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2

An einem Sonntag im Juni faltete Mr. Alden nach dem Mittagessen seine Serviette sorgfältiger als gewöhnlich zusammen, nicht nur, als vollzöge er damit eine Pflicht, sondern als vollzöge er sie sogar unter Schwierigkeiten. Anstatt mit strenger Miene nach oben zu gehen, um sich an der Ehrenhaftigkeit und Abgeschlossenheit seines eigenen Gemachs zu erfreuen, blieb er unruhig am Eßzimmerfenster stehen, blickte zuweilen durch die Spalten der Rolläden nach dem blauen Himmel und dann wieder auf die vereinzelten Spaziergänger auf dem Bürgersteig der Beacon Street.

»Gehst du aus?« fragte sein Bruder Peter, als er diese ungewöhnlichen Zeichen von Ratlosigkeit und Unentschlossenheit wahrnahm.

»Ich überlege es mir gerade. Es ist ein schöner Nachmittag, und um drei Uhr findet das Begräbnis unserer Kusine Sarah Quincy statt.«

»Aber das ist ja in Roxbury.«

»Ich weiß, ein ziemlich weiter Weg und eine unsaubere Gegend! Die Kusine Sarah Quincy lebte in sehr beschränkten Verhältnissen. Wir können es ihr kaum zum Vorwurf machen, daß sie in Roxbury gestorben ist, nachdem sie dort auch hat leben müssen. In letzter Zeit habe ich mich der Verwandtschaft erinnert und sie mehrmals mit Geld unterstützt; meinem Empfinden nach soll man sich dann auch bis zum Letzten folgerichtig verhalten; ich werde also zu der Trauerfeier gehen.«

»Wieviel hast du ihr gegeben?« fragte der Junge halb bewundernd, halb ungläubig.

»Wenn ich mich recht erinnere, gab ich ihr zweimal hintereinander zu Weihnachten zehn Dollar.«

Peter pfiff durch die Zähne; und da sein Bruder solche Merkmale beginnender Verschwendungssucht zeigte, fragte er weiter: »Willst du dir einen Wagen nehmen?«

»Auch diese Frage habe ich erwogen, aber ein Wagen wäre vielleicht zu auffällig. Außerdem: wenn ich im Wagen ankomme, sieht das aus, als wollte ich mit auf den Friedhof, und das wäre mir zu viel. Sie war immerhin nur eine entfernte Kusine.«

»Jetzt ist sie noch weiter entfernt«, murmelte Peter schmunzelnd.

»Trauerfeiern«, fuhr sein Bruder fort, ohne diesen Mutwillen einer Antwort zu würdigen, »Trauerfeiern sind etwas Erhebendes; aber die eigentliche Beisetzung in die Erde muß auf einen fühlenden Menschen niederdrückend wirken. Diese äußerliche Verrichtung sollte man dem Begräbnisinstitut überlassen, dessen Angestellte durch die Gewohnheit abgehärtet sind und zum Trost ja ihre Gebühren bekommen. Die leidtragende Familie sollte sich nicht der herzzerreißenden, krankhaften Beunruhigung aussetzen, die von der Unheimlichkeit des körperlichen Todes ausgeht. Dazu ist der körperliche Tod etwas zu Unbedeutendes. Alle uneigennützigen Interessen des Toten setzen sich ja in den Lebenden fort. Wir werfen nur eine verbrauchte, beschmutzte Kopie des klassischen Textes auf den Abfallhaufen.«

Peter schwieg einen Augenblick. Niemals vorher war ihm so klar zum Bewußtsein gekommen, daß sein Bruder nicht an die Unsterblichkeit glaubte. Vielleicht glaubten auch die andern guten Leute in der Gemeinde nicht daran, obwohl sie es nicht zugaben. Vielleicht war Unsterblichkeit überhaupt immer nur eine Redensart. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Denn nach allem, was man hier auf Erden schon entdeckt hatte, mußte es schwer fallen, im Himmel völlige Unschuld zur Schau zu tragen.

»Kusine Hannah geht nicht mit dir?«

»O nein! Hannah war mit der armen Kusine Sarah überhaupt nicht verwandt. Es würde wie Schnüffelei aussehen, wenn eine Bancroft wegen einer Quincyschen Trauerfeier in ein so kleines Haus ginge.«

»Dann findet die Sache also nicht in der Kirche statt?«

»Nein, in ihrer eigenen Wohnung. Das ist ein weiterer Grund, weshalb ich gern hinginge. Zu Begräbnisgottesdiensten in der Kirche komme ich nur aus Verpflichtung; im Grunde habe ich nichts davon. Jedes starke Gefühl wird in einem so großen Raum zerstreut. Das Publikum weiß nichts zu tun als sich den Hals zu verrenken und zu gaffen, die Familie marschiert in einer Prozession auf, und jeder kümmert sich nur darum, wer da ist und wer nicht, und wer wem den Arm reichen soll, und ob die Damen tief genug verschleiert und ihre nassen Taschentücher schwarz umrandet sind. Und dann der kostspielige Sarg, die geschmückte Bahre und der Aufwand an Blumen – wie unnötig und auf Sensation berechnet ist das alles! In dieser theatralischen Atmosphäre fühlt man kaum noch, daß der Verstorbene dieser unserer Alltagswelt angehört hat und einfach Joseph Smith oder Betty Jones war. Der Leichnam könnte ebensogut der des Menschen im allgemeinen sein. Der Mensch im allgemeinen aber hat überhaupt nie existiert und ist daher auch nie gestorben, und ich verstehe nicht, wozu man dann so tun soll, als bestatte man ihn.

Aber in einem Zimmer, wo ein einfacher Sarg in der Mitte steht, fühlt man wirklich, daß ein Blitz in das Privatleben eingeschlagen hat, und man hat die Befriedigung, sich schmerzlich bewußt zu werden, welcher von den Bekannten es war, der hier aus dem Leben geschieden ist. Die Gefühle werden nicht auf leere Erregung verschwendet, sondern man paßt sich in aller Stille dieser wechselnden Welt an. Jeder Todesfall lockert die Kruste der Gewohnheit ein wenig und bedeutet einen Schritt weiter vorwärts im Leben. Im Fall von Sarah Quincy bedeutet außerdem mein Erscheinen zu ihrer Trauerfeier eine Aufmerksamkeit, die man würdigen wird. Ihre Familie und ihre Freunde werden sagen: ›Einer der ersten Steuerzahler Bostons‹ – in der Grundsteuer bin ich ja tatsächlich der allererste – ›der nicht einmal sehr nahe mit ihr verwandt ist, hat aus reiner Güte den ganzen, weiten Weg hier heraus gemacht. Wahrscheinlich ist er zu Lebzeiten sehr freigebig gegen sie gewesen.‹ Das wird ihnen Freude machen und verpflichtet mich doch in Zukunft zu nichts. So hat die Totenehrung ihre Vorteile.«

»Du willst aber doch die drei Meilen nicht zu Fuß laufen?«

»Ich hatte vor, über die Wiese bis zum Tremont-Haus zu gehen – der Weg sieht ganz trocken aus – und dann die Pferdebahn zu benutzen, ich weiß nur nicht genau, welche.«

»Die gelbe, die zum Norfolk-Haus fährt, hält genau vor der Straße, wo Kusine Sarah wohnte. Wenn du mir die Fahrt zahlst, begleite ich dich.«

»In diesem Falle habe ich nichts dagegen, du verdienst dir das Fahrgeld als Führer.« Und Mr. Alden begab sich beinahe lächelnd mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit auf den Vorplatz, bürstete Mantel und Hut sorgfältig aus, öffnete die Tür, bemerkte, daß es ein strahlend schöner Tag war und rollte seinen Regenschirm noch etwas fester zusammen.

Der gelbe Pferdebahnwagen war schon ziemlich überfüllt, und Mr. Alden mußte sich mit dem Ellbogen den Weg durch einen Knäuel von Leuten auf der hinteren Plattform bahnen, um in das Innere des Wagens zu gelangen. Als er am Schaffner vorbeistreifte, hörte er, wie dieser hinter ihm vergnügt ausrief: »Hallo, Peter! Willst du nach Casey's Corner?« Die Worte waren ganz deutlich, aber in seinem Streben, vorwärts zu kommen und einen Platz zu finden, begriff Mr. Alden ihren Sinn nicht sofort. Plötzlich jedoch vernahm er seines Bruders Stimme, die langsam und bedächtig antwortete: »Nein, Mike, ich gehe mit meinem Bruder Nathaniel zu einem Begräbnis.«

Das hörte sich fast an, als sollte er jemandem vorgestellt werden, und Mr. Alden sah sich unwillkürlich um. Er erblickte unter der Schaffnermütze einen roten Schopf, zwei unverschämt lachende Augen und einen grinsenden Mund; und er sah, wie Peter glühend rot wurde, sich jedoch tapfer zu seiner Schande bekannte und zurückzulächeln versuchte. Wäre nicht der Wagen abgefahren, und hätte Mr. Alden nicht das Gleichgewicht verloren, schnell nach einem Griff fassen und sich hastig zu einem hinten frei werdenden Sitz begeben müssen, dann wäre es tatsächlich geschehen, daß er einen Pferdebahnschaffner kennen gelernt hätte.

Peter fand keinen Platz mehr neben seinem Bruder, und so blieben beide eine Weile allein mit ihren verschiedenartigen Gefühlen. Peter empfand die ganze Schrecklichkeit seiner Lage, doch noch mehr ihren Humor; er hatte sich schon daran gewöhnt, sich für einen hoffnungslosen Pechvogel zu halten, bei dem alles schief ging; in so entscheidenden Augenblicken aber pflegte er sich erst recht unbekümmert zu geben und seine natürliche Schüchternheit mit dem sanften Mute der Verzweiflung zu besiegen. Er wäre gern draußen bei seinem netten Freund auf der Plattform geblieben, aber heute verbot ihm das seine Pflicht, auch hätte dann wahrscheinlich sein Bruder vergessen, seinen Fahrschein zu bezahlen. Wäre er aber abgesprungen und nach Hause gelaufen, wozu er die meiste Lust hatte, dann wäre das Unwetter dafür später nur um so heftiger über seinem Haupte losgebrochen. Das war nun einmal das Scheußliche am Leben: während man einer Sache aus dem Wege ging, weil sie sich nicht lohnte, geriet man in eine andere hinein, die sich auch nicht lohnte! Man konnte deshalb ebensogut an seinem Platze ausharren und die Dinge über sich ergehen lassen.

So hielt er sich jetzt gottergeben an seiner Schlinge fest und baumelte wie ein Erhängter vor den Augen seines schweigenden Bruders, der nur auf der Kante seiner Bank saß, die Hände über dem Griff des Regenschirms kreuzte, die Knie fest zusammenpreßte und in der vergeblichen Anstrengung, jede Berührung mit seinen Nachbarn zu vermeiden, starr vor sich hinsah. Neben ihm saß eine aufgeregte Frau mit einem kleinen Kind und einem großen Bündel auf dem Schoß, das – im Widerspruch zu den Grundsätzen einer gerechten Demokratie – weit über ihren engen Sitz hinausragte; doch so unangenehm er auch von dieser Seite bedrängt wurde, so war doch die unbewegliche Masse, die sich auf der andern Seite gegen ihn preßte, noch abscheulicher. Es war ein riesenhafter irischer Priester mit rotem Gesicht, der seine beiden Knie mit gewaltigen Pranken bedeckte; Körperwärme strömte fühlbar von ihm aus, und sein brutales Kinn zeugte von entschlossener Zufriedenheit.

»Was haben diese groben Ausländer eigentlich bei uns zu suchen?« dachte Mr. Alden. »Sind wir nicht in die Ferne gezogen, um aller Ansteckung zu entgehen, und haben wir nicht schwer gearbeitet, um uns gegen Armut und Aberglauben zu schützen?« Niemals im Leben hatte er mit Bewußtsein einen Katholiken berührt. Wahrscheinlich setzte er sich in diesem Augenblick kaum einer Gefahr moralischer Ansteckung aus, aber wer konnte wissen, welche scheußlichen Krankheiten dieses fleischige Ungeheuer da unter dem Anschein robuster Gesundheit verbarg? Der Mann sah wie ein Metzger aus. Waren nicht alle Priester ursprünglich Metzger gewesen? Was für üble Deutungen schloß dieses Wort in sich! Die öffentliche Gefahr des Papismus und der Inquisition lag dagegen wohl fern; dringlicher war im Augenblick Mr. Aldens Furcht, das Kind des armen Weibes neben ihm könnte zu schreien anfangen, oder an Skrofulose leiden oder notwendig eines Windelwechsels bedürfen.

»Endstation! Alles aussteigen!« brüllte der vergnügte Schaffner. Die Fahrgäste drängten sich in großer Hast heraus, als wollten sie einer Feuersbrunst entgehen oder eine mit ansehen, und trennten so die beiden Brüder voneinander. Als Peter an Mike vorüberging, gab ihm dieser einen Rippenstoß und flüsterte: »Dein oller Bruder ist aber ein steifer Kerl!«

»Das ist noch gar nichts«, erwiderte Peter und dachte schaudernd an Kusine Sarah.

Inzwischen atmete Mr. Alden erlöst auf; sogar die Empörung darüber, daß er sich von einem so niedrigen Subjekt zum Aussteigen kommandieren lassen sollte, wurde von dem Gefühl ungeheurer Erleichterung ausgelöscht, und auch das dunkle Problem von Peters Lasterhaftigkeit beunruhigte ihn im Augenblick weniger stark. Er befand sich nun wieder in der frischen Luft, stand auf seinen beiden Füßen und war jegliche Berührung los. Und mit einem gewissen Vergnügen, als begäbe er sich an die schwierige Arbeit, eine Ente zu zerlegen oder einen Betrug aufzudecken, begann er das peinliche Verhör, das anzustellen nun seine Pflicht war.

»Darf ich fragen, wie du zu der Bekanntschaft dieses jungen Mannes, dieses Pferdebahnschaffners, kommst? Du scheinst auf sonderbar freundschaftlichem Fuße mit ihm zu stehen.«

»Wir spielen Baseball zusammen.«

»Wie kommt das, und wo spielt ihr?«

»Ganz zufällig, auf der Wiese.«

»Willst du damit sagen, daß dein Klassenlehrer in der Lateinschule seine Jungen gegen erwachsene Arbeiter spielen läßt? Das ist nicht möglich.«

»In der Schule spiele ich gar nicht mit. Dazu kann ich nicht genug. Ich spiele bloß privat und zum Spaß, wenn gerade jemand mitmachen will.«

»Und was meinte er mit ›Casey's Corner‹?«

»Das ist eine Drogerie in der Washington Street. Dort ist ein Limonadenausschank, der ist Sonntags nicht geschlossen, wie die andern.«

»Welche andern

»Alles andere, außer Kirchen.« Während er das sagte, fühlte Peter selbst, daß er vorlaut und feige war. Es war zu spät zum Entrinnen, und er fügte verzweifelt hinzu: »Ich meine die Baseball-Plätze und die Billardzimmer.«

»Sonst noch was?«

»An der Ecke ist eine Straßenlaterne, und da stehen wir gewöhnlich herum. Das ist alles.«

»Bitte, wer ist das: wir

»Ich und wer eben kommt. Eintritt frei.«

Inmitten seiner Niederlage machte es Peter fast Spaß, daß er nun hereinfiel und endlich gezwungen wurde, sich zu seinen Überzeugungen zu bekennen. Er hatte nicht vorgehabt, sie zur Sprache zu bringen, aber er würde sie auch nicht aufgeben. Vorläufig brauchte er ja noch nicht einzugestehen, daß die Stammgäste von Casey's Corner, nachdem sie ein Glas Limonade getrunken hatten, leicht unter irgend einem Vorwand durch den Hof in das dahinterliegende Billardzimmer gelangen konnten, und daß dieses Billardzimmer zugleich eine Bar war, wo bei scheinheilig geschlossenen Türen und Fensterläden auch Sonntags alkoholische Getränke verabreicht wurden.

Die Brüder hatten das kleine Holzhaus der verstorbenen Sarah Quincy erreicht, und Peter griff schon nach der trübselig mit Krepp umwickelten Glocke; aber für seinen Bruder Nathaniel war die Erforschung des Lasters sogar noch spannender und im tiefsten befriedigender als die Gegenwart des Todes. Bevor er eintrat, stand er still, um eine letzte Frage zu stellen.

»Ich möchte gern wissen, was du eigentlich tust, wenn du da mit fremden Burschen in einem verrufenen Stadtviertel um einen Laternenpfahl herumstehst.«

»Nichts weiter; wir bummeln bloß, machen Witze, rauchen Zigaretten und beobachten die Leute – besonders die Mädels – die in die Kirche gehen, denn Casey's Corner liegt gerade gegenüber der Kathedrale. Wir würden lieber Baseball spielen, aber Sonntags geht das nicht.«

»Aha, Zigaretten auch noch; du rauchst also. Ich wußte nicht, daß du dir das heimlich angewöhnt hast. Aber wenn du deine Zeit schon vergeuden mußt, warum vergeudest du sie an einem solchen Ort und mit solchen Leuten?« Und Mr. Alden, der solide Bücher las, erinnerte sich daran, daß ein großer Redner in rhetorischer Übertreibung (was unter diesen Umständen vielleicht zu entschuldigen war) erklärt hatte, daß das Laster, ohne Plumpheit betrieben, nur halb so schlimm sei.

»Ich weiß nicht, warum«, rief Peter, der ungeduldig wurde, mit lauter Stimme. »Es hat sich eben so gemacht. Ich mag es gern; es ist nett. Es macht mehr Spaß

Er hatte an der Glocke nicht gezogen, aber während er noch redete, hatte sich lautlos die Tür geöffnet, und seine letzten Worte hallten durch den engen Vorplatz und das anstoßende kleine, verdunkelte Wohnzimmer, das von frommem Geflüster und starkem Rosengeruch erfüllt war. Die Leidtragenden, die in angespannter Unbehaglichkeit tuschelnd herumsaßen, waren erschrocken, beleidigt und empört. Sie wechselten Blicke miteinander und musterten dann die beiden Brüder, die sich in der Dämmerung auf den beiden letzten freien wackeligen Stühlchen gleich neben der Tür niederließen; Nathaniel sehr blaß und Peter sehr rot im Gesicht. Es fehlte auch nicht an bedeutungsvollen Blicken zum Sarg hinüber, doch als von dorther kein Protest zu kommen schien, nahmen alle nach und nach ihre fromme Miene wieder an. Jeder wußte, daß der andere versuchte, so zu tun, als sei nichts geschehen. Aber der wehleidige Ton des Geistlichen hatte nach diesem unpassenden Zwischenfall einen besonders affektierten Klang, und so erlebte Mr. Alden an dieser Aussegnung kaum viel Freude. Er beschäftigte sich während des ganzen Gottesdienstes hauptsächlich mit der Überlegung, daß er doch einen Wagen hätte nehmen sollen. Protzerei wäre immer noch besser gewesen als Schande.

Wohl waren andere Glieder seiner Familie schon von tragischen Ereignissen oder der Mißbilligung ihrer Mitmenschen oder Strafen des Schicksals betroffen worden, doch stets hatte er geahnt, daß dieser sein Stiefbruder zum erstenmal Schande über sie bringen würde; war doch seine Mutter eine Lanier und stammte nicht aus Boston. Schon als kleiner Junge schien Peter in seiner Unbekümmertheit, seinem Trotz, seiner heimlichen Halsstarrigkeit zum schwarzen Schaf vorausbestimmt. Wie oft war er morgens nach dem Wecken noch einmal eingeschlafen und später nur halb gewaschen und halb gekämmt zu seinem kalt gewordenen Frühstück heruntergekommen! Allerdings hatte ihm seine Mutter ein schlechtes Beispiel gegeben, indem sie überhaupt nie zum Frühstück kam! Das Frühstück mit seiner Feierlichkeit, seiner schlechten Laune und seiner appetitverderbenden Menge von Speisen schien einen festigenden moralischen Einfluß auf den Tageslauf auszuüben; es war der allgemein eingeführte unitarische Ersatz für das Morgengebet. Es machte einen für den ganzen übrigen Tag unfähig, etwas Ungewöhnliches zu tun. Aber dem kleinen Peter in seiner Schläfrigkeit und Hast schien diese bewundernswerte Einrichtung nichts zu nützen, da er stets zur Schule nur knapp zurechtkam. Er stopfte ein paar Löffel Haferbrei in sich hinein, griff nach seiner Mütze, wobei er womöglich den Schirmständer umwarf, und rannte aus dem Hause, indem er die Eingangstür entweder offen ließ oder hinter sich zuschmiß; das ganze Haus krachte, und ein gefährlicher, kalter Windstoß fuhr um die dünnen Knöchel seines älteren Bruders. Wie oft hatte man dem Jungen gedroht, wenn er nicht pünktlich käme, werde man das Frühstück auf halb acht statt auf acht Uhr ansetzen!

Und als das geschah und Nathaniel seine eigene Bequemlichkeit zum Besten seines Bruders geopfert hatte, wie erfindungsreich wußte da der kleine Peter diese strenge Maßnahme zugunsten seiner sündhaften Zwecke auszunützen! Er gewöhnte sich an, auf seinem Schulweg überall herumzutrödeln, sich hinten an die Schlitten zu hängen, welche die Beacon Street herunterfuhren, oder mit höchster Geschwindigkeit den Abhang der Wiese zum Teich hinabzurennen, statt sich an den geraden Weg zu halten, der ihn mit Leichtigkeit rechtzeitig in die Bedford Street zum Schulhaus geführt hätte. Nathaniel hatte nur zu häufig Gelegenheit gehabt, die warnende Bemerkung zu machen, daß es für den, der bergab läuft, schwer ist rechtzeitig stillzustehen. Eines Tages würde das Unglückskind in den Teich rollen, und was war der Froschteich anderes als ein Sinnbild für den Pfuhl der Verdammnis! Natürlich glaubte Mr. Alden längst nicht mehr an die Schrecken der Hölle; aber diese Befreiung von religiösen Ängsten verlegte die schlimmen Folgen des Bösen nur in die nähere Umgebung und dehnte sie peinlicherweise auf die Verwandtschaft des Schuldigen aus.

Er wünschte wirklich, er wäre im Wagen gekommen; aber wie sollte er jetzt am Sonntagnachmittag in der Vorstadt für den Rückweg einen Wagen finden? Sie würden wohl schon alle für die irischen Begräbnisse gemietet sein; in diesen Dingen waren die armen Leute törichterweise so verschwenderisch. Er brauchte sich nicht zu geloben, daß er nie, nie wieder in einen Pferdebahnwagen steigen würde; dieser Entschluß war viel zu tief in seiner Seele verankert, als daß er der Formulierung bedurft hätte. So wollte er also nach Hause gehen, da nichts anderes übrig blieb; und wenn sich diese Anstrengung als schädlich für seine zarte Gesundheit erwies, dann würde er doch wenigstens die Lehre mit heimnehmen, daß man arme Verwandte, auch wenn sie tot waren, nicht besuchen sollte; oder wenn man ihrem Begräbnis beiwohnen mußte, dann wenigstens nur allein. Er wollte die drei Meilen durch die Elendsviertel nach Hause laufen, wobei das Schweigen und die Kopfhängerei seines Bruders die Unannehmlichkeit noch verstärken würden. Aber für den Augenblick wurde Peter so wenigstens vor Befleckung durch Sünde bewahrt. Mr. Alden ahnte nicht, wie weit diese Befleckung schon vorgeschritten war.

Im Gefühl, schwere Buße zu tun, wechselten beide auf dem ganzen Heimweg kein Wort miteinander. Nathaniel haßte das Gehen überhaupt, und sein Bruder haßte das Gehen in seiner Begleitung. Die Auseinandersetzung wurde erst wieder aufgenommen, als nach dem kalten Sonntagabendessen ihre Kusine Hannah sie ahnungsvoll allein im Eßzimmer ließ. Nicht, daß es jemals nach dem Essen Wein und Zigarren für die Herren gegeben hätte; aber heute abend hatte Hannah gewissermaßen das Gefühl, daß Wein und Zigarren in ihrer Unterhaltung vorkommen würden, und verschwand weise in ihr Zimmer.

Bruder Nathaniel hatte sich wieder auf seinen Stuhl niedergelassen (denn er erhob sich stets zugleich mit seiner holden Haushälterin, während Peter ihr die Tür öffnete) und nach wiederholtem Schlucken begann er:

»Ich muß dir wohl leider erklären, Peter, daß ich deinen intimen Verkehr mit Personen von niederer Herkunft und niederer Lebensstellung nicht billige. Natürlich glauben wir alle an die Demokratie und möchten allen Klassen die größtmöglichen Vorteile verschaffen. Aber wir werden den weniger Bevorzugten niemals helfen können, sich zu uns zu erheben, wenn wir unser Niveau preisgeben. Deine unmöglichen Freundschaften haben deine Sprache und deine Manieren schon ungünstig beeinflußt; ich merkte diese Veränderung, ohne ihren genauen Grund zu kennen. Derselbe Einfluß könnte mit der Zeit deine Moral schädigen, von deinen Aussichten auf dem College und später in der Geschäftswelt nicht zu reden. Nichts an einem jungen Manne macht auf Vorgesetzte einen so günstigen Eindruck wie angenehme Ausdrucksweise und gutes Benehmen. Selbst die besten Manieren, die man heutzutage sieht, sind leider nicht besonders gut. Ich hoffe, du versprichst mir, alle deine Vorstadtbekanntschaften aufzugeben.«

»Nein«, sagte Peter verdrossen, ohne seinen Bruder anzusehen, »das verspreche ich nicht.«

Eine lange Pause entstand.

»Wenn du das nicht versprichst, ist es meine Pflicht, dich zu schützen, soweit es in meiner Macht steht; obgleich ich weiß, wie wenig ein äußerlicher Schutz helfen kann, wenn der Wille zum Rechten fehlt. Ich werde mich mit den andern Testamentsvollstreckern unseres Vaters beraten, die in gewissem Sinne auch deine Vormünder sind; und wenn sie es billigen, werde ich dich von hier fortschicken, irgendwohin, wo du vor den schlimmsten Einflüssen einer großen Stadt bewahrt bleibst. Ich bin mir freilich klar darüber, daß keine menschliche Gesellschaft so durch und durch von minderwertigen Elementen gereinigt ist, daß jemand, der danach sucht, nicht immer noch schlechten Umgang finden könnte; und ich gestehe, daß ich nicht viel Hoffnung für deine Besserung hege.«

»Ganz richtig. Ich mag Proleten gern. Ich mag sie in mancher Beziehung lieber als feine Leute, denn sie sind natürlicher.«

»Wir sollen uns nicht das Natürliche, sondern das Beste aussuchen!«

Peter verfolgte unerschrocken seine eigenen Gedanken weiter, als ob sein Bruder gar nichts gesagt hätte. »Ein Prolet ist zum Beispiel natürlicher als ein feiner Herr, weil er sein Mädel haben kann.«

»In deinem Alter wäre jedes Verlöbnis bedauerlich, selbst ein heimliches. Bis du einmal alt genug zum Heiraten bist, haben alle Verhältnisse sich so geändert, daß ein solcher kindischer Bund eine überholte Sache wäre und einen nur in Verlegenheit brächte. Ich weiß schon, Jungen haben manchmal solche Schwärmereien. Bei Mr. Pappantis Tanzunterricht bist du jeden Freitag Nachmittag von einem Kranze reizender junger Damen umgeben, und wenn du eine entschiedene Vorliebe für eine von ihnen fühlst und deine Gedanken auf sie richtest – obwohl die Sache unbedingt verfrüht wäre – so sehe ich nicht ein, wieso du nicht ein ›Mädchen‹ haben solltest, ohne – um dein gräßliches Wort zu gebrauchen – ein ›Prolet‹ zu werden.«

»Ich meine das nicht so, daß man eine anbetet, oder seine Gedanken auf sie richtet, oder eine Vorliebe für sie fühlt. Ich meine, daß ein Prolet auch ein Mädel, das er niemals heiratet, doch fast immer ›haben‹ kann.«

Jetzt endlich verstand Bruder Nathaniel. Er öffnete seinen Mund weit, als versuchte er, eine furchtbare Verwünschung aus den Tiefen seines Wesens hervorzustoßen. Aber seine bleichen Lippen schlossen sich wieder, ohne daß er ein Wort gesagt hatte. Er verließ das Zimmer. In seinem ganzen langen Leben sah er seinen Bruder Peter niemals wieder.

Den nächsten Tag über blieb Mr. Alden in seinen Pantoffeln und seinem wattierten seidenen Schlafrock in dem kleinen Arbeitszimmer neben seinem Schlafgemach sitzen. Kusine Hannah berichtete, daß er angestrengt Briefe schreibe, entsetzlich aufgeregt sei und sie zur Beruhigung seiner Nerven sogar um ein Glas ihres medizinischen Sherrys gebeten habe, obwohl sein Appetit nicht merklich in Mitleidenschaft gezogen sei. Tatsächlich hatte diese Katastrophe seine Wangen ungewöhnlich lebhaft gefärbt, und er verbrachte einen der tätigsten und glücklichsten Tage seines Lebens in dem Bewußtsein, eine große Verantwortung ohne Zaudern auf sich genommen zu haben und aufs gewissenhafteste zu erfüllen. Am dritten Morgen fand Peter beim Frühstück folgenden Brief auf seinem Teller:

Mein jüngerer Bruder!

Nach allem, was vorgefallen ist, wirst Du nicht überrascht sein, zu hören, daß sich Deine Vormünder miteinander beraten haben, mit dem Ergebnis, daß Du für den Sommer in Reverend Mark Lowes Lager für zurückgebliebene Knaben in Slump, Wyoming, geschickt wirst. Mr. Lowe trifft morgen in Boston ein. Er wird Dich sofort in seine Obhut nehmen und Dich zusammen mit andern Schülern in sein Sommerlager im Gebirge bringen.

Im Herbst kannst Du zur Vorbereitung für Harvard nach Exeter auf die Schule kommen, falls Du Dich bis dahin mustergültig geführt hast. Obwohl wir die Gefahren der Freiheit, die Du voraussichtlich dort genießen wirst, nicht unterschätzen, halten wir es für richtig, Dir nicht jeden Weg zur Reue abzuschneiden, und wollen Dir eine angemessene Gelegenheit, Deinen guten Ruf wieder herzustellen, nicht vorenthalten.

Sollten wir jedoch finden, daß Du aus dieser Nachsicht keinen Gewinn und Nutzen für Dich ziehst, so sind wir entschlossen, Dich für die nächsten drei Jahre, so lange wir noch für Dein Wohl verantwortlich sind, im Büro der Baumwollspinnerei in Pepperel, Maine, unterzubringen, wo Du, wenn Du schon nicht fähig bist, Dich moralisch zu bessern, Dir wenigstens Deinen Lebensunterhalt verdienen kannst.

Dein bekümmerter, aber pflichtgetreuer Bruder
Nathaniel Alden


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