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5

Die Sonne stand schon halb im Mittag, als Oliver am nächsten Morgen aus seinem kleinen bleigefaßten Fenster schaute. Rose spielte mit dem Hund im Garten, und gerade unter ihm saßen der Pfarrer und Mrs. Darnley auf einer roh gezimmerten Bank vor einem kleinen Frühstückstisch.

»Laß den Tee nicht länger auf den Blättern stehen«, sagte die Stimme des Pfarrers, »das ist schädlich. Mach lieber frischen, wenn die Jungen herunterkommen.«

»Wir können nicht jeden Tag zweimal Frühstück, zweimal Lunch und zweimal Dinner servieren, bloß weil die feinen Herren immer zu spät kommen,« erwiderte Mrs. Darnleys Stimme. Sie sprachen leise, aber die Mauer wirkte in der reglosen Stille des umfriedeten Gartens wie eine Flüstergalerie. »Nächstens wird jeder sein Frühstück einzeln aufs Zimmer haben wollen«, fuhr die Hausfrau fort, »und womöglich auf einem silbernen Tablett, mit Treibhausfrüchten und kalter Geflügelbrust in Gelee. Wenn sie sich nichts daraus machen, daß sie ihre Portion Nieren eiskalt oder halbverkohlt bekommen, dann können sie sie meinetwegen jederzeit haben; aber sonst müssen sie sich mit ehrlichem Butterbrot zufrieden geben wie wir andern auch. Was die Reichen auf ihren Jachten schlemmen, weiß ich nicht, aber wenn man doch seekrank wird, genügt auch Salzhering, und davon kommt es auch, daß manche Leute einen so riesenhaften Durst mit an Land bringen.«

Durch diese Laute in die wirkliche Welt zurückversetzt und durch ein kaltes Bad erfrischt, ging Oliver kurze Zeit darauf in den Garten hinunter. »Nein, danke, Mrs. Darnley, ich habe nicht viel Appetit. Ich brauche nur eine Kleinigkeit; vielleicht ein Glas Milch, wenn ich darf. Wir haben gestern abend in Sandford noch einmal ein großartiges Dinner bekommen – eine kleine Überraschung, die Jim sich ausgedacht hatte.«

»Das wird wohl in verschiedener Hinsicht eine Überraschung gewesen sein«, meinte die gute Dame, und ihr klagender Ton bekam etwas dumpf Verzweifeltes. Es gefiel ihr an Oliver, daß er so enthaltsam war, und sie verzieh ihm schon beinahe seinen Reichtum. Sie setzte sich zu ihm auf die Bank, als er seine Milch trank, deckte ihm die Marmeladendose auf, reichte ihm Brot und Butter, strich ihre schwarze Schürze glatt und seufzte.

»Ich hoffe, Sie denken nicht schlecht von mir, Mr. Oliver, weil ich eine scharfe Zunge habe. Das harte Leben hat mich alte Frau verbittert, und die Welt ist immer gegen mich gewesen.«

»Es ist schade, daß Sie sich so um Kleinigkeiten sorgen müssen«, erwiderte Oliver und fühlte eine unerklärliche Sympathie für sie. »Ich hoffe nur, ich mache Ihnen nicht zu viele Umstände. Aber große Sorgen können Sie doch nicht haben, Mr. Darnley, Jim und Rose sind ja bei Ihnen. Ich finde, die reichste Dame könnte Sie um Ihre Familie beneiden.«

»Ach, aber die kleinen Sorgen, Mr. Oliver, die sind es ja gerade, die eine Frau zermürben, zum Beispiel das Zahnweh, der Ostwind oder die Biersteuer; die muß uns der Teufel selbst geschickt haben. Mit dem großen Unglück, wie Trauerfällen, ist es anders; das gehört nun einmal zum allgemeinen Menschenlos, und der Herr plant es zu unserem Besten, um unsere Herzen dieser traurigen Welt zu entfremden. Bei solchen Gelegenheiten, wo ich gar keinen Trost brauche, versteht sich der Pfarrer aufs Trösten; aber gerade dann tut es wohl, zu jammern und sich ganz hängen zu lassen wie eine Trauerweide. – Nein, darum handelt es sich nicht, Mr. Oliver! Aber die Eierpreise, die Eierpreise!«

»Verzeihen Sie, wenn ich frage – es kommt vielleicht daher, daß ich immer im Überfluß gelebt habe – muß man denn überhaupt Eier kaufen? Es gibt doch Reis und Kartoffeln. Mein Vater und Jim legen Wert aufs Essen; aber ich merke kaum, was ich esse, besonders wenn ich mit den beiden zusammen bin. Ihre Gespräche sind mir die Hauptsache, und bei Jim ist es mir sogar schon genug, wenn ich ihm zuschauen kann. Sie sollten ihn nur einmal sehen, wie er den ›Schwarzen Schwan‹ bei hohem Seegang kommandiert. Da wären Sie richtig stolz auf ihn!«

Oliver hatte sich bemüht, der alten Dame etwas Angenehmes zu sagen. Das Ergebnis war jedoch enttäuschend.

Mrs. Darnley grübelte vor sich hin und fragte dann bekümmert:

»Wieviel wissen Sie von ihm?«

»Eine ganze Menge. Ich glaube, er hat mir alles erzählt, das Schlimmste wenigstens.«

»Er führt Sie doch nicht auf Abwege?«

»O nein. Er sagt, er warne mich gerade davor. Und seine eigenen Wege sind für ihn ja gar keine Abwege, denn der Pfarrer sagt, er ist ein Mensch des Körpers und hat die Gaben des Körpers. Mich dagegen zieht diese Seite des Lebens nicht besonders an. Ich fände es traurig, wenn es nichts anderes gäbe.«

Da Mrs. Darnley diese Erklärung völlig ungerührt entgegenzunehmen schien, versuchte es Oliver mit etwas anderem und fuhr fort: »Mein Vater hält große Stücke auf Jim. Er sagte mir früher einmal, Jim sei die Freude seines Lebens gewesen.«

»So, früher einmal?«, entgegnete sie, ohne ihre ernste Miene zu verändern. »Jetzt nicht mehr, wie?« Dann rückte sie an Oliver heran, neigte ihren Kopf mit dem staubigen, nicht gerade wohlriechenden Haar zu ihm und flüsterte:

»Hinterläßt Ihr Vater ihm Geld?«

Während Oliver überlegte, was er antworten sollte, merkte er, daß ihr Haar an den Schläfen dünn und verblichen war, ganz anders als die krause braune Frisur im Stile der Königin Alexandra, die sie über der Stirn trug.

»Nein, ich glaube nicht, daß er Jim Geld hinterläßt, und doch ist Jim auch bedacht worden. Ich kann jetzt nicht im einzelnen auseinandersetzen, wie mein Vater das geordnet hat, denn es ist ein Familiengeheimnis.«

»Hätte er irgend etwas durch den Tod Ihres Vaters zu gewinnen?«

»Nein. Ich möchte eher behaupten, er hat dabei alles zu verlieren.«

»Natürlich, natürlich. Genau was ich immer zu ihm sage. Aber er ist unter einem bösen Stern geboren, Mr. Oliver, unter einem bösen Stern. Wer von uns käme ins Unglück, wenn wir wirklich wüßten, was zu unserem Besten dient!«

Und Mrs. Darnley stieß einen erleichterten Seufzer aus – erleichtert, weil sie nun das Schlimmste erfahren, es verallgemeinert und mit Worten der Weisheit beleuchtet hatte. Nachdem so die Philosophie in Ehren entlassen war, wandte sie sich wiederum Oliver zu.

»Ich finde aber, Sie sehen ein bißchen blaß aus. Ich will Ihnen schnell eine Scheibe Speck braten, nur ein Streifchen, in zwei Minuten ist es geschehen. Ihr junges Blut soll mir doch nicht schwach werden von kaltem, klitschigem Butterbrot und dünner Milch! Noch dazu, wo Sie solch ein lieber junger Herr sind!« Und sie hastete geschäftig ins Haus.

Oliver lief ihr nach, um sie zurückzuhalten. Er konnte nichts mehr essen. Frische Luft war alles, was er brauchte. Da kam auch schon Jim die Treppe heruntergepoltert und sagte, es sei Zeit, daß sie zu ihrem Ausflug aufbrächen.

Jim bewegte den Prahm vorwärts, Oliver und Rose lagen ihm gegenüber auf den Kissen, während Topsy, der Hund, wie eine Galionsfigur vorn am äußersten Bug stand, den Wind einschnupperte, das Wasser geheimnisvoll unter sich vorbeifließen sah und die Führung der Expedition übernommen zu haben schien.

Es war ein Vergnügen, die Festigkeit und Bestimmtheit von Jims Bewegungen zu beobachten; weder verspritzte er Wasser, noch strengte er sich übermäßig an, sondern er stieß genau zur rechten Zeit bedächtig und rhythmisch in die Flut, obwohl er manchmal, um die Strömung voll auszunützen, die Stange fast bis zu seiner Hand eintauchen und sich schnell wie eine stählerne Feder zum nächsten Stoß wieder aufrichten mußte. Da sie mit dem Strom fuhren, kamen sie schnell an der Eisenbahnbrücke und der Insel vorbei und trieben auf das grasige Ufer beim ›Königswappen‹ zu.

Oliver hätte in diesem freundlichen Fleckchen Erde niemals den trüben Schauplatz des gestrigen Abends wiedererkannt, den noch dazu die Bilder seines Traumes verzerrt hatten. Vor ihm lag ein frischer Rasen mit Gartenstühlen und Tischen unter einem schattigen Baum; Rosen bedeckten die Gartenmauer, kleine Lauben waren im Gebüsch ausgeschnitten, und in der Luft schwebte leises Bienengesumm. Auch das Gasthaus selbst schien völlig verwandelt; es war dick mit Efeu bewachsen, dessen Grün durch die lustig rotweiß gestreiften Markisen der Fenster unterbrochen wurde. Ein Fahnenmast mit einer großen, schlaff herabhängenden Flagge stand davor; die Schleusentore gaben ein musikalisches Getröpfel von sich, und Kinder ritten auf ihnen wie auf Schaukelpferden und halfen eifrig mit, wenn der dramatische Augenblick des Öffnens und Schließens kam. Gewiß, wenn die Schleusenkammer leer war, wirkte sie wie ein tiefer Abgrund, ihre Wände tropften feucht und schleimig, und die nassen Ketten fühlten sich eisig kalt an; doch wenn die Tore sich öffneten, breitete sich plötzlich ein heller, weiter See aus, der in den breiten, geraden Fluß überging; ihn begrenzten auf der einen Seite bewaldete Abhänge und auf der andern Seite die lieblichsten Wiesen, durch die sich ein sanft gewundener Pfad zwischen Butterblumen und Maßliebchen hinschlängelte. Lerchen stiegen singend zum Himmel empor, und sogar das Stampfen der Papiermühle, die jetzt in Betrieb war, gab der ganzen Stimmung etwas Beruhigendes und Freundliches, als blicke die Natur wohlgefällig und anerkennend auf ehrlichen menschlichen Gewerbefleiß und bringe ihn in Einklang mit ihrem eigenen Wirken.

»Nein«, dachte Oliver, »hier gibt es nichts Finsteres. Nur ich bin es, der alles schwarz sieht. Ich nehme Anstoß an allem Menschlichen. Ich bin in einem Geist erzogen, der alles verschleiert, alles verbirgt und es unerträglich findet, daß die Wahrheit so ist, wie sie unabänderlicherweise nun einmal sein muß. Warum ist das menschliche Gewissen so genau, so aufdringlich? Von Natur aus wären die Dinge vollkommen, wenn man sie sich selbst überließe. So aber geraten sie beständig in Widerstreit, und es entsteht schreckliche Verwirrung. Wie schön wäre alles Natürliche, wenn es nur sich selbst treu zu sein brauchte!«

Jim war ins Haus gegangen, um den Lunch zu bestellen – dessen Bezahlung Oliver übernommen hatte – und ihn in einer der kleinen Lauben auftragen zu lassen. Oliver machte gerade den Prahm am Ufer fest, als er Rose rufen hörte: »O, Bobby, was ist los mit dir? Du hast ja dein Schürzchen verkehrt um!« Und sogleich brachte sie dieses schützende Kleidungsstück an der stämmigen Gestalt eines kleinen Buben in Ordnung, der sich über jede Schürzenfrage offenbar königlich erhaben fühlte; dafür interessierte er sich um so mehr für den angebissenen Apfel, den er in der Hand hielt, und für Topsy, ein ihm fremdes Wesen, das ihn etwas erschreckte, aber zugleich mächtig anzog. Doch dieser Widerstreit der Neigungen fand bald ein trauriges Ende. Der Apfel rollte während der Kämpfe mit dem Schürzchen in der Richtung des Hundes fort, und Topsy schnappte nach ihm, da er ihn für ein freundschaftliches Geschenk hielt. Aber weil er ihn, wie es mit so manchen Liebesgaben geht, keineswegs nach seinem Geschmack fand, rannte er damit fort und warf ihn unter einer Hecke in den Schmutz. Bobby, der so mit einem Schlag die beiden Gegenstände seines Interesses verloren sah, begann zu heulen, und nachdem er damit angefangen hatte und nichts anderes zu tun wußte, fuhr er fort lauter und lauter zu brüllen.

Ein Korb mit schönen, auserlesenen Früchten war auf den Tisch in der Laube gestellt worden. Oliver nahm einen wunderbar rot und grünen Apfel und lief damit zu Bobby. Das Geheul ließ an Höhe und Kraft nach, aber die Schluchzer und die strömenden Tränen versiegten nicht sofort. Tatsächlich war der neue Apfel zu dick für Bobbys Händchen, er konnte ihn nicht recht festhalten. Als Oliver den Kleinen auf den Schoß nahm, um ihn besser trösten zu können, bemerkte er, daß sein eines Beinchen arg zerschunden war und blutete. Nun gehörte Oliver zu den Jungen, die stets volle Taschen haben; die Tiefen seines lose sitzenden Anzugs bargen eine Menge Briefe, Postkarten, Bleistifte, Federn, Bindfaden, Messer und Photographien. Aus diesem Vorratslager zog er jetzt eine dicke Brieftasche heraus, die ein vollständiges Miniaturverbandzeug enthielt. Er war ja gleichzeitig Arzt und Kapitän seiner Rugbymannschaft gewesen und wußte mit nichts so gut umzugehen wie mit Schrammen und Verbänden. Bobbys Wunden wurden also gleich gewaschen, verbunden, desinfiziert und säuberlich mit einem Stück Gaze bedeckt, das fachmännisch mit rosa Pflasterstreifen festgeklebt wurde; und das Kind, das, ohne es recht zu wissen, an vielen halbvergessenen Schmerzen gelitten haben mochte, fühlte eine allgemeine Erleichterung und verhielt sich ruhig. Seine rosige Wange schmiegte sich an Olivers Sporthemd, während seine kleinen Hände den Globus des neuen Apfels an sich preßten, um ihn ganz sicher in Besitz zu nehmen, wie die Brust einer Mutter.

Dieses häusliche Idyll fiel Jim bei seiner Rückkehr sofort ins Auge. »Hallo, ist Bobby dir lästig? Komm jetzt, das Essen wird kalt.« Und er bat das Mädchen, Bobby mit wegzunehmen.

»Ich will aber nicht weg«, sagte Bobby verdrießlich und hielt sich an Oliver fest. »Ich mag dich lieber als Madge und Mammi.« Eine zweite Tragödie drohte hereinzubrechen, aber Rose rief Topsy herbei und rollte eine Apfelsine über den Rasen, damit der Hund und Bobby ihr nachlaufen konnten. Wenn die Apfelsine hübsch weich geworden sei, sagte sie, dürfe Bobby sie auslutschen.

Jim hatte sich vorgenommen, Oliver seine alte Schule in Radley zu zeigen, und so machten sie sich nach dem Essen durch die Felder nach St. Peters College auf. Der Hausvorstand, die Hausmutter und verschiedene Angestellte mußten besucht werden, und man besichtigte altbekannte Plätze, die inzwischen seltsam klein und unbedeutend geworden waren. Auch wollte Jim einen Augenblick in die Kapelle eintreten, wo er, der religiösen Gefühlen nicht unzugänglich war, einst seine ersten mystischen Erlebnisse gehabt hatte; aber der Raum kam ihm nun leer, alltäglich und primitiv vor.

Inzwischen saßen Oliver und Rose auf einem Zaun und schauten friedlich den Knaben zu, die auf der Wiese Kricket spielten. Es war ein hübsches Bild, wie sie in ihren weißen Anzügen über den grünen Spielplatz liefen; aber Oliver verstand die Regeln nicht recht, und die Erklärungen seiner Gefährtin machten die Sache nur verwickelter. Bald wandte sich ihr planloses Geplauder andern Dingen zu.

»Was für ein nettes Kind ist dieser Bobby«, bemerkte Oliver. »Siehst du ihn oft?«

»Nur beim Kinderkirchenfest in Littlemore. Da gehen wir immer alle hin, weil sie da Weihnachten so einen schönen Baum haben, auch ein Krippenspiel und viel schönere Geschenke als in Iffley oder in Sandford. Das veranstaltet alles Lady Gwendolen.«

»Siehst du auch Bobbys Mutter manchmal?«

»O, nein, nie!«

»Warum nicht? Ist sie nicht beliebt?«

»Sie ist doch Wirtin in einem Gasthaus.«

»Gibt es denn nicht auch nette Wirtinnen?«

Rose schwieg. Ihr junger Geist war ganz kategorisch eingestellt; vor irgendwelchen Diskussionen oder Verallgemeinerungen machte er Halt. Sie wollte keine Begründungen hören und glaubte ihnen auch nicht. Die Dinge waren eben einfach so. Wenn andere Leute Gründe angaben, sollte es ihr recht sein. Auch das gehörte dann zu den Tatsachen, die keine Erklärung brauchten und keine zuließen. Sie fand, sie käme recht gut ohne Begründungen aus.

»Aber Bobby selbst magst du doch gern?«

»Ich könnte ihn schon gern haben.«

»Wie meinst du das?«

»Wenn ich ihn mir mit nach Haus nähme und ihn hübsch sauber hielte, daß sein Schürzchen immer richtig umgebunden wäre und sein Bein nicht blutete, dann würde ich ihn ganz gern mögen.«

»Ach so«, fuhr Oliver fort und sein Interesse erwachte. »Du meinst, seine Umgebung ist ungünstig, aber er hat das Zeug zu einem netten Jungen in sich.«

»Ja. Er ist so wie Jim.«

Oliver fragte sich, was das wohl heißen sollte, und auf welche Weise überhaupt ihr Geist arbeite, der in seiner Sprunghaftigkeit und in der Sicherheit seiner Instinkte entschieden etwas Vogelähnliches hatte. Doch schien die Seele dieses jungen Mädchens in ihrer völlig ungetrübten Ruhe ein wenig stumpf. Rose drückte ihre allerpersönlichsten Gefühle in einem Ton aus, als stelle sie fest, daß heute Montag sei, und daß ein Pferd vier Beine habe.

»Meinst du, daß er wie Jim aussieht?«

»Er sieht nicht wie Jim aus, denn er ist erst vier Jahre alt, und Jim ist ein alter Mann.«

Oliver lachte. »Aber Jim ist doch ein junger Mann! Wenn du ihn alt nennst, wie willst du dann deinen Vater nennen?«

Sie lächelte ein wenig, als leuchte ihr das immerhin ein, aber unerschüttert fügte sie hinzu: »Mein Vater zählt nicht mit.«

»Wenn also Jim ein alter Mann ist, wen würdest du denn dann einen jungen Mann nennen?«

»Sie sind ein junger Mann.«

Er lachte wieder und bekam Lust, sie zu küssen, doch unglücklicherweise folgte er dieser ersten Regung nicht, und während er es sich noch überlegte, ging die Gelegenheit vorbei. Aber da Fragen sie gar nicht verlegen zu machen schienen, fuhr er mit seinem Verhör fort.

»Aber wieso kann Bobby wie Jim sein, wenn er ihm nicht ähnlich sieht?«

»Weil er nicht immer nett ist. Manchmal ist er es, manchmal nicht.«

»Jetzt versteh ich dich. Du meinst eine moralische Ähnlichkeit. Aber es tut mir leid, wenn du sagst, daß Jim nicht immer nett ist. Sicherlich ist er doch zu dir immer nett.«

»Na ja. Zu mir ist er vielleicht immer nett. Aber in Wirklichkeit ist er gar nicht immer nett.«

»Wie willst du denn das merken?«

»Natürlich merke ich das. Topsy zum Beispiel ist immer nett zu mir, tut alles, was ich will und ist doch kein wirklich netter Hund; er hat keine Rasse.«

»Mein Gott, ich glaubte, du liebtest Topsy zärtlich! Du spielst doch andauernd mit ihm!«

»Er ist mir lieber als gar nichts, aber ich möchte eigentlich einen wirklich netten Hund haben, so in der Art wie der Lion in Schloß Iffley. Topsy wedelt immer vor mir, aber er ist häßlich.«

»Ich verstehe aber immer noch nicht, wie du bei einem Menschen wie Jim, der stets nett zu dir ist, dahinterkommen kannst, daß er innerlich nicht durch und durch nett ist.«

»Das kann doch jeder sehen.«

»Nun, vollkommen ist natürlich niemand, wenn du das meinst.«

»O, doch. Manche Menschen sind wirklich immer nett, innerlich nett.«

»Dein Vater vielleicht?«

»Ja, der schon. Und Sie!«

»Du lieber Gott! Ich fürchte, das ist ein großer Irrtum von dir.«

»Das ist gar kein Irrtum von mir. Sie sind innerlich gut, genau wie Vater. Sie möchten gern zu allen Leuten nett sein. Aber Sie wissen nicht, wie Sie das machen sollen. Außer bei Bobby«, fügte sie verbessernd hinzu. »Sie verstehen es gut, mit Bobby nett zu sein.«

Es tat Oliver nun doppelt leid, daß er sie nicht geküßt hatte, aber es war kaum der richtige Augenblick, diesen Fehler wieder wettzumachen.

»Vielleicht hast du recht, wenn du sagen willst, daß ich es bloß gut meine, weiter nichts.«

»Nein, noch mehr! Mutter meint es auch gut, und sie ist auch gut zu mir. Aber in Wirklichkeit macht sie doch alles verkehrt.«

»Wie schrecklich, so was zu sagen! Dies ist noch ein schlimmerer Irrtum als der andere. Deine Mutter macht gar nicht alles verkehrt.«

»Doch. Sie müßte ganz anders sein, so wie Lady Gwendolen. Vater ist wirklich besser als Mutter, wenn er auch nicht mal eine anständige Tasse Tee machen kann, und er ist auch wirklich besser als Jim, obgleich er seine Kravatte nicht richtig binden kann, und ich das für ihn tun muß.«

»Du verstehst also genau wie Jim, alles richtig zu machen?«

»Ja.«

»Und wie bist du nun wirklich? Ganz gut oder ganz schlecht oder gemischt wie er?«

»Ich bin nicht gemischt. Und ich bin auch nicht ganz gut oder ganz schlecht. Ich bin gar nichts.«

»Du meinst, du bist neutral, du kümmerst dich um nichts?«

»Ja.«

»Und wenn du mir nun die Kravatte binden würdest und mir beibringen würdest, wie man alles macht – meinst du nicht, du könntest mir dann darüber hinweghelfen, daß ich es bloß gut meine, und könntest selber aus deiner Neutralität herauskommen und wirklich gut werden, so wie dein Vater ist?«

»Vielleicht. Aber ich glaube nicht, daß ich mich ändern kann.«

»Wenn wir nun zum Beispiel verheiratet wären! Wie wäre das?«

»Ich weiß nicht.«

»Würdest du mich überhaupt heiraten mögen?«

»O ja.«

»Gut, dann ist es abgemacht. Wir werden uns heiraten, sobald ich ein alter Mann bin und du eine junge Frau bist. Und da wir verlobt sind, darf ich dich jetzt wohl auch küssen.«

»Natürlich.«

»Und nun wollen wir schnell zu Jim gehen und ihm erzählen, daß wir uns heiraten wollen. Das wird ihm Spaß machen.«

»Es wird ihm gar keinen besonderen Spaß machen, denn er wird es einfach nicht glauben, und auch Vater und Mutter werden es nicht glauben. Besser, Sie erzählen es gar niemandem, denn Sie glauben es ja selber nicht.«

Oliver lachte und küßte sie noch einmal. Es war viel leichter, mit Küssen fortzufahren als damit anzufangen. Er sagte, das sei jetzt ein entzückendes Geheimnis zwischen ihnen; und wenn es ihnen auch fast zu schön vorkäme, um wahr zu sein, und sie es noch nicht ganz glauben könnten, so wollten sie es doch eines Tages ausprobieren und dann herrlich und in Freuden zusammen leben.


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