine Augen blieben auf das Feuer gerichtet. Und als sie fertig war und eine dramatische Pause machte, schien er das gar nicht zu bemerken. Warum sah er sie nicht an? Warum sagte er nichts?

Irritiert stand sie auf, stellte sich gerade vor ihn hin und sprach in verändertem, jetzt ganz geschäftlichem Tone weiter:

»Mein Herr, wenn Sie so gut wären, mir eine kleine Summe zu leihen – fünfhundert Francs, zweihundert Francs, hundert Francs – ich bin sicher, Mr. van de Weyer wird Ihnen das Geld bei der ersten Gelegenheit zurückgeben und Ihnen dankbar sein, daß Sie seine arme alte Freundin aus der Verzweiflung gerettet haben.«

Oliver hatte sich ebenfalls erhoben, ganz erleichtert bei dem Gedanken, daß die Frau nun gehen würde, und sie standen zusammen vor dem Feuer. Zuerst hatte er ihren Redeschwall nur teilweise begriffen; aber kein Ausdruck klang seinem Ohr so vertraut wie ›einhundert Francs, zweihundert Francs oder fünfhundert Francs‹; und das Wort prêter, das sie gebraucht hatte, gehörte ebenfalls zu den Worten, die ihm neuerdings dauernd begegneten. Schließlich hatte ihn auch der Wechsel ihres Tons beruhigt: das waren nicht mehr vage, endlose, mit Lügen durchsetzte Klagen, sondern klare geschäftliche Vorschläge.

»Ja«, sagte er, »ich zweifle nicht, daß mein Vetter Ihnen beistehen würde, wenn er hier wäre. Félise sagt, daß Sie seit langem mit ihm befreundet sind. Ich stelle Ihnen mit Vergnügen in seinem Namen etwas zur Verfügung.«

Oliver, der ohnehin gewöhnt war, langsam zu sprechen, bemühte sich im Französischen noch besonders, korrekt und deutlich zu reden. Während er also seine Antwort formulierte, hatte er reichlich Zeit zu bemerken, daß ihre Augen – große, flehende Augen – voller Tränen standen, daß ihr geschminkter Mund ein wenig verzogen war, und daß ihr halbentblößter Busen in ungeheucheltem Schmerz wogte. Das war ja auch nur zu natürlich. Wer war heute nicht in Schwierigkeiten? Es ging nicht vielen Menschen so wie ihm; Geldmangel bedrängte und quälte die meisten.

So lange diese Frau versucht hatte, Eindruck auf ihn zu machen, war er, da er jene Künstlichkeit und Unaufrichtigkeit witterte, die ihm so zuwider war, gleichgültig, ja sogar ärgerlich und feindselig geblieben. Aber jetzt, wo sie ihre Schauspielerei vergaß und ihre echte Verzweiflung zum Vorschein kam, war er gerührt. Schmerz zu sehen und um ihn zu wissen, schien ihm unerträglich; auch war er nicht an weibliche Weichheit gewöhnt. Weder seine Mutter noch Irma, weder Edith noch Rose hatten je sein Mitleid beansprucht; keine von ihnen hatte er je hingeschmolzen und zitternd gesehen, keine hatte sich je hilfesuchend an ihn geklammert. Und das Gesicht der Baronin hatte sich, als sie allmählich begriff, daß er ihr das Geld geben wollte, verändert wie das eines Kindes. Sie lächelte durch ihre Tränen hindurch; sie machte eine kleine Bewegung der Dankbarkeit, der Erleichterung, der Zuneigung. Er aber hatte ein seltsames Gefühl, als zittere und schmelze er selber hin. Das war sinnlos und schmachvoll; und um Zeit zu gewinnen und sich fassen zu können, wandte er sich zu seinem Schreibtisch, öffnete die eine Schublade, öffnete die andere Schublade und nahm dann aus seiner Brieftasche eine Tausend-Francs-Note, die er der Baronin zusammengefaltet übergab.

Sie faltete sie sofort wieder auseinander, ohne im geringsten ihr ungeheures Interesse zu verbergen; und nachdem sie sich über den Wert des Scheines vergewissert hatte, steckte sie ihn in ihr Kleid und sah Oliver an, während ihre Lippen [Dankesworte] murmelten.

Nun verstand diese Dame weit besser die Anzeichen zärtlicher Erregung bei andern zu erkennen, als Oliver sie bei sich selbst zu deuten verstand. Sie ergriff sofort seine Hand. »Wie gut Sie sind!« rief sie aus. »Sie haben mich verstanden. Sie haben mich bemitleidet. Sie haben eine gute Tat getan.«

Es kam keine Antwort. Er konnte nicht sprechen. Er bemühte sich etwas zu sagen, aber es gelang ihm nicht.

Sie sah ihn wiederum an, fest, forschend und wissend. »Ach, Sie sind gerührt«, rief sie und klammerte sich mit ihrer ganzen beträchtlichen Kraft an ihn. »Sie sind bewegt. Sie lieben mich. Sie begehren mich. Warum sagen Sie es nicht? Ich wäre ja glücklich. Sie sind so gut, so stark, so jung, so schön.« Während dieser letzten zärtlichen Beteuerung drückte sie einen unbekümmerten warmen, langen Kuß auf seinen Mund, einen Kuß, der unwiderstehlich verführerisch und überwältigend sein sollte. Zu ihrem Erstaunen übte er ganz entschieden die entgegengesetzte Wirkung aus.

Zufällig war heute nämlich Freitag. Aus Frömmigkeit und Sparsamkeit zugleich hatte die Baronin die Regeln der Kirche beobachtet, wie sie es grundsätzlich tat, wenn diese nicht gerade der Ausübung ihres Berufes zuwiderliefen; und kaum eine halbe Stunde vorher hatte sie eine ausschließlich aus Sardinen und Gurkensalat bestehende Fastenmahlzeit zu sich genommen. Daher kam es, daß Oliver in der Glut ihrer sinnlichen Umarmung diese beiden würzigen Bestandteile deutlich riechen, ja geradezu schmecken konnte. Ein Schauder des Abscheus lief sofort durch seinen ganzen Körper. Falls sich wirklich leidenschaftliche Triebe ohne sein Wissen in ihm regten, verkehrten sie sich plötzlich ins Gegenteil. Er wurde zum eisigen Standbild, zur granitenen Säule. In seinem Kopf war es schnell klar geworden, vollkommen klar, und diese Klarheit war von der umfassenden Art, wie sie angeblich ekstatischen Philosophen oder Menschen, die ertrinken, zuteil wird. Sein Abscheu selbst war nur eine Regung des Augenblicks gewesen; er wurde zugleich mit seiner anfänglichen Begierde durch diese neue Erleuchtung ausgelöscht. Und wie nun die Baronin ihn nicht mehr in Versuchung führte, fühlte er sich auch nicht mehr durch ihre Gegenwart belästigt. Er bedauerte sie einfach, gleichsam um des unendlichen Jammers der ganzen Menschheit willen, um seines eigenen Jammers willen. Das war nicht mehr jene zitternde Sympathie, die er vorher für sie empfunden hatte und die vielleicht nur versteckte Lüsternheit gewesen war, sondern eine ruhige, gerechte, bewußte Barmherzigkeit, die alles verstand und alles verzieh, die willig den Becher der Wahrheit bis zur Hefe leerte, gleichsam als Sühne für die blinde Sünde des Daseins. Eine abgrundtiefe Trauer, ein abgrundtiefer Friede schien von ihm Besitz zu ergreifen.

Die arme Baronin war sehr bestürzt, als sie sah, daß sich Olivers Ausdruck so völlig veränderte, und daß er kalt und starr wie ein Leichnam wurde. Aber er war weder beleidigt, noch krank, noch zornig. Er hätte jetzt ihrer Geschichte in aller Ruhe zuhören können; er hätte sich jetzt ruhig überlegen können, wie weit er imstande sei ihr zu helfen, und wie weit sie Hilfe verdiene oder Nutzen davon haben könne. Selbst seine französischen Sprachkenntnisse hatte er nun wieder voll in der Gewalt, und er erinnerte sich auch, daß ihm Mario, als sie ein paarmal zusammen im Moulin Rouge oder im Jardin de Paris gewesen waren, einige Winke gegeben hatte, wie er unbequeme Frauen auf die beste Art los werden könne, ohne sie grob zu behandeln. Er müsse der kleinen Person für ihr liebenswürdiges Angebot danken und sagen, zu seinem großen Bedauern erwarte er heute schon eine Freundin. Dann solle er ihr einfach ›guten Abend‹ wünschen und hinzufügen, daß man sich vielleicht ein andermal treffen könne. So weit allerdings konnte Oliver in der Höflichkeit nicht gehen – Mario drückte sich eben immer etwas übertrieben aus – aber er konnte Marios Anweisung in seinen eigenen Stil umsetzen und die peinliche Situation mit Würde und Güte beenden.

In höflicher und bestimmter Haltung in einiger Entfernung verharrend, erklärte er also der Baronin in seinem besten Französisch, daß er sich in ihrer Sprache nur schlecht auszudrücken vermöge und sie ihn daher falsch verstanden habe. Er sei gerade krank von der Front zurückgekommen, und seine Gefühle gerieten augenblicklich beim Anblick jeglichen Kummers leicht in Erregung. Er sei gerührt gewesen über ihr Unglück und die Krankheit ihrer Mutter, die vielleicht gerade in diesem Augenblick ihre Pflege vermisse. Deswegen wolle er sie nicht länger aufhalten. Was aber die Liebe angehe, so hätten die schweren Zeiten jeden Gedanken daran aus seinem Innern verbannt, und übrigens sei er nicht frei.

»Nicht frei? Sie lieben eine andere?« erwiderte die Baronin mit spöttischem Lächeln. »Das habe ich schon mehrfach gehört. Wahrscheinlich sind Sie verlobt. Aber was macht das? Ihre Braut ist zweifellos in Amerika, tausend Meilen weg von hier. Sie wäre grausam und brutal, wenn sie von Ihnen verlangte, Sie sollten im voraus treu sein; und wenn Sie glauben, daß die Frauen diese Art von Liebhaber schätzen, so erlaube ich mir Ihnen zu sagen, daß Sie sich irren. Aber halten Sie das, wie Sie wollen. Es geht mich nichts an. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für Ihre Großmut. Wenn ich Mario wiedersehe, werde ich ihm erzählen, wie sehr ich seinem Vetter verpflichtet bin. Guten Abend, Monsieur. Sie sind zu seriös für mich.«

Im Flur begegnete sie der alten Félise und zog sie ins Eßzimmer. »Sagen Sie«, flüsterte sie, »wer ist denn dieser Vetter von Mr. Mario? Ist er sehr reich? Ist er ganz bei Sinnen? Diese Amerikaner sind zu komisch. Er schenkt mir tausend Francs und verlangt nichts dafür! Erklären Sie mir das bitte! Er muß krank sein. Er muß verrückt sein. Oder vielleicht macht er sich nichts aus Frauen. Trotzdem habe ich einen Augenblick geglaubt, daß er mürbe würde und wie eine reife Frucht vom Baum fiele. Aber nein! Mag er noch so groß und stark und freigebig sein – er hat ein Herz wie dies hier!« Und sie schlug laut und heftig mit dem Knöchel auf den marmornen Kaminsims, was entweder bewies, daß ihr Wunsch nach deutlicher Ausdrucksweise sie fühllos gegen körperlichen Schmerz machte, oder daß sie ein besonders dickes Fell besaß.

»Ach, Félise«, fuhr sie fort, »was kann man dabei machen? Au revoir, liebe Freundin, und vielen Dank. Heute habe ich kein Kleingeld, nicht einen Sou; aber zu Neujahr werde ich an Sie denken. Wenn nur das neue Jahr das Ende des Krieges bringen würde! Und wenn sie nur nicht alle konvertiert oder pervertiert oder verstümmelt oder asthmatisch zurückkommen! Das ist das äußerste! Zum Schluß werde ich noch irgend einen alten Soldaten ohne Arme und Beine heiraten müssen; wenigstens hat der eine Pension.«


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