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5

Während der nächsten zwei Jahre blühte Peter entschieden auf. Er besuchte die Schule in Exeter, das College in Harvard und verbrachte die Ferien stets im Hause seiner eleganten Schwester, wo er sich ein wenig scheu, aber aufmerksam benahm, mit ihren kleinen Kindern spielte und ihren Gästen gegenüber von humorvoller Höflichkeit war. Viel zu arbeiten brauchte er nicht; er war begabt genug, um das vorgeschriebene Pensum mit einem Mindestmaß von Anstrengung zu bewältigen; aber er beteiligte sich an den Theateraufführungen der Schule, schrieb für die Collegezeitung, galt in seiner Klasse als genialer Spötter und spielte sogar ein wenig Baseball. Seine schlaffe Gestalt straffte sich, und sein blasses Gesicht mit den unregelmäßigen Zügen bekam einen angenehmen Ausdruck. Zu seiner geradezu ungläubigen Überraschung schienen ihn alle Leute gern zu haben. Auch er begann, Zuneigungen zu fassen; nicht so sehr zu Menschen – diese behandelte er mit undurchdringlichem, nachsichtigem Humor – als zu Büchern und zur Natur. Er machte lange, einsame Spaziergänge; er las Thackeray, Montaigne, Don Quichote.

In seinem ersten Universitätsjahr geriet er in die Gesellschaft jener frühreifen Schlingel, die in den vordersten Reihen der Operettentheater und hinter den Kulissen zu Hause sind; aber diese Vergnügungen machten ihn melancholisch, und unter dem Einfluß des Alkohols zog er dann wohl einen Freund zur Seite und vertraute ihm an, es sei sein einziger wahrer Wunsch, schmerzlos in die Nacht zu versinken, und er sehne sich mehr als je nach dem Tode. Wenn er dann am nächsten Morgen etwas angegriffen und bleich erwachte, entfloh er aufs Land, zog sich mit seinem Kanu auf ein gemächliches Flüßchen oder einen einsamen See zurück und fühlte sich im Innersten als zweiter Thoreau. So hätte er sich sentimental und ohne rechten Lebensinhalt weiter durch die Jugendjahre treiben lassen, wenn nicht ein verhängnisvoller Zufall in sein Dasein eingegriffen hätte.

Es gab in Harvard eine geheime Gesellschaft, zu der man gehören mußte, wenn man mitzählen wollte. Die Riten der Einweihung waren langwierig und möglichst grausig und wurden meist mit irgend einem Streich auf Kosten der Öffentlichkeit beschlossen. Als Aufnahmebedingung wurde Peter die Aufgabe gestellt, zur Nachtzeit in die Kapelle einzubrechen und die College-Bibel zu entwenden. Zu der hochgelegenen Kanzel, wo das heilige Buch auf einem roten Samtkissen ruhte, führten von zwei Seiten her steile Treppen mit Messinggeländern. Im Dunkeln hatte sich Peter bis zum Gipfel emporgetastet und den schweren Band schon mit beiden Händen ergriffen, als warnende Rufe seiner Freunde und Peiniger, die draußen Wache standen, ihm meldeten, daß Gefahr im Anzug sei. Er lauschte, sie schienen in wilder Flucht davonzustürzen; man ließ ihn im Stich. Sollte er sich nun nicht weiter um die Bibel kümmern und lieber zu entkommen suchen, oder sollte er sie mitnehmen, um sie verabredungsgemäß im Keller zu verstecken?

In diesem Augenblick fühlte er eine rauhe Hand, die nach ihm griff; und instinktiv schmetterte er die Heilige Schrift mit ihrem ganzen schweren Gewicht auf den Kopf des Angreifers. Die Hand ließ von ihm ab; es regte sich etwas, ein dumpfer Fall dröhnte auf den teppichbelegten Stufen, dann völlige Stille! Peter legte das Buch wieder auf das Kissen, fand unbehindert den Weg über die Treppe an der entgegengesetzten Seite zurück und kletterte aus dem offenen Fenster, durch das er hereingekommen war. Draußen in der kalten Winternacht schien die Luft rein; er ging nach Hause und zu Bett.

Die nächsten Tage waren erfüllt von Vorladungen, Verhören und geheimen Verhandlungen. Mr. Nathaniel Alden sah sich wieder einmal genötigt, Mr. Head, Dr. Hand und den Reverend Mr. Hart zu Rate zu ziehen. Sogar Mr. Erasmus van de Weyer erschien auf der Bildfläche; er machte die lange Reise von New York nach Boston, um Peter beizustehen und in den maßgebenden Kreisen zum Guten zu reden; denn auch er hatte in Harvard studiert und der geheimen Gesellschaft angehört; die Mitglieder des Stadtrats glücklicherweise auch. Schließlich wurde bei der gerichtlichen Untersuchung erklärt, der Nachtwächter, der nicht der städtischen Polizei angehört hatte, sei durch einen Unfall ums Leben gekommen. Nach Ansicht der Ärzte war es kein Schlag mit einem flachen, glatten Gegenstand, etwa einem Buch, gewesen, der das Unglück herbeigeführt und dem Manne das Genick gebrochen hatte, sondern ein zufälliger Sturz gegen die scharfe Kante des Messinggeländers. Für Peters Tat lag kein Beweis vor, außer seinem eigenen Geständnis, das von den Rechtsanwälten so weit wie möglich abgeschwächt wurde. Natürlich war es für die Mitglieder der geheimen Gesellschaft Ehrensache, sich nicht daran zu erinnern, wer den verhängnisvollen Auftrag, in die Kapelle zu gehen, erhalten oder gegeben hatte. Für einige Jahre wurde dieser Teil der Einweihung abgeschafft; die Witwe des Nachtwächters erhielt auf anonymem Wege eine Entschädigungssumme, und da manches wahre oder falsche Gerücht über das Ereignis umlief, schien es ratsam, Peter eine Zeitlang vom College und aus dem Lande verschwinden zu lassen. Ein Privatlehrer wurde ausfindig gemacht, der ihn ins Ausland begleitete; und auf dem ersten Schiff der Cunard-Linie, das von Boston abfuhr, der bescheidenen, nur 3000 Tonnen fassenden Samaria, machte sich der niedergeschlagene junge Mann so heimlich wie ein Verbrecher davon; es begann für ihn eine lange Wanderzeit.

Wenige Monate später wurde er einundzwanzig Jahre alt und erhielt freie Verfügung über sein Vermögen. Der Reichtum richtete ihn nicht zugrunde. Für ihn hatte Geld nur den einen Reiz, daß es ihm Freiheit verschaffte; denn noch mehr als die Armut haßte er den Zwang, der das konventionelle Leben eines reichen Mannes einengte: die Feierlichkeit des Geschäftslebens, die Feierlichkeit der Gesellschaft, die Feierlichkeit öffentlicher Reden und die schwere goldene Uhrkette, die als Girlande auf den dicken Bäuchen der Besitzenden schaukelte. Seine Natur trieb ihn, zu wandern, zu beobachten und unverbindliche kleine Abenteuer und Zufallsbekanntschaften zu suchen.

Doch wie ließ sich ein so müßiges Leben rechtfertigen? Seine Freiheit hing immerhin an der langen Kette eines schlechten Gewissens. Vergeblich hielt er sich zur Entschuldigung vor, daß seine Gesundheit schwach sei; vergeblich hätschelte er diese Schwächlichkeit; vergeblich machte er den Versuch, der heiligen Sache der Wissenschaft als Forscher oder Sammler zu dienen. Er konnte nur erforschen, was andere schon zuvor entdeckt hatten, und nur sammeln, was sie weggeworfen hatten. In seiner Bescheidenheit lag es ihm fern, Nichtigkeiten aufzubauschen, wie das so viele Reisebücher tun; aber die Nebenumstände einer Unternehmung interessierten ihn mehr als ihr eigentlicher Zweck. Körperlich träge und geistig rastlos, lebte er gleichgültig dahin, wurde schal, bevor er zur Reife kam, wußte von allem etwas und beherrschte nichts von Grund auf.

Soweit seine Bostoner Bekannten und Verwandten überhaupt noch an ihn dachten, waren sie einstimmig der Ansicht, daß es ein böses Ende mit ihm genommen habe. Ein Umstand nur bewahrte ihn vor völliger Verdammung: trotz seines Lebens in fernen Ländern und seiner ehrgeizigen Reisen verbrauchte er nur einen Bruchteil seines Einkommens. Er wurde reicher und reicher; und deshalb fühlte sich sein Bruder Nathaniel, wenn auch Grabesschweigen zwischen ihnen herrschte, doch zuweilen ein wenig mit ihm ausgesöhnt. Sogar die müßiggängerischen Reichen waren nützliche Mitglieder der Gesellschaft, wenn sie Geld sparten. Sie stellten den Kamelhöcker im Gemeinwesen dar; ihre Bestimmung war es, die Verschwendung einer kostspieligen Demokratie wieder auszugleichen. Dieser öffentliche Nutzen konnte mit der Zeit sogar einem solchen Faulenzer seine Selbstachtung wieder zurückgeben; und selbst ein recht windiger Bursche konnte zum Schluß den sicheren Hafen erreichen, wenn er goldenen Ballast hatte.

Manchmal bei Tisch, wenn ein Lieblingsgericht, eine Börsenhausse oder eine gründliche Niederlage der demokratischen Partei Nathaniels Gesicht in unterdrückter Befriedigung erglänzen ließ, griff Kusine Hannah vorsichtig das gefährliche Thema auf und sagte etwa: »In dieser Woche bekam ich einen Brief von Peter. Er ist in Japan.« Und wenn sie dann durch ein lautes, gespielt gleichgültiges »Hm«, das eine natürliche Neugierde verbergen sollte, ermutigt wurde, berichtete sie vielleicht, Peter finde alles in Japan bezaubernd kindlich und auf erlesene Art zweckentsprechend; er wohne in einem Haus, das gänzlich aus Papier bestehe, und kleine Diener seien unter den malerischsten Zeremonien und für die denkbar niedrigste Bezahlung um ihn bemüht. Den halben Tag verbringe er gemächlich bei einem heißen Bade draußen im Freien, den andern halben Tag mit Malstunden oder mit dem Einkauf von Raritäten für seine Sammlungen. Ja, er sei jetzt auch – und Kusine Hannah senkte die Stimme, zögerte und errötete ein wenig – er sei verheiratet, auf Zeit verheiratet mit einer kleinen japanischen Dame, sogar unter Zustimmung ihrer Eltern.

»Hm«, brummte Nathaniel nochmals. »Menschen ohne Grundsätze vergessen immer, daß sie mit solchen Sachen nicht nur sich selbst in Schwierigkeiten stürzen. Angenommen, es ginge ein Kind aus dieser Verbindung hervor – ein farbiges Kind! Könnte Peter es mit Anstand im Stiche lassen? Könnten wir es mit Anstand anerkennen? Und wo sollte solch ein uneheliches Wurm in der Welt seinen Platz finden? Hast du mich nicht oft, als Peter noch ein kleiner Junge war, zu ihm sagen hören, daß krumme Wege immer länger sind als gerade Wege, und daß alles Umherwandern im körperlichen wie im moralischen und etymologischen Sinne auf Irrtum beruht? Er mag es jetzt ganz schön finden, ein Planet zu sein; aber ein Planet leuchtet niemals aus eigener Kraft; und das Licht, das er überhaupt zurückwerfen kann, ist nur gering und schwach.«

»Aber die Venus, Vetter Nathaniel – der Abendstern – ist doch wunderschön?«

»Hm«, wiederholte er, »jeder Vergleich hinkt. Peter war niemals schön; warte nur, wie er aussehen wird, wenn er wieder nach Hause kommt – wahrscheinlich wie eine Ruine!«

Ein halbes oder ein ganzes Jahr mochte vergangen sein, als Kusine Hannah wieder einmal in einem geeigneten Augenblick sagte:

»Ich habe neue Nachrichten von Peter. Er hat Japan verlassen; seine Ehe ist ganz friedlich gelöst worden, und seine kleine Frau und ihre Verwandten haben ihn bei seiner Abreise mit Segnungen und vielfachen Kotaus überschüttet. Er ist jetzt in China, hat eine Dschunke gechartert, auf der er die großen Flüsse bis weit ins Innere hinauffahren und dabei doch die ganze Zeit sozusagen in seinem eigenen Haus leben kann. Er studiert ganz ernstlich die Sprache und sagt, daß sie gar nicht so schwer ist, wenn man von der richtigen Seite und ohne unsere Vorurteile an sie herangeht. Übrigens betont er, daß er diesmal keine Frau, sondern nur männliche Diener hat.«

»Auf dem Büro hat man mir schon gesagt, daß er in China ist, auch daß er große Geldsummen abgehoben hat, wohl um diese Kotaus und diese Dschunke zu bezahlen. Hoffen wir, daß er nicht damit untergeht oder ausgeraubt wird oder noch Schlimmeres.«

Kusine Hannah wußte wohl, welches verhängnisvolle Wort er im Sinne hatte – ein Wort, das in diesem Hause jetzt doppelt ängstlich gemieden wurde. Sie beeilte sich, zu etwas Harmlosem und Unwichtigem überzugehen. »Er schreibt außerdem, daß er Elfenbeinschnitzereien sammelt, von denen er die schönsten für das Museum mit nach Hause bringen will. So etwas ist kostspielig.«

»Zweifellos wird er ein Vielfaches ihres eigentlichen Wertes zahlen müssen. Ich weiß, was es heißt, Kunstwerke zu kaufen. Es wäre weit sicherer, Doll & Richards zu bitten, daß sie diese Sachen für ihn von einem Sachverständigen einkaufen lassen.«

»Aber denke doch, was für Vergnügen es machen muß, alles selbst auszusuchen, Vetter Nathaniel! Wahrscheinlich ist Peter allmählich schon ein richtiger Sachverständiger geworden, und er hat doch auch mehr Geschmack als ein Händler.«

»Vielleicht, aber betrügen werden sie ihn trotzdem!«

Die Neuigkeiten, welche die arme Kusine Hannah zu verkünden hatte, waren nicht immer angenehm. Trotz aller Abschwächungen konnte sie die Tatsache nicht ganz verheimlichen, daß Peter häufig krank war; bald hatte er Fieber, bald Dysenterie, oft litt er nur an Rastlosigkeit, Lebensüberdruß und Melancholie. Er war von China nach Indien gegangen und hatte seinen alten Freund aus dem Lager für zurückgebliebene Knaben besucht, der irgendwo als Maharadja Hof hielt; doch der Phonograph und die modernen Möbel aus Tottenham Court Road, die er dort vorfand, hatten seine Träume von orientalischer Schönheit einigermaßen zerstört. Außerdem fand er die Hitze entsetzlich, das Essen unverdaulich, und einzig die Religion – den Islam – ansprechend. Auf der Suche nach einem trockenen Klima, nach einem Leben von ursprünglicher Einfachheit und nach der reinsten Form des Islam war er dann nach Arabien gelangt: er lebte in Muscat, dem angeblich heißesten Ort der Welt, hoch oben in einem großen Backsteinturm; er lernte arabisch, wurde im wahren Glauben unterwiesen, ritt in der Morgen- oder Abenddämmerung durch die endlose Wüste oder glitt in einem Schiff mit rosenfarbenen Segeln über die tanzenden Wellen des Golfs von Oman. Doch alles war vergebens! Der gleiche Überdruß, der gleiche Hunger nach etwas Tröstlichem, der ihn nach diesen Orten getrieben hatte, trieb ihn auch wieder fort.

Jedes dieser Länder hatte für den, der dort zu Hause war, sein Gutes, es konnte ihm das Gefühl geben, wohlbehütet am rechten Platz zu stehen; doch überall litten und klagten die Eingeborenen, überall wurde das herrschende System gehaßt und bedroht, während der einsame Fremdling verdächtig, zweitrangig, nutzlos und lächerlich gefunden wurde. Der Osten hatte uns wirklich wenig zu lehren, was uns nützen konnte, wir aber hatten gar nichts, was wir den Osten lehren konnten, außer Hygiene und Sauberkeit. Alles andere, was wir ihm tatsächlich beibrachten oder womit wir ihn anzustecken suchten – unsere Industrie, Politik, Religion oder Philosophie – wirkte dort grotesk und überflüssig; abgesehen davon, daß diese Errungenschaften ja auch bei uns an der Quelle schon vergiftet und völlig verdorben waren. Und Peter fand die Grundsätze und Bräuche der östlichen Menschen, nachdem einmal die Romantik der Neuheit geschwunden war, unaussprechlich ermüdend und töricht, ausgenommen eines: die Erkenntnis nämlich, daß keine andere Macht ist, außer der Macht des Unerforschlichen, und daß kommen wird, was da kommen muß.

Von Tag zu Tag litt Peter mehr unter Melancholie; jede vorübergehende Erlösung, die er im Reisen, Trinken oder im Gebrauch von Rauschgiften fand, verstärkte nur die trübe Hoffnungslosigkeit des nächsten Anfalls. Er konnte ebensogut nach Hause zurückkehren. Es war für den Leoparden oder die gestreifte Katze sinnlos, die angeborenen Flecken ihres Fells verändern zu wollen oder anderswo als im heimischen Dschungel umherzuschweifen. Wenigstens waren die Krankenhäuser und Irrenanstalten Amerikas die besten der Welt. Er wollte nach Hause gehen und Medizin studieren. Aber das Klima, die Sprache, die Hast, die Heuchelei – würde er jetzt wohl imstande sein, das alles zu ertragen? Der Mut verließ ihn; er trat die Heimreise an, blieb jedoch auf halbem Weg hängen. War nicht schon Europa gewissermaßen die »Heimat«? War nicht das Mittelmeer die Heimat unserer Zivilisation? Und wenn in den nächsten Jahren die Berichte, welche Kusine Hannah Mr. Alden bei seinem Beefsteak mit Kartoffeln überlieferte, weniger romantisch lauteten, so klang doch aus ihnen eine zitternde Hoffnung. Langsam und schicksalgetrieben kehrte der Müßiggänger heim, der Schuldige schickte sich an, zu büßen.

»Ich habe gute Nachrichten von Peter«, sagte die Kusine eines Tages, »er hat sich in Wien niedergelassen und studiert Medizin; er findet dort alles so interessant, fesselnd und gemütlich! Er will sich auf Geisteskrankheiten spezialisieren. Denk nur, wie ihm das nützen wird, wenn er nach Hause kommt.«

»Hm«, erwiderte Nathaniel, indem er sich über das dünne Haar strich, das sich von gelblichem Rot in grünliches Weiß zu verfärben begann. »Es wird nicht so leicht für ihn sein, gegen unsere eigenen Psychiater aufzukommen. Ich habe gerade ein Buch von Dr. Bumstead, dem Leiter der Irrenanstalt in Great Falls, gelesen. Es ist eine Fundgrube reichster Erfahrungen. Wir normalen Menschen ahnen kaum, welche erstaunlichen Abgründe sich in uns auftäten, wenn wir uns gestatten würden, verrückt zu werden.«

»Wirklich?«

»Ja, schlimme Abgründe!«

»Dann«, seufzte Kusine Hannah, sehr abgekühlt in ihrer Begeisterung, »wollen wir hoffen, daß Peter sich einem andern Zweige der Medizin zuwendet. Die Erforschung von Krebs zum Beispiel wäre bitter notwendig.«

»Auch Krebs ist etwas Entsetzliches.«

»Aber doch ganz anders

Und die gute Dame verschob weitere Mitteilungen über Peter bis zu einer günstigeren Gelegenheit. Doch was sie in der Folgezeit an Nachrichten empfing, war selten erfreulich. Es gab lange Pausen des Stillschweigens, wenn Peter krank war oder mit seiner Jacht träge in irgend einem Winkel des Mittelländischen Meeres ankerte. Einmal schrieb er: »Ich bin nun in Nauplia, in der Nähe der Ruinen von Tiryns und Mykene; eine Burg überragt den Hafen an derselben Stelle, wo sich früher die alte Akropolis befand; an der Landspitze liegt Epidaurus, mit dem steilabfallenden Rund des antiken Theaters zwischen den Bergen und dem purpurnen Meer. Wie verloren und verlassen liegt diese einstmalige Größe da! Wie schmutzig sind die Überreste! Die handfesten, blaugestrichenen Fischerboote mit aufgemalten plumpen Ikonen legen knirschend an der steinernen Mole an; vielleicht nicht unähnlich den Schiffen Homers, wenn sie auch nicht völlig ›schwarz‹ sind. Man kann sie sogar ›schnell‹ nennen, denn wenn man darin bei günstigem Wind segelt, rauschen zu beiden Seiten die Wogen in einer geschwinden Melodie vorbei; und für den Dichter ist Schnelligkeit nicht eine Frage von so und so viel Meilen in der Stunde, sondern bedeutet rasches Ergreifen und rasches Fahrenlassen; darüber hinaus aber das Gefühl, widerstandslos und schwankend davongetragen zu werden, mitten durch eine Menge wechselnder Bilder, die nicht neu, aber manchmal schön, noch öfter traurig und immer unwiederbringlich sind.«

Ein, zwei Jahre verstrichen, dann schrieb er aus Paris:

»Ich sitze hier an einem unzulänglichen Holzfeuer, das beständig auszugehen droht. Vergeblich versuche ich, nicht daran zu denken, ob mir warm oder kalt ist, umsonst meine Gedanken dem vor mir liegenden dicken Buch samt seinen medizinischen Wortungeheuern zuzuwenden. Ich sehne mich nach meinem Boot ›Kalypso‹ und nach der südlichen Sonne. Wenn man die Einsamkeit und Disziplin des Lebens auf dem Wasser und die Weite der Wüste gewöhnt ist, bringt es einen zur Verzweiflung, in Häusern mit einem spionierenden Portier und zwei gesprächigen Familien auf jedem der sechs Stockwerke zu wohnen. So vorzüglich Charcots Vorlesungen über Geisteskrankheiten sind, so bleiben mir seine Art und sein Standpunkt doch fremd. Er betrachtet das Gebiet nur als merkwürdigen Teil der Naturgeschichte, nicht als Tragödie verlorener Seelen. Ich werde zu alt, um mich wieder an neue moralische Klimate zu gewöhnen. Nachdem ich mich aber so viele Jahre mit Medizin und Psychologie beschäftigt habe, wäre es schade, wenn ich mein Studium jetzt aufgäbe; ich möchte es doch zu einem offiziellen Abschluß bringen, der mich wenigstens dazu berechtigen würde, mir für mein eigenes Fieber Chinin zu verschreiben. Ja, diesmal komme ich wirklich heim. Beunruhige Dich aber nicht. Ich werde Euch in Beacon Street in Ruhe lassen. Mr. Morgan lebt ja auch bei New York auf seiner Jacht. So gedenke auch ich in Boston oder bei Nahant vor Anker zu liegen und durch pflichttreuen Eifer die Medizinische Fakultät von Harvard dazu zu bewegen, daß sie mich zum Doktor macht.«

Und wie am Spieltisch der rollende Ball zuerst in flottem Tempo ein paarmal um den Außenrand des eingezäunten Kreises läuft, dann langsam seine Schnelligkeit und seinen Mut verliert und nach einigen trügerischen Ruhepausen sich endlich an der vorherbestimmten Stelle niederläßt, so kehrte auch der irrende Peter nach allerlei Schwankungen an die heimischen Gestade zurück, schlug seinen Mantelkragen gegen den eisigen Ostwind in die Höhe, besuchte Autopsien, eilte durch Korridore, in denen es stark nach Desinfektionsmitteln roch, dinierte an freien Abenden im Tavern-Klub mit zwei Musikern, einem Dichter und irgend einem durchreisenden Ausländer und empfing im späten Alter von fünfunddreißig Jahren von seiner alten Alma Mater den Grad, der ihm gestattete, sich im Katalog von Harvard als Dr. Peter Alden eintragen zu lassen. Er war rehabilitiert, neu getauft, fast wieder in Gnaden aufgenommen, und dennoch fühlte er sich nicht zu Hause.

Eine Praxis übte er niemals aus, sondern erprobte nur das irreführende Sprichwort: Arzt, heile dich selbst! Ohne geradezu hypochondrisch zu sein oder die eingebildeten Symptome seltsamer Krankheiten an sich zu entdecken, verschlimmerte er doch seine vorhandenen Schwächen dadurch, daß er sich dauernd mit ihnen beschäftigte. Vorsichtig, aber mit Selbstverständlichkeit verschrieb er sich allerlei Mittel, trank ziemlich viel und verwarf nacheinander verschiedene Ernährungsmethoden als gefährlich. Er experimentierte sogar am eigenen Körper mit Giften und Gegengiften, mit Infektionen und Antitoxinen, halb in wissenschaftlichem Ernst, halb in der müßigen Sehnsucht nach irgend einer neuen Sensation, irgend einem unglaublichen Traum mit überwältigenden, wirklichkeitsnahen und erleuchtenden Visionen, die er später dann um so sarkastischer verspotten konnte.

Um sein Leben sorgte er sich wenig: wenn es ihm ernstlich unerträglich wurde, konnte er ja immer ein Ende machen. Einstweilen fühlte er sich noch einigermaßen behaglich, und eine gewisse belustigte Neugierde, die Welt und den eigenen Körper zu beobachten, ließ ihn am Dasein festhalten. Er nahm ein paar alte Bekanntschaften wieder auf und machte sogar einige neue; im Winter segelte er nach Florida oder den Bahama Inseln, im Sommer nach Mount Desert oder nach dem Saint Lawrence. Der Atlantik Jacht Klub wählte ihn zum Mitglied, und der Somerset Klub lehnte ihn nun nicht mehr ab. Sein Bruder Nathaniel, der dort natürlich auch Mitglied war und in der nächsten Nachbarschaft des Klubhauses wohnte, ging glücklicherweise niemals hin.

Instinktiv vermied Peter es, am Hause seines Vaters vorbeizugehen. Mit Vorliebe bog er in die Mount Vernon Street ein. Eine wohlwollende Verwandte, die ihn einmal traf, während er dort fast reglos stand und um sich schaute, suchte sich sein Benehmen zu erklären: dieser Stadtteil mit seinen großen Ulmen und seinen gartenartigen Rasenflächen vor den stillen, besonnten, alten Häusern war so hübsch und vornehm; es schien begreiflich, daß ein so weitgereister und nachdenklicher Mann wie Dr. Alden diesen Fleck lieben mußte. Doch hatten die Bäume und der Rasen in Wirklichkeit mit Peters Entrücktheit nichts zu tun; es war nur eben seine eigentümliche Angewohnheit, die Beacon Street auf alle Fälle zu vermeiden und ziellos in der Nachbarschaft umherzuwandern. War das krankhaft, war das neurasthenisch, war das abnorm? Gab es verwirrte Nervenstränge und seltsame Spannungen in seinem Hirn, die ihn handeln ließen wie einen Narren und fühlen ließen wie ein Kind? Konnten sie ihn nicht eines Tages zum Idioten machen? Sollte er nicht lieber einen Spezialisten zu Rate ziehen und sich vor sich selbst schützen, bevor es zu spät war?


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