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6

Auf dem Heimweg nach Iffley stand Oliver am Bug und lernte mit dem Prahm umzugehen; bald verstand er genug davon, um das Steuer und auch die Stangen zu handhaben. Sein Körper war ein sensitives Werkzeug, und sein Geist glich sich dem Rhythmus jeder körperlichen Bewegung schnell an. So meisterte er die technische Seite des neuen Sportes bald; aber den vollen Zauber dieser friedlichen Art der Fortbewegung oder vielmehr dieses lässigen Dahintreibens empfand er, wenn überhaupt jemals, dann erst viel später. Ein Prahm ist ein schwerfälliges Fahrzeug und doch seltsam empfindlich und gleitfähig, eine viereckige Gondel gleichsam, gemütlich und breit, einem Hausboot ähnlich. Hausboote, Prahme und Gondeln aber stimmten mit Olivers Temperament nicht überein; sie waren für ihn tote Schiffe, unbemastete, faule Fahrzeuge, die sich nur für stille Nebengewässer eigneten; er vermißte an ihnen die abenteuernde Kraft und den standhaften Trotz gegen die Elemente, die dem Segeln und Rudern Glanz und Glorie verleihen. Dennoch gab diese neue Art körperlicher Betätigung seinem Geist Frieden und Gleichgewicht zurück. Der Gedanke ist niemals seines Zusammenhangs mit der Wirklichkeit sicher; Handlungen müssen dazu helfen, die Phantasie unschädlich zu machen und ihren Überschwang zu mäßigen.

Wie Oliver den Prahm fortbewegte, fühlte er, daß die Verzweiflung und das Mißtrauen der letzten Nacht gleich einem abziehenden Sturme von ihm wichen. Ein fast genußreiches Gefühl von Gesundung durchströmte seine Adern, und er fand sein verstehendes Lächeln wieder. Gewiß behielten die Entdeckungen des vorigen Abends ihre düstere Bedeutsamkeit – sie wurden sogar um so unsauberer, je gründlicher man ihnen nachging. Aber was machte das aus? Zeigte die Welt sich dunkler und verwickelter, dann mußte der Geist, der fähig sein sollte, sie zu beherrschen, beständig freier und klarer werden. Und konnten alle Rätsel und Nöte dieser Welt dem Gesang der Lerchen, der frischen Luft, den fruchtbaren Feldern und der Liebe zu Kindern etwas anhaben?

Oliver erinnerte sich jener ersten Nacht auf dem ›Schwarzen Schwan‹, wo dieser gleiche Jim Darnley ihm andere finstere Geheimnisse enthüllt hatte; und seltsamerweise hatte ihn nach dem ersten Schrecken die Erkenntnis nicht mehr aufgeregt, sondern von einem schweren Alpdruck befreit. Er war damals aus einer falschen und unwirklichen Ruhe erwacht und hatte angefangen, mit wahrem Verständnis, Machtbewußtsein und gesunder Selbsterkenntnis zu leben. So könnte es jetzt wieder geschehen. Diese dumpfen grauen Wolken, die beständig seinen Himmel verhängt hatten und sich nun dichter und schwärzer zusammenzogen, würden bald ihre Vergänglichkeit beweisen. Zwischen ihren aufgetürmten Massen konnte er bereits die Flecken des blauen Himmels entdecken. Bevor er die Wahrheit über seinen Vater wußte, hatte er sich nie viel um ihn gekümmert, aber so unangenehm diese Wahrheit auch war, er hatte daraufhin angefangen, Anteil an ihm zu nehmen; statt Scham zu empfinden, war er aufgerüttelt, angespornt und zur Betätigung seines Willens herausgefordert worden. Ja, und in jener Nacht hatte Jim durch seinen vollkommen kameradschaftlichen Ton, seine äußerst freien und rückhaltlosen Bekenntnisse eine segensreiche Revolution in ihm entfesselt und nicht nur den Grundstock zu einer Sympathie und Freundschaft gelegt, wie Oliver sie nie zuvor gekannt hatte, sondern gleichzeitig auch sein armes, kindisches, im Dunkeln tappendes Gewissen beruhigt und aufgehellt.

Nun hatte Jim noch anderes gestanden oder vielmehr halb gestanden, und es waren recht finstere, unglaubliche Sachen gewesen, die Oliver da wider Willen zu hören bekommen hatte; ja, das Schlimmste war vielleicht ungebeichtet geblieben und würde sich später erst herausstellen. Diese neuen Entdeckungen würden ihn freilich wieder leiden machen, wie er schon früher durch Jims niedrige Wesenszüge gelitten hatte, und auch gestern wieder wegen dieses seltsamen Abendessens, bei dem man ihn um so eines gemeinen Zweckes willen warten ließ – wer mochte es übrigens bezahlt haben, Jim oder Mrs. Bowler? Jim, der in manchem fast die Rolle eines Dieners versah – Billets besorgte, nach dem Gepäck sah, Briefe aufgab, Droschken holte und ihm und seinem Vater manche kleine Mühe abnahm – Jim hatte sich bei dieser Gelegenheit ganz wie ein Mann betragen, der einen Knaben zum besten hält. Es war schändlich; und dennoch fühlte sich der tugendhafte, stolze Oliver dadurch keineswegs erkältet, sondern nur um so schmerzlicher angezogen, um so unlöslicher gebunden. Es wäre ihm entsetzlich gewesen, wenn sein mißleiteter Freund in irgend eine Klemme geraten wäre, aus der es keinen Ausweg mehr gab; das war kein Grund, ihn fallen zu lassen; ganz im Gegenteil.

Wenn Menschen alles voneinander wüßten, restlos alles – würden sie dann einander mehr lieben oder weniger? Mehr, glaubte Oliver, und deswegen war auch das Leben in dieser Welt, wo jeder vor dem andern sein wahres Verhalten und seine echten Gefühle verbarg, so unbehaglich und abscheulich. Mr. Darnley könnte als Geistlicher dazu bemerken, daß niemand uns mehr liebt als Gott, der doch alle unsere Fehler kennt. Das hieß ja nicht, daß unsere Fehler damit aufhörten, Fehler zu sein; oder daß Gott uns ihrethalben nicht bestrafen und in die Hölle schicken würde – letzteres war natürlich nur eine bildliche Redeweise, die besagte, daß diese Fehler in unser Leben selbst die Hölle brächten. Wenn wir alles voneinander wüßten, wären wir wahrscheinlich viel trauriger, viel verstörter und verlassener; wir würden erkennen, wie wenig die Menschen uns verstehen, die uns lieben, und wie sehr die Menschen, die wir lieben, uns verachten. Und doch wären wir dann ausgesöhnt mit unserer verschwendeten Liebe und ihrer einseitigen Feindseligkeit. Wir würden alle Menschen lieben und allen Menschen verzeihen, wie wir uns selbst lieben und uns verzeihen; denn wir verständen ja in aller Kreatur den unwiderstehlichen Hang zum Bösen selbst da, wo er den andern oder uns selbst verhängnisvoll würde.

So versuchte unser junger Moralist, sein verwundetes Gewissen mit dem Balsam des Pantheismus zu heilen und die Schattenseite des Lebens mit dem Sonnenschein der Natur zu vergolden. Und dafür nahm dies Gewissen im gleichen Augenblick seine grausame Rache. Man konnte Jim nicht verstoßen, obgleich er einem wie ein Mühlstein um den Hals hing. Man mußte ihn dulden, ihm helfen und verzeihen bis zum bitteren Ende; und so verwandelte sich die glühende Freundschaft, die zuerst Zuflucht vor der Sklaverei der Moral geboten und unendliches Glück versprochen hatte, nun ihrerseits in eine neue zwangvolle Fessel, eine neue drückende Pflicht. Wo blieb nun jene unbegrenzte Freiheit? Wo war der junge, furchtlose, erfahrene, herrische Führer? Alles zerstoben, alles nur Illusion!

»Sonderbar«, dachte Peter Alden, »daß die Jungen so bald von Oxford genug hatten. Wahrscheinlich liegt das an den großen Ferien. Der ganze Ort wimmelt jetzt von Ausländern und Touristen und gottverlassenen Pädagogen männlichen und vor allem weiblichen Geschlechts, die sich dort versammeln, um einander die Tiefen ihres Unterbewußtseins zu enthüllen. Und doch hätte ich gedacht, es würde Jim, solange er Geld in der Tasche hat, Spaß machen, sich im Mitre-Hotel umherzutreiben, nach Woodstock zu kutschieren, mit dem Prahm auf dem Cher zu fahren, auf dem Isis zu rudern und sein höheres Ich zu kultivieren, indem er sich an regnerischen Nachmittagen auf den Chor der Kathedrale setzt, während die Choräle den Raum durchschwingen und die Abendschatten die modernen Glasfenster mildernd verschönen. Aber nein: er brannte vor Ungeduld, nach Marseille zurückzufahren und die Jacht zu inspizieren, die doch gut aufgehoben und versorgt ist. Wahrscheinlich macht ihn das neue Besitzergefühl so eifrig. Er fürchtet, die Ratten könnten in den Schiffsraum kommen, wenn er nicht auf dem Deck auf und ab stampft und in die Kabinen schaut. Armer, guter Jim! Ich habe ihn immer ebensosehr wegen seiner Schwächen geliebt – gerade sie verbanden uns miteinander – als wegen seiner Vorzüge; beides ist so reich in ihm vertreten.

Ich begreife schließlich, daß Oliver sich in Oxford langweilt. Man darf ihm nicht zumuten, in den inneren Geist einer Sache durch äußere Besichtigung einzudringen. Der Turm von Magdalen oder Peckwater Quad oder die Gartenseite von St. John bedeuten ihm nicht mehr als eine Ansichtskarte. Er begeisterte sich sofort für die Jacht, weil er mitsegelte; er begeisterte sich für Lord Jim, weil der sich ganz vor ihm aufschloß und unwiderstehlich seine Sympathie für alle seine kleinen Sorgen und Freuden in Anspruch nahm. Oliver muß auf dem Weg moralischer Anteilnahme stets zuerst in das innere Wesen eines Gegenstandes eindringen; dann gewinnt vielleicht auch die äußere Form Bedeutung für ihn. Wenn er in Oxford während des Semesters in einem College leben könnte, würden ihm die Augen dafür vielleicht aufgehen. Jim ist nicht der Führer, der ihm die Atmosphäre der Stadt vermitteln könnte, er ist geistig nicht kultiviert genug, versteht nichts von hingebungsvoller Gelehrsamkeit oder von Universitätssitten; er bewundert in Oxford nur die eleganten Boote, die schönen Anzüge und den Bullingdon Klub. Ich hätte vielleicht selbst mit hinkommen und dem Jungen einiges zeigen sollen; aber ist es schließlich so wichtig, daß er dafür Verständnis gewinnt? Ist es überhaupt der Mühe wert, und hat es für ihn einen höheren Zweck?

Wenn die Natur etwas dem Untergang weiht – und beständig ist sie ja in aller Stille dabei, irgend etwas abzubauen – so muß man es vielleicht als gütigstes Zeichen ihrer Fürsorge ansehen, daß sie gleichzeitig oder doch wenig später auch das Andenken daran verschwinden läßt. Sonst wäre das Leben nichts anderes, als was es für meinen Bruder Nathaniel ist: eine Folge von Begräbnissen. Siehe England! England stirbt andauernd einen gelinden, heiteren Tod, der Scharfrichter erscheint hier im Gefolge der jeweiligen Regierung. Das katholische England, das ein Teil Europas war, starb mit der Reformation. Das romantische England starb mit den Stuarts. Das handeltreibende, seemännische, protestantische England starb kürzlich mit der Königin Viktoria. Und doch bleibt immer irgend etwas am Leben – etwas weniger Wertvolles, aber für den Augenblick Lebensfähiges. Jetzt wird vielleicht ein anderes England kommen, das nur noch ein Teil von Amerika ist. Warum soll man also törichte Erinnerungen wie ein Bleigewicht mit sich schleppen? Laßt die Toten ihre Toten begraben!«

Diese Gedanken stimmten Peter um so melancholischer, je mehr er einsah, daß sie vernünftig waren; und als er sie wieder einmal erwog, während er sich in London mit dem jungen Oliver abgab, fühlte er den Antrieb, in genau entgegengesetzter Richtung zu handeln. Er entschloß sich zu einem letzten Versuch, seinem Sohn den Zauber Englands zu vermitteln, jenes Englands, das im Begriff war, abzusterben. Sollte er alte Freunde aufsuchen und sie um eine Einladung auf einen der großen Landsitze bitten? Nein, das wäre viel zu beschwerlich; ihm selbst würde der Besuch keinen Spaß machen, und vielleicht bekäme er die Einladung nicht einmal. Die Kathedralen und Schottland und die gewöhnlich von Reisenden besuchten Plätze würden ebenso wirkungslos bleiben wie Oxford. Oliver war für einen Touristen allzu anspruchsvoll. Wenn aber auch jetzt, Anfang Juli, die Colleges geschlossen hatten, so waren doch die Schulen noch in vollem Betrieb. War nicht Mario, Harold van de Weyers kleiner Sohn, gerade in Eton? Ein guter Gedanke! Dort konnten sie für einen Tag hinfahren, ohne ihr Quartier in der Jermyn Street aufzugeben, und Oliver würde das Erlebnis haben, einen ausländischen Vetter kennenzulernen und ein bißchen in eine der berühmten englischen Schulen hineinzugucken.

Ein selbstbewußter junger Gentleman mit noch kindlichem Gesicht und erst seit kurzem mit dem ›Schwalbenschwanz‹ befiedert empfing sie ein paar Tage später auf dem Bahnhof in Windsor, aufmerksam, aber vollkommen ruhig, als könne er unbegrenzt abwarten, wie es den Ereignissen beliebte, sich zu entfalten. Tauchten seine amerikanischen Verwandten auf, gut, dann waren sie da; kamen sie nicht, was machte es aus?

Den nicht ganz glattgebürsteten Zylinderhut schief und gemütlich ein wenig im Nacken, die Hände tief in den Hosentaschen, die frischen Lippen halb zum Lächeln geöffnet, das feine Näschen hoch in der Luft, so stand er da. Er blickte über das Getriebe auf dem Bahnsteig hinweg, als sei es gar nicht vorhanden, und als habe man soeben für die Begrüßungsszene, an der er teilnehmen sollte, einen Teppich ausgebreitet. Der Zufall mochte eine beliebige Karte ausspielen, er, Mario, hatte sicher immer noch einen Trumpf darauf. Wären plötzlich die Posaunen des Jüngsten Gerichts erschollen, so hätte er kaum geblinzelt, sondern nur in aller Ruhe die Hände aus den Taschen gezogen, den Hut abgesetzt und gesagt: »Hallo, nun ist also der so oft angekündigte Jüngste Tag doch noch zustande gekommen. Da darf man sich wohl eine ungewöhnlich großartige Veranstaltung versprechen! Einfach famos! Und was für ein köstlicher Reinfall für alle die kleinen Schulmeister, die so fleißig an der Verbesserung der Welt gearbeitet haben, gerade ehe sie nun in Atome zerplatzen soll, und der liebe Gott in einer Wolke herniederfährt und spricht: ›Gebt euch weiter keine Mühe. Ich habe mich entschlossen, den ganzen Laden zu schließen und werde euch euren Lohn auf Heller und Pfennig auszahlen.‹ Da wird ihnen vielleicht übel zumute! Mir nicht: ich habe niemals irgendwas Besonderes getan, sondern bin nur wie ein vergnügtes Tierchen herumgelaufen, das mit dem Schwanz wedelt und alle Ecken beschnuppert; und es macht für niemanden etwas aus, ob ich am Schluß zu den bösen Böcklein oder zu den braven Lämmlein gezählt werde.«

War auch das für diesen regnerischen Tag angesetzte Ereignis weniger folgenschwer, so begegnete ihm Mario doch nicht weniger schneidig. Ohne einen Augenblick zu zögern, erkannte er unter den aussteigenden Reisenden die richtigen. Rasch, aber ohne Hast trat er auf sie zu – ein noch unausgewachsener, langbeiniger Junge – lüftete den Hut und sagte mit fragendem Lächeln: »Onkel Peter?«, dann setzte er den Hut wieder auf, lächelte noch vergnügter und fügte hinzu: »Und Oliver? Ich bin also Vanny – das heißt: Mario; es ist doch zu blöd, zwei Namen und zwei Sprachen zu haben. Wie geht es euch? Euer Zug hat ein bißchen Verspätung, sonst hätte ich euch wohl verfehlt. Ich hab einige Schwierigkeiten gehabt, für den Nachmittag freizubekommen: ›Großonkel aus Amerika‹, hab ich gesagt, ›gewissermaßen mein Vormund; hochvornehmer Mann und so weiter.‹ Furchtbar nett von euch, mich zum Lunch einzuladen! Der ›Weiße Hirsch‹ ist gerade um die Ecke. Wenn's euch recht ist, essen wir erst und schauen nachher alles an; und später, hoffe ich, werdet ihr bei mir auf meinem Zimmer Tee trinken. Es ist ein ziemliches Loch, aber Mr. Rawdon-Smith, unser Hausvorstand, läßt sagen, es täte ihm schrecklich leid, er hätte um fünf eine Besprechung in seinem Arbeitszimmer und könnte euch daher nicht selbst zum Tee bitten. Er will versuchen, vorher noch mal hereinzuschauen, um euch kennenzulernen und euch zu erzählen, was für ein braver Junge ich bin. Das bin ich auch wirklich, wißt ihr, wenn man meine Herkunft bedenkt. Ich bin doch halb Italiener und halb Amerikaner, und daher müßte ich eigentlich ein halber neapolitanischer Bettelknabe sein, der auf der Türschwelle sitzt und die Flöhe von seinen Lumpen sucht, und ein halber Cowboy, der seinen Kautabak in die Stube spuckt; ich sage Mr. Rawdon-Smith ja auch immer, er könne nicht erwarten, daß ich mich so richtig wie ein reiner Nordländer und echter blaublütiger Brite benähme. Warum bin ich überhaupt für Eton angemeldet worden? Der Teufel soll mich holen, wenn ich's weiß!«

Der Junge war so vorzüglich gekleidet, war so lustig, so unbekümmert, so unschuldig übersprudelnd, daß er Oliver schon beinahe nicht mehr menschlich vorkam: er erschien ihm eher wie eine kleine chinesische Figur aus Elfenbein, die plötzlich lebendig geworden ist, zu tanzen anfängt, alle möglichen Dichter zitiert, und die ganze komische wirkliche Welt auslacht.

»Daß du nach Eton kamst, war der Wille deines Vaters«, erwiderte Peter. »Sein Herz hing daran; du solltest als englischer Gentleman erzogen werden. Er zwang deiner Mutter trotz ihrer Religion und deiner Großmutter trotz der damit verbundenen Ausgaben dies Versprechen ab; und er setzte alle seine englischen Bekannten in Bewegung, um die Sache möglich zu machen. Es war gar nicht so leicht. Selbstverständlich sind ihnen hier Außenseiter unerwünscht.«

»Das macht aber gerade Spaß«, lachte Mario vergnügt. »Es ist wunderbar, wie sie manchmal zusammenzucken. Ich lese immer mein Geschichtspensum in einem französischen Buch nach, und dann erkläre ich dem Lehrer, das, was in unserem Schulbuch steht, sei nur die englische Auffassung der Sache und nicht allgemein anerkannt. Das ärgert ihn. Auch macht es die Leute hier ganz nervös, daß ich katholisch bin, obgleich ich es nie mit einem Wort erwähne. Da sind ihnen Juden fast noch lieber. Juden, weißt du, können sie bekehren; aber sie wissen, daß sie selbst katholisch werden müßten, wenn sie nur die Augen auftäten – wenigstens diejenigen von ihnen, die überhaupt etwas glauben.«

»Ja,« lächelte Peter, »und was würde dann aus dem englischen Gentleman? Der käme ins Pfandhaus wie der ›Kavalier‹. Der englische Gentleman muß stets tief religiös sein und darf seinen Glauben nicht dadurch profanieren, daß er viel Wesens aus ihm macht. Trotzdem ist seine Religion kein nutzloser Besitz! Sie bewahrt ihn davor, daß er Dinge anerkennen muß, die er nicht leiden kann.«

»So, als ob er einfach keinen Spinat möchte!« platzte Mario heraus.

»Genau so; und der Spinat ist in diesem Fall der Papst. Wie geht es aber nun mit deinen Studien?«

»O, Latein ist nichts Besonderes, bloß altes Italienisch – das heißt: wenn sie es nur richtig aussprächen! – und lateinische Verse zusammenstellen, das ist ganz unterhaltend, wie Rätsellösen; und Französisch brauch ich natürlich nicht mitzumachen. Aber Griechisch ist langweilig, Mathematik auch, und darin bin ich auch schlecht. Schließlich wird hier doch der meiste Wert auf Sport gelegt. Da halte ich mich ans Wasser. Rudern ist zwar mühsamer als Kricket, wenn es sich um Rennen handelt; aber es ist meistens lustiger, nicht so stumpfsinnig. Man spielt eigentlich nicht gegen jemanden. Man tut nur, was einem Spaß macht; und es ist herrlich, so über das Wasser zu flitzen.«

»Das finden Oliver und ich auch. Ihm ist auch Rudern am liebsten, wenn er frei wählen kann; aber im Interesse seiner Schule hat er Rugby gespielt. Voriges Jahr war er Kapitän der Mannschaft.«

»O, wirklich«, murmelte der junge Etonschüler und sah seinen transatlantischen Vetter mit neuen Augen an. »Natürlich, das kann ich mir denken, wie famos! Auch wir müssen im Herbst Rugby spielen. Eine scheußliche Sache: für die meisten von uns nichts als eine schmutzige Balgerei wie unter kleinen Jungen, aber es ist bald überstanden, weil es nur ein Trimester dauert; ich versuche, nicht daran zu denken. Im Frühling braucht man sich nicht so zu quälen; da gibt's nur Leichtathletik und Fünferball. Fünferball mag ich ganz gern – es ist fast wie Hallentennis, nicht wahr? – und dieses Jahr bekam ich Engleford als Partner, einen Freund von mir, der ganz groß darin ist; ich gab mir so riesige Mühe dabei, daß es mir gerade glückte, ihn nicht um den Sieg zu bringen. Natürlich möchte ich furchtbar gern reiten und fechten; vielleicht fechte ich hier nächstes Jahr ein bißchen, und dann reite und fechte ich ja auch in den Ferien, wenn ich in Paris chez ma mère bin.«

Mario richtete seine Worte ausdrücklich an Onkel Peter, der wohlwollend und lächelnd zuhörte. Alles plätscherte mit einem Akzent und in einer Mundart dahin, die Oliver vorher nicht gekannt hatte und wie eine reizende Vogelsprache empfand. Er konnte es gar nicht begreifen, daß ein Junge, der noch längst nicht so alt war wie er – tatsächlich fast zwei Jahre jünger – eine so flüssige Unterhaltung mit einem älteren Verwandten ganz gleichmütig und natürlich, mit dem ruhigen, leichten Lächeln höflicher Ehrerbietung, führen konnte. Die Jungen, die er kannte, redeten Respektspersonen nur an, wenn sie um etwas bitten oder sich über etwas beschweren wollten. Sie waren nur fähig, mit Gleichaltrigen zu schwätzen und zu albern, indem sie einander fortwährend foppten und neckten, und wenn man sie bei einer seltenen Gelegenheit mit ihren Eltern gehen sah, beherrschten sie nicht wie Mario die Situation und standen in keiner harmonischen Beziehung zu ihrer Begleitung, sondern trotteten schweigend und völlig mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt ihres Weges, wie Hunde an der Leine.

Die mutwillige Heiterkeit dieses hübschen Jungen, dessen Worte wie Honig waren, und der über seine eigenen Sorgen und über die ganze Welt lachte, lag völlig jenseits der menschlichen Natur, so wie Oliver sie kannte. Mario kam ihm eher vor wie ein junger Prinz aus Tausendundeiner Nacht, der so viele Jahre zählte wie der Mond Tage, und der seine unbezähmbaren Gefühle mit den Worten der Dichter ausdrückte; oder er glich dem Cherubino der Mademoiselle Favart in der Oper, unter dessen sanftem Äußeren ein mühsam gebändigtes Temperament brannte. Dabei ließ sich nicht leicht ein männlicheres, ja verwegeneres Wesen denken als dieses wohlberedte Bürschlein. Wäre Mario statt in Zylinderhut, Frack und tadellos frischer weißer Krawatte in Seide und Spitzen und mit wallenden blonden Locken dahergekommen, so hätte der Harnisch makellosen Mutes nicht schimmernder auf seiner Brust und der Degenknopf nicht blitzender in seiner Hand erglänzen können. Wenn der Junge aber Oliver einerseits phantastisch und überfeinert vorkam, so witterte er in ihm andererseits doch etwas Beunruhigendes, ja, seltsam Erschreckendes. Dieser Knallbonbon war vielleicht mit Dynamit gefüllt.

Obwohl Vanny eigentlich noch kein Wort an seinen Vetter gerichtet hatte, ließ er ihn nicht unbeachtet. Mit einem gelegentlichen Seitenblick suchte er einen Eindruck von ihm zu gewinnen. Mario war sich seiner eigenen Wirkung auf Menschen bewußt und hatte Freude daran, sie zu erproben. Er war herausfordernd eitel, aber diese Eitelkeit bezog sich nicht in der üblichen Art auf äußere Vorzüge oder gute Kleider, die für ihn zu den Selbstverständlichkeiten gehörten, sondern auf den erregenden Besitz der Macht. Ein Zweikampf hatte begonnen. Jeder der Knaben reagierte seinem Temperament entsprechend auf die Anwesenheit und den Geist des andern.

Oliver, der während der ganzen Zeit kein Wort zur Unterhaltung beigetragen hatte, kam sich passiv, langweilig und ausgeschlossen vor. Wie konnten sein Vater und dieses junge Männlein einen solchen Redestrom, ein solches Ping-Pong in Worten bewältigen, als hätten sie einander ihr ganzes Leben gekannt und wären gleichaltrig? Und warum fühlte sich Oliver bei alledem minderwertig, da ihm doch sein Selbstbewußtsein versicherte, daß seine Mängel sich nur auf Nichtigkeiten und einen unechten Schliff erstreckten, der in Wirklichkeit zu tadeln war? In allem Wesentlichen hielt er doch seine eigene Art für überlegen und richtig! Er erinnerte sich, daß seine Mutter einmal gesagt hatte, wie verkehrt es von den van de Weyers sei, diesen jungen Mario wie einen Ausländer erziehen zu lassen. Er werde auf diese Weise weder in der Heimat, noch im Ausland etwas taugen. Und doch fragte sich Oliver gleichzeitig: Zu was soll ich eigentlich taugen? Ich gäbe etwas darum, es zu wissen. Dieser vermögenslose, verwaiste Junge segelt elegant auf hoher See dahin, während ich mich schwerfällig wie ein alter Kahn in irgend einem Mühlgraben umhertreibe.

Dabei lag jeder Vorteil auf Olivers Seite: er war der ältere, besaß Geld, gestählte Körperkraft, gediegene Bildung, einen erprobten Charakter und den Willen zum Guten. Ja, hätte er sich in einem ungetrübten Spiegel sehen können, so wäre er sich mit Recht sogar hübscher, hochgewachsener, kraftvoller als Mario vorgekommen, hätte in seinem Lächeln einen offeneren, edleren Zug entdeckt. Aber hatte das alles Sinn? Da kam dieser kleine Kerl von einem Mario wie ein Sonnenstrahl auf ihn zu, wie ein prächtig gekleideter Engel Gabriel aus einem alten Meisterbild, ein junger Page des himmlischen Hofstaates, der von Regenbogenflügeln emporgetragen wird und kaum den Boden berührt, wenn er ritterlich das Knie beugt, um sich seiner diplomatischen Botschaft mit vollendeter Eleganz und einem ganz kleinen Anflug von Spitzbüberei im Blick zu entledigen; oder wie ein Bacchusknabe, der auf der Verfolgung der Ariadne vom Wagen springt, umgeben von Satyrn und Leoparden, die seine Füße umschmeicheln, als habe er die Zauberkünste des Orpheus geborgt. Und er, Oliver, stand blaß und mit gehemmter Zunge daneben, dumm und steif wie ein langweiliges Modell, ein akademischer heiliger Sebastian, dem man Hand und Fuß gebunden hat, um ihn unverantwortlicherweise zur Zielscheibe von tausend Pfeilen zu machen.

Vannys stille Anmerkungen besagten dagegen: »Auffallend gut sieht er aus. Stark, aber empfindsam. Für einen Amerikaner sehr zivilisiert. Wortkarg und wahrscheinlich gescheit. Ich glaube, er gefällt mir.«


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