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13

Auf der Luvseite des Decks war es zu windig zum Lesen, auf der Leeseite waren zu viele Menschen. Wenn Oliver schon nicht bei seiner Mutter saß, dann konnte er sich auch nicht einfach am andern Ende derselben Reihe niederlassen, zwischen lauter schwatzenden alten Damen, die Bouillon tranken, und jungen Mädchen, die an Äpfeln und Süßigkeiten knabberten. Er wollte das Gefühl haben, wirklich an Bord eines Schiffes auf hoher See zu sein und nicht in einem überfüllten Hotel.

Unbefriedigt und suchend gelangte er schließlich aufs Achterdeck, wo sich die Passagiere der zweiten Klasse aufhielten. Ein gelegentlicher Eindringling aus der ersten Klasse wurde hier geduldet, während es den Reisenden der zweiten Klasse streng verboten war, die andern Decks zu betreten. Auf diese Weise setzte sich hier die Ordnung der Natur gegen das unwesentliche Phänomen des Fortschritts durch. Höhere Wesen konnten herabsinken, denn sie trugen die Fähigkeiten der niedrigeren in sich; doch niedrige Wesen konnten nicht aufsteigen, denn die Fähigkeiten der höheren blieben ihnen versagt.

Oliver überließ sich gern dem Gefühl, daß in ihm alle niedrigen Fähigkeiten des Menschen enthalten und entwickelt waren, obwohl er fortwährend nur dabei war, die höheren auszubilden, und so weder Zeit noch Gelegenheit fand, sich mit den andern zu befassen. Doch wäre es erfreulich und gesund gewesen, auch sie zu üben. Er stellte sich gern vor, wie es wäre, wenn er einmal zur Lebensform des Urmenschen oder des einsamen Jägers oder sogar zu dem Animalischen und Triebhaften, das in seiner Menschennatur schlummerte, zurückkehren könnte; ja, es würde eine ungeheure Erleichterung, eine endgültige Heimkehr bedeuten, von sich loszukommen, um wieder ganz von der Wucht und Wirkungskraft des bloßen Stoffes verschlungen zu werden. Das Einzeldasein war eine verwickelte Mühsal, eine Bürde, eine Pose. Allerdings mußte man die Regeln auf sich nehmen, wenn man mitspielen wollte; doch wozu das ganze Spiel, wozu die Regeln? Warum überhaupt mitspielen? Es schienen zwei Wesen, zwei Naturen in ihm zu leben; ein reines Geistwesen, das jedes Spiel spielen und in jedem Tier Wohnung nehmen konnte, und ein Menschenwesen männlichen Geschlechts, das dem amerikanischen zwanzigsten Jahrhundert angehörte und Oliver Alden hieß. Er war an sich zufrieden, diese Person darzustellen und ihre Rolle durchzuführen. Selbst wenn er mit Hilfe irgend einer Magie den schöpferischen Umständen, die ihn zu dieser Person gemacht hatten, entrinnen könnte, würde sein reiner Geist nur wieder von andern äußeren Umständen eingefangen werden und aus einer andern Maske heraus reden; und damit war nichts zu seinem Vorteil geändert. Wichtig war nur, daß man nicht allzu blind diese eine Person verkörperte, ohne im geringsten nach rechts oder links zu schauen. Schließlich blieb der allumfassende Geist ja doch das wahre Selbst.

Zweiter Klasse fahren (oder in England dritter) bedeutete schon eine leise Wendung in die Richtung des Allumfassenden. Es lag etwas Warmes, Lustiges und Allgemein-Menschliches darin. Oliver erinnerte sich der Antwort, die ihm sein Vater auf die Frage, ob er Jim Darnley für einen Gentleman halte, gegeben hatte: »Wenn Jim in der Gesellschaft von Gentlemen ist, benimmt er sich wie ein Gentleman, ist er mit einfachen Leuten zusammen, wird er wie sie. Er hat einfache Menschen gern, genau wie ich.« – »Halt, erlaube«, hatte da Oliver eingeworfen. » Du bist in der Gesellschaft einfacher Leute noch mehr Gentleman als sonst. Du bist dann sehr gütig, sehr schlicht, sehr freundlich, und dann werden sie für den Augenblick so wie du, nicht du wirst wie sie. Bei Jim ist es doch gerade umgekehrt.«

Darauf hatte Peter nach seiner Weise lautlos in sich hinein gelacht und zugegeben, daß der Gentleman im alten ritterlichen Sinne wohl seinem Stande so verpflichtet war, daß er nicht anders konnte, als unter allen Umständen Gentleman sein. Es gab Dinge, die er nicht tun und nicht zulassen durfte. Weder durfte er selbst je feige, grausam, niedrig, undankbar, unredlich oder treulos sein, noch durfte es in seiner Gegenwart ein anderer. So wurde der Gentleman zwar stets geachtet, aber oft gehaßt. Er war keineswegs der duldsamste Gefährte; und die, die keine Gentlemen waren, fühlten sich glücklicher, wenn er ihnen fern blieb.

Oliver erinnerte sich auch an jenen andern Ausspruch seines Vaters über die Lilien im Wappen von Eton; und er fühlte, daß er nun besser verstand, was damit gemeint war.

Er war bis zum äußersten Heck gelangt, wo er beobachten konnte, wie das Kielwasser des Fahrzeugs in Strudeln zurückflutete. Dort hinten gab es keine Deckstühle mehr, und er ließ sich auf einer Bank nieder. Diese Stelle war von all den Leuten verlassen, die sich nach besseren Plätzen umgesehen und dabei doch schlechtere gewählt hatten. Hier endlich fand er das wunderbare Glück der Einsamkeit.

Oliver las Marios Brief noch einmal durch. Es lag eine doppelte Befriedigung darin, sich mitten im Freien verstecken zu können und zu fühlen, welches tiefe Geheimnis wohl in vielen Dingen verborgen lag, die vollkommen harmlos waren und aller Welt offen standen. Man konnte ohne Zweideutigkeit ein Doppelleben führen; man mußte es sogar, wenn man überhaupt ein Innenleben besaß; denn über die wichtigen Dinge mußte man stets Schweigen bewahren. Hier in der Geborgenheit der zweiten Klasse würde ihn kein Kundschafter seiner Mutter aufstöbern, hier würde sie ihn nicht mit ihren nutzlosen Disputen betäuben. Schon allein das Bewußtsein, sich auf einer Reise zu befinden, machte ihn glücklich, denn es barg unsagbare Möglichkeiten des Erlebens in sich, die man, wenn nötig, mit Kraft und Mut in die Tat umsetzen konnte. Es kam nicht darauf an, wie die einzelnen Abenteuer beschaffen waren, alles wurde ja durch den Geist und den Stil des eigenen Handelns geformt. Wichtig war es nur, ein Gentleman zu sein; treu der Berufung, das Schöne in der Welt auf den Schild zu heben und zu verteidigen, für Milde, Ehrenhaftigkeit und Freiheit zu kämpfen.

Mario – denn der Name und das Bild seines Vetters waren Oliver bei diesen Gedanken stets gegenwärtig – Mario durfte ihm nicht verloren gehen. Er, Oliver selbst, wollte ihn sich erhalten. Er wollte sich wie ein unbelaubter, kräftiger Stamm neben diesem sprießenden Rosenstock aufrichten, gleich jenem Baum im Garten des Pfarrers von Iffley, der mit seinen starken, kahlen Zweigen einen dunkelroten, vollerblühten Busch Kletterrosen aufrecht hielt. So würden sie beide vereint aufwachsen, aufrecht und fest, bedeckt mit einer Fülle von Blüten, und so ineinander verschlungen, daß niemand mehr unterschied, wem die Stärke und wem die Schönheit angehörte.

Ach, diese erfrischenden grauen Weiten des Meeres, die keine Gefahr in sich bargen, der man nicht gerne begegnete; keine anstürmende Welle, der man sich nicht freudig entgegenwarf! Ach, diese heitere überlegene Seelenruhe inmitten aller Bewegung; dieses scheinbare Stillstehen inmitten der ständig schneller werdenden Fahrt! Diese Sicherheit, mit der man unter Volldampf ins Unsichtbare vorstieß! Schon im voraus fühlte sich der Geist in der unbekannten Zukunft ebenso zu Hause wie in der vergessenen Vergangenheit. Gleich dem Meer war er größer als die Inseln und Kontinente der Tatsachen, die sich in ihm angesiedelt hatten. Er war der unverletzliche Kronzeuge aller Veränderung, ein Dichter, der alle menschlichen Tragödien in Musik und alle menschliche Torheit in Gelächter verwandelte. Ja, der Geist war gerade mitten im Elend der Welt auf außermenschliche Weise glücklich, die Widersprüche der Welt verwirrten oder bedrückten ihn nicht, denn sein wahres Wesen bestand vor allem in der schmerzlichen Freude, sie zu begreifen, zu lösen und zu ertragen. Warum sollte man über das Leben klagen, als verlange man, daß es leichter wäre? Warum sollte man sich gegen Mißgeschick und Tod auflehnen, als verlange man, besonders vom Glück begünstigt und unsterblich zu sein? »Hier stehe ich«, sagte Oliver fast unhörbar zu sich selbst, »und von hier muß ich ausgehen. Wie auch das Wetter werden mag, ich muß ans Ziel meiner Reise kommen.«

Erfrischt durch diese Philosophie und durch den scharfen Wind schlug er den Mantelkragen hoch, legte die Decke, die er klugerweise mitgebracht hatte, über seine Beine, nahm sein Buch aus der Tasche und wollte sich ans Lesen begeben. Aber er öffnete das Buch nicht; statt dessen wandte er das Geschütz seines eingehenden Nachdenkens gegen die Stellung seiner Mutter. Seine Mutter war nicht dumm. Mehr als einmal hatte sie an die empfindlichsten Stellen seiner Seele gerührt. Er fühlte im Innersten, wie richtig es war, daß Geld für die van de Weyers eine große Rolle spielte. Vielleicht gab es keinen besseren Weg zu ihrem Herzen als Geschenke und Aussicht auf Geschenke. Aber sie besaßen doch ein Herz, und wenn man diesen Weg einschlug, bestätigte sich das. Natürlich: wenn er statt eines reichen ein armer Vetter gewesen wäre, hätte Vanny niemals diesen netten Dankbrief geschrieben, denn dann wäre dazu ja gar kein Anlaß gewesen. Dann hätten sie an freien Nachmittagen keine kleinen Ausflüge machen, keine hübschen Kleinigkeiten kaufen und keine großen Fahrten planen können – jene endlosen geographischen und seelischen Forschungsreisen nämlich, die sie später einmal zusammen unternehmen wollten – denn dann hätten sie ja nicht gewußt, woher sie das dazu Nötige oder, wie Vanny es in seinem komischen Latein ausdrückte, das › cum quibus‹ beschaffen sollten. Wahrscheinlich würden sie sich in diesem Fall auch nie wieder getroffen haben und nicht miteinander in Briefwechsel geblieben sein, wie sie es jetzt vorhatten. Alles das war in der Tat eine Frage weltlicher Güter.

Aber nun gab es noch etwas anderes, was seine Mutter absichtlich ignorierte: die Persönlichkeit. »An jenem Tag im Park von Windsor«, dachte Oliver, »als er fühlte, daß ich den Ton nicht mochte, den er angeschlagen hatte, warum senkte er da die Augen, und warum zitterten seine Lippen, als er sagte: ›Verzeih, ich schwätze Unsinn?‹ Etwa weil ich reich war? Hätte sich die Sache im mindesten anders zugetragen, wenn ich der ärmste aller armen Verwandten, dabei aber innerlich der gleiche gewesen wäre? Nein, es wäre genau so zugegangen. Hier neigte sich ein Gewissen vor dem andern, hier zitterte eine Seele vor einer andern Seele. Und setzte er sich im Zug dicht neben mich statt mir gegenüber, weil ich reich bin? Nein, er will die Dinge so sehen, wie ich sie sehe, im gleichen Augenblick, im gleichen Licht, vom gleichen Gesichtswinkel aus, sodaß unser Geist sich auf einen gemeinsamen Gegenstand richtet, ein Gefühl in uns beiden lebt. Dann wird alles zu einem neuen Band der Gemeinschaft. Und wenn ich sprach, hörte er mir dann deshalb so aufmerksam zu, weil ich reich bin, suchte er deshalb nach etwas, das meine Gedanken bestätigte und verschönerte, sie tausendmal witziger und richtiger machte, als sie ursprünglich waren? Nein, er hat mich wirklich um meiner selbst willen gern; er wünscht mich wirklich zu verstehen; er ist wirklich bereit, alles an sich selbst zu verurteilen, was ich für falsch halte. Wenn wir zusammen sind, ist er genau so glücklich wie ich. Wahrscheinlich denkt er nicht viel über mich nach, wenn ich nicht da bin; aber wenn er bei mir ist, hat er mich gern. Weil mich Mutter niemals geliebt hat, will sie nicht zugeben, daß jemand anders mich lieben könnte. Und doch bringen das manche Menschen fertig. Lord Jim nicht, das weiß ich, obwohl er gern intim mit einem ist. Auch Vater in Wirklichkeit nicht, obgleich er Anteil an meiner Zukunft nahm. Sie fanden wohl beide, daß nicht viel an mir wäre. Ich hörte zufällig einmal, wie sie darüber sprachen. Mein Großvater ist ein Scheusal gewesen, ein wildwütiger Calvinist, der ein Vermögen anhäufte, indem er den Armen das Blut auspreßte und sie hinterdrein noch ins Feuer der Hölle verwünschte. Daher haben wir unser Geld. Er hatte es verdient, daß er ermordet wurde, aber niemand wird es der Mühe wert finden, mich zu ermorden. Vater war gerade das Gegenteil, weich, gütig, freigebig und humorvoll; dabei besaß er Kraft genug, um seinen eigenen Weg zu gehen, die Welt mit Skepsis zu erforschen und sich von niemandem anbinden und beschlagnahmen zu lassen, nicht einmal von Mutter. Von mir aber denken alle, ich sei etwas völlig Negatives, Passives wie eine bedruckte Tapete – der dritte verwässerte Aufguß im Teetopf der Familie! Daß ich der Klassenprimus bin, daß ich rudere und Rugby spiele, kommt ihnen nur kindisch vor, es bedeutet in ihrer Welt nichts, höchstens einen Nachteil, da sie es tugendhaft und konventionell finden. Doch Mario weiß, was es heißt. Er kennt den Unterschied zwischen einem guten sportlichen Kämpfer und einem minderwertigen. Er liebt körperliche Kraft und gestählten Mut. Auch wenn diese Eigenschaften nicht auf etwas Wichtiges gerichtet sind, so sind sie doch bei mir vorhanden, ja, ich besitze sie in höherem Grade als er oder die meisten seiner Freunde. Er sagt, er habe die ganze Art der jungen Männer seiner Bekanntschaft satt. Die Engländer seien soweit schon recht, aber seelenlos wie eine Meute hübscher Jagdhunde; und die Franzosen und Italiener hätten etwas Billiges an sich, röchen nach Zigaretten, tränken und fluchten und spielten, umschwärmten die Frauen und sprengten hoch zu Roß einher. Das Zusammensein mit mir bedeute dagegen für ihn etwas Ähnliches, wie wenn er aus der Stadt aufs Land käme; damit macht er sich über mich lustig, denn ich bin so provinziell. Aber ich weiß, daß er es noch in einem andern Sinn meint; es bedeutet für ihn auch, daß er sich von Schmutz und Lärm und Dunkelheit weg den grünen Wiesen und den Bergen zuwendet.

Außerdem ist Mario keineswegs der einzige, der mich liebt. Da ist noch Irma: für sie bin ich Siegfried. Und Tom Piper: ich bin sein Held. Und der Vetter Caleb Wetherbee, der mir die goldene Uhr geschenkt hat und glaubt, daß Gott mich zum kommenden Messias ausersehen hat. Ja, noch viele andere Menschen, die mich kaum kennen: Mr. Darnley, der Pfarrer von St. Giles, Rose und auch Bobby. Für die bin ich nicht bloß eine Nummer oder einfach jemand, der Geld hat. Doch alle diese Menschen sind auf die eine oder andere Weise arm und unglücklich. Sie mögen mich gern, weil ich ihnen, obwohl ich jung bin und stark und sonst noch alles mögliche, doch Aufmerksamkeit schenke, sie gut behandle und ihnen das Gefühl gebe, daß wunderbarerweise sich jemand etwas aus ihnen macht. Und das Geld spielt natürlich für sie auch eine riesige Rolle; nicht daß sie irgend einen Vorteil für sich selbst davon erwarten, aber es ist ihnen angenehm, gleichsam für mich ihre Sonntagskleider anzuziehen und sich selbst in Beziehung zu einem gehobenen Leben zu sehen. Snobismus, wenn auch in verfeinertem Sinn: Liebe zu einer schöneren Aussicht, als sie der eigene Hinterhof bietet.

Aber bei Vanny ist gerade das so großartig, daß er sich gar nicht um mein Äußeres kümmert und nicht so tut, als sei er noch nie einem jungen, angenehmen, wohlerzogenen Menschen begegnet. Ihm kommt es auf mein Inneres an. Er ist ja selbst so viel hübscher, glänzender, gewandter und eleganter, als ich es sein könnte, und eine Menge seiner Freunde sind so wie er; er braucht mich nicht, damit ich ihn unterhalte, ihm Abwechselung verschaffe oder ihm schmeichle. (Ich würde mich gar nicht wundern, wenn er schon dieses oder jenes Liebesverhältnis mit einem Stubenmädchen oder einer großen Dame gehabt hätte, obgleich er dafür noch lächerlich jung ist. Am Ende mit der kleinen Mildred!) Ach, nicht er braucht Trost, sondern ich. Das fühlt er auch und sucht ihn mir zu geben, indem er mir vertraut, mich in allen Dingen um meine Meinung fragt und auf sie baut wie auf ein Evangelium. Alles mit so viel Vertrauen, mit so viel Freude, als habe er die Dinge nie vorher so gut verstanden und sei nie vorher so glücklich gewesen. Er baut auf mich; und in dieser Hinsicht wird sogar mein Geld zu einem Trost, statt zu einer Last. Er braucht Festigkeit, sein Schmetterlingsdasein und seine unsichere Zukunft machen ihn etwas unbesonnen. Wenn er mich am Arm nimmt, was er immer tut, so ist das keine Demonstration äußerer Zusammengehörigkeit, keine Art von Verbindungszeichen wie bei den feinen Kerlen in Eton; es ist eher, als sagte er: ›Es ist mir gleich, wo du hingehst, aber ich gehe mit dir.‹ Es ist einfach Liebe. Und wenn Mutter sagt, niemand könnte mich um meiner selbst willen lieben, so ist das eine Lüge.«

Als Oliver zu dieser tröstlichen Schlußfolgerung gelangt war, merkte er, daß ihm zu kalt wurde, er stand auf, steckte das ungelesene Buch wieder in die Tasche, atmete die Seeluft kräftig ein, fühlte, daß seine Beine sich schon an den Rhythmus des Schiffes gewöhnt hatten, und schlug sich bestätigend auf die Brust, zufällig an dieselbe Stelle, wo seines Vetters Brief steckte.

Gerade war er im Begriff zu gehen und warf dem rauschenden Strom, der die Schnelligkeit der Fahrt anzeigte, noch einen letzten Blick zu – da spürte er plötzlich eine schwere, warme Hand auf seiner Schulter. Irgendwie war diese Überraschung nicht angenehm. »Glücklicherweise«, dachte er, »hat er mir wenigstens nicht, während er so leise von hinten herankam, seine beiden großen Hände über die Augen gelegt und dazu gerufen: ›Wer ist's?‹ Er wäre imstande dazu!«

»Was ist los? Warum so trübselig? Ich habe dich wohl ein bißchen erschreckt? Es gefällt dir wohl nicht, daß ein alter Freund bei dir hereinschneit, ohne vorher seine Karte abzugeben? Entschuldige! Ich will's gewiß nicht wieder tun. – Du bist überhaupt ein netter Freund, daß du's einen nicht wissen läßt, wenn etwas passiert ist. Hätte Minnie nicht die Todesanzeige in der Zeitung gesehen und mir sofort telegraphiert, Gott weiß, wann ich's dann erfahren hätte. In Iffley wissen sie doch nie was! Hatte gerade noch Zeit genug, das Schiff zu erwischen und an Bord zu klettern, als die letzte Gangplanke schon halb heraufgezogen war. Zwei Nächte bin ich nicht ins Bett gekommen.«

Oliver fragte sich, was Jim Darnley, der da auf einmal so unerwartet und betriebsam auftauchte, wohl auf dem Schiff zu suchen hätte. Warum hatte er gerade dieses Schiff genommen? Warum fuhr er überhaupt nach Amerika? Obgleich erst sechs Wochen seit ihrer Trennung verstrichen waren, schien es ihm, als sähe Jim gröber, untersetzter, plumper und röter aus als früher. Auch hatte er sich offensichtlich heute Morgen nicht rasiert, und der alte grün und rot gestreifte Schal, dessen Enden er in seine Jacke gesteckt hatte, verbarg nur schlecht den nicht mehr ganz reinen Kragen. Diese Jacke selbst, dick und vom Wetter mitgenommen, mit den Lederriemen an den Handgelenken und mit den Taschen, die vom langen Gebrauch speckig geworden waren, machte den Eindruck, als sei sie ein Überbleibsel aus längstvergangenen Tagen, wo Jim auf dem Schlepper an der Küste von Alaska gearbeitet hatte. Hatte er sie als Sinnbild seiner Rückkehr zu jenen harten Zeiten und abgebrühten Moralbegriffen angezogen? Wenn Fräulein jetzt den ritterlichen jungen Seemann zu Gesicht bekäme, der vor kaum einem Jahr noch so flott und lächelnd, so jugendlich und elegant gewesen war – fast wie ein Offizier der deutschen kaiserlichen Marine – die Enttäuschung würde der Ärmsten das Herz brechen!

»Du weißt ja, wie's so geht«, und Jim sah entschuldigend an sich herunter; er fühlte wohl, daß er nicht gerade bewundert wurde. »Ich hatte nicht vor, dich heute zu treffen – wollte dir morgen ein Briefchen schicken, um dir mitzuteilen, daß ich an Bord sei – aber als ich dich so allein und nachdenklich sah, konnte ich nicht anders, ich mußte dir doch Guten Tag sagen, nicht wahr? Denke nicht, daß ich aus Zufall auf der ›Lusitania‹ bin. Ich wußte, daß du an Bord bist; ich habe auf der Cunard-Agentur die Passagierliste eingesehen. Euer Name war gleich der erste in der Gruppe der Erster-Klasse-Passagiere: Mrs. Peter Alden, Mr. Oliver Alden. Und da ich dringend nach New York mußte, dachte ich: Das ist eine gute Gelegenheit. Ich kann mich in aller Ruhe auf neutralem Boden – hier, mitten im Atlantik – mit dir besprechen, ehe du daheim in diesem Land-College verschwindest« – und Jims Augen prüften den Ozean mit seemännischer Fachkenntnis, als ob die Tatsache, daß er allmählich bewegter wurde, ihn vom Berufsstandpunkt aus interessiere.

»Wegen deines Vaters brauche ich dir wohl kaum ausdrücklich mein Beileid auszusprechen. Der Todesfall ist für mich genau so schlimm wie für dich – oder eigentlich noch schlimmer. Der Doktor war mir alles – einfach alles! Und ich habe das Ende nicht so bald erwartet. Wenn ich es geahnt hätte – wäre ich jetzt nicht so in der Klemme. Aber es hat keinen Zweck, zu jammern. Wir müssen nach vorwärts und nicht nach achtern Ausschau halten – so wie wir's jetzt gerade tun.« Und Jim lachte in seiner alten, liebenswürdigen und freimütigen Art, als wollte er sagen: »Ich beklage mich nicht über das Schicksal; ich nehme alles, wie's kommt; ich bestehe nicht auf irgendwelchen Ansprüchen oder Vorschriften oder gesellschaftlichen Übereinkünften; doch wenn mir ein fetter Bissen in den Weg gerät, will ich verdammt sein, wenn ich ihn nicht erwische.«

Inzwischen war Oliver im Begriff zu erklären, daß er nur aus dem Grunde nicht sofort nach Marseille telegraphiert habe, weil es nach der Ankunft seiner Mutter für Jim sehr nachteilig gewesen wäre, noch aufzutauchen. Aber statt dessen kam ihm gegen seinen Willen eine recht unverschämte Frage über die Lippen.

»Du bist in der zweiten Klasse?«

»Allerdings; es ist sehr nett und billig. Ich bekomme die Überfahrt umsonst. Ich bin ohne Billet an Bord, aber der Zahlmeister ist ein alter Freund von mir und hat die Sache in Ordnung gebracht. Zufällig hatten sie eine große Doppelkabine, die im letzten Augenblick nicht benutzt wurde, aber voll bezahlt war. Ich wohne ganz allein darin, wie ein Admiral. Übrigens arbeite ich für meine Passage: ich helfe dem Zahlmeister die Papiere für die verfluchte Zollkontrolle in Ordnung zu bringen.«

Irgend etwas im Ton dieser Worte veranlaßte Oliver zu bemerken: »Überarbeitet scheinst du aber nicht gerade zu sein.«

»Nein«, antwortete Jim trocken. Es ärgerte ihn weiter nicht, daß er sich auf diese Weise selbst verriet. Im Gegenteil, er freute sich, so völlig verstanden zu werden. Doch war der Boden ein wenig gefährlich, und beide schwiegen, während sie das wogende Kielwasser betrachteten, dessen Spur nun kürzer und etwas geschlängelt auf der höhergehenden See erschien. Wie Unheilsboten kamen die bleifarbenen Wellen immer schneller und dunkler daher und türmten sich wuchtiger auf- und übereinander, während das ganze breite Heck des Schiffes schwer stampfend jetzt nach der Backbord- und jetzt nach der Steuerbordseite schlingerte. Drunten schlugen die von den Schrauben aufgepeitschten Wellen wütend aneinander und zischten wie ein Nest von aufgestöberten Schlangen.

Es war entschieden Zeit, daß man sich wieder einmal nach seiner Mutter umsah.


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