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14

Sie waren in einer einsamen kleinen Bucht vor Anker gegangen, die sich hinter dem Hafen von Salem versteckte und vor den Übergriffen des kleinlichen Handelsgeistes und der vorstädtischen Wohnsiedlungen durch kahle Felsen auf der einen Seite und Salzsümpfe auf der andern Seite geschützt war. In der Mitte befand sich eine breite, tiefe Fahrrinne, die Peter Alden seit langem kannte. Friedlich und abgelegen bot sich hier ein sicherer Ankerplatz, den die flutenden Gezeiten in weite, glänzende, meerblaue und meergraue Streifen teilten. In Ermangelung klassischer Tritone und Delphine schwammen die jungen Männer gerade wieder um ihr Floß herum, als ein unverschämtes kleines Boot auftauchte, das eilig und entschlossen die Fahrrinne heraufkam. Ein magerer Alter saß an der Pinne, und als er anluvte und mit dem Boot längsseits kam, konnte man sehen, wie er mit dem spöttischen Lächeln des echten Yankees, der sich in allem auskennt und nur wenig für die unnötigen Torheiten anderer Leute übrig hat, nach ihnen herüberschielte. »Jungen sind Jungen«, schien er zu sagen. »Vielleicht bilden sie sich ein, daß die Schwimmerei Spaß macht; na, es wird jetzt so an die vierzig Jahre her sein, seit der letzte Tropfen Wasser auf meinen Bauch gekommen ist.«

Ohne die nutzlose Zeremonie einer Begrüßung oder einer Frage um Erlaubnis legte er an der Leiter an und stieg an Bord des ›Schwarzen Schwans‹, als klettere er ins eigene Nest, während sein im Stich gelassenes Boot in spielerischer Unbestimmtheit leewärts trieb, mit schlaff hängendem Segel, über das manchmal ein leichtes Zittern lief, ähnlich wie bei einem alten Karrengaul, der mit hängendem Zügel friedlich am Wegrand wartet und geduldig durch krampfartiges Zucken des Fells die Fliegen von seinen Flanken scheucht.

Es war zehn Uhr morgens. Die Julisonne brannte mit nackter Heftigkeit; der Meerwind schien die Haut einzusalzen, nachdem die Sonne sie gedörrt hatte. Als besonnener Jüngling, der er nun einmal war, hatte sich Oliver mit einem weißen Leinenhute bewaffnet, und dieser, sein einziges Kleidungsstück, verlieh ihm das Aussehen eines sehr jugendlichen und schlanken Hermes. Lord Jim trug zwar einen dicht gelockten, natürlichen Schutzhelm auf dem Haupte, begann aber doch die Hitze als lästig auf Stirn und Nacken zu empfinden. »Wollen wir mal raufgehen und schauen, was der komische alte Kerl will? Wie wär's mit einem Wettkampf? Einmal ums Floß herum und dann nach Hause! Nehmen Sie die Kurve so weit Sie wollen, und ich halte mich an der Außenseite. Nicht so, sondern so rum«, fügte er hinzu, indem er mit der Hand einen Kreis beschrieb, »von links nach rechts, wie die Sonne und der Wein kreisen.«

»Bei der Sonne ist das nur so, weil wir nördlich vom Äquator sind«, bemerkte Oliver aus der Fülle seiner frisch erworbenen Schulweisheit heraus. »Wären wir südlich davon, würde die Sonne von rechts nach links gehen.«

»Gott, sind wir aber gescheit! Der kleine Newton soll Klassenprimus werden!« Jim lachte, doch in Wirklichkeit fand er diese Seite von Olivers Wesen nicht erfreulich. Er hatte es mit dem Wettschwimmen ganz ernst gemeint und Oliver eine großzügige Vorgabe angeboten; aber jetzt nahm er sich Zeit, trödelte und plätscherte herum und ließ den Jungen mit riesigem Vorsprung gewinnen. Man durfte eben nicht erwarten, daß diese Amerikaner den Dingen so gegenüberstanden wie man selbst. Für sie war alles starr und berechenbar. Besser, sie hatten ihren Spaß allein.

Sie trockneten sich gerade an Deck ab und schlüpften in die Bademäntel, als der Doktor mit einem Brief in der Hand auf sie zukam.

»Eine Botschaft vom Vetter Caleb Wetherbee, der uns von seinem Turm aus mit seinem Fernrohr erspäht hat; er lädt uns ein, heute abend bei ihm zu essen und die Nacht über dazubleiben. ›Ich hoffe‹, heißt es in dem Brief, ›Du bringst meinen Freund, den Kapitän, mit und den unbekannten Eindringling, von dem ich annehme, daß es Dein hoffnungsvoller Sprößling ist.‹ Soll ich für uns alle zusagen?«

»Famos«, sagte Jim; »ich kann allerdings nicht die Nacht über bleiben. Ich muß am Morgen an Bord sein.«

Daheim stellte Oliver niemals Fragen über andere Leute oder über Familienangelegenheiten; seine Mutter sagte, solche Dinge könnten ihn doch nicht interessieren, und tatsächlich hatten sie es bis jetzt auch nie getan. Aber hier war alles anders. Hier konnte man die indiskretesten Dinge erörtern und die genauesten Auskünfte bekommen. Er kannte Lord Jim erst seit zwei Tagen, und es gab nicht ein einziges Geheimnis mehr zwischen ihnen. Auch sein Vater war merkwürdig mitteilsam geworden. Wer also war denn der Vetter Caleb Wetherbee?

»Er ist in mancher Beziehung das bemerkenswerteste Mitglied unserer Familie, wenigstens auf meiner Seite; deine Mutter hat ihn wohl nie gesehen und würde ihn auch nicht leiden können. Er ist ein buckliger Krüppel, ein Schwärmer, der zum Katholizismus übergetreten ist und in Salem in seinem alten Obstgarten ein Benediktinerkloster erbaut hat. Die Apfelbäume, die ich als Junge zu erklettern pflegte, was für meine Verdauung die schmerzlichsten Folgen hatte, stehen nun in der Mitte eines Kreuzgangs; ich muß sagen, sie sehen jetzt viel stattlicher und ehrwürdiger aus, und aus eigener Erfahrung weiß ich, daß die Mönche einen Apfelwein bereiten, der wohlschmeckend und harmlos ist. Doch Caleb Wetherbees Anblick ist zunächst einigermaßen schrecklich; du wirst wohl einige Zeit brauchen, um deinen Abscheu zu überwinden. Er wird uns eine ausgezeichnete Mahlzeit vorsetzen, zwar nur Fischgerichte, denn heute ist Freitag, aber ein so erfahrener Gastgeber wird auf diese Herausforderung mit Vergnügen eingehen, zumal in einer Jahreszeit, wo es keine Austern gibt. Wenn du bis morgen bleibst, werden wir wohl zum Mittagessen ins Refektorium eingeladen werden, und du kannst dann mittelalterliche Sitten und sogar Speisen kennen lernen, die unserem Zeitalter und Himmelsstrich angepaßt worden sind. Caleb Wetherbee ist ein gelehrter Mann, schreibt an einer Geschichte der Religion in Amerika – die spanisch sprechenden Gebiete mit einbegriffen; die wird sich wunderbar von Prescott und sogar von Parkman unterscheiden. Er hat hochfliegende metaphysische Anschauungen und verbindet mystische Begeisterung mit einem glühenden amerikanischen Nationalismus – denn auf seine sonderbare, prophetische Weise ist er ein warmer Patriot.«

Der Mensch bleibt im Grunde ein Landtier und empfindet nach einer Seereise stets natürliche Freude darüber, zur Abwechselung wieder einmal die terra firma unter den Füßen zu haben. So legten sie am Nachmittag die paar Kilometer, die den Landungsplatz von dem alten Sitze der Wetherbees trennten, mit Vergnügen zu Fuß zurück. Schon von weitem konnten sie das Anwesen erkennen, da es eine kleine Anhöhe über dem Meer bekrönte. Vor dem geradlinigen, gelblich-weißen Holzhause mit den grünen Fensterläden ragte eine Wand großer Ulmen, deren starke Äste viel zu riesig waren für die spärliche, durchsichtige Belaubung, die in Fransen an ihnen herabhing. Die Gesimse, die geschnitzte Tür, die Vorhalle mit ihren schlanken Säulen, alles das hatte die zaghafte Eleganz einer puritanischen Dame, die es schließlich doch einmal wagt, ihr dünnes, glattes Haar zu pudern und ein wenig Farbe aufzulegen: War nicht Tugend die beste Vornehmheit? War sie ihrem Herzen und ihrer ganzen Tradition nach nicht ebensogut eine Lady wie jede Herzogin?

Den übrigen Teil des alten Besitztums hatte sein gegenwärtiger Besitzer mit einer Backsteinmauer umfriedet, über welche die niedrigen Dächer der Klostergebäude bescheiden zwischen den Apfelbäumen hervorlugten; einzig ein hoher Campanile mit offenen Arkaden, die auf romanische Art bei jedem aufgesetzten Stockwerk luftiger wurden, ragte aus dem Ganzen hervor. Die Glocken befanden sich in den unteren Öffnungen, doch die oberste Loggia, wo eigentlich der Platz der großen Glocke gewesen wäre, hatte sich Mr. Wetherbee als persönliches Arbeitsgemach und Observatorium vorbehalten, da er als Stifter gewisse Vorrechte für sich in Anspruch nahm; und hierher pflegte er mittels eines zu diesem Zweck eingebauten kleinen Fahrstuhles bei schönem Wetter samt all seinen Büchern und Papieren heraufzukommen; hier ließ er sich nieder, um an seinem Geschichtswerk zu arbeiten oder auf Eingebungen zu warten. Auf diesem Sitz war ihm zumute, als könne er die Felsen und Wälder der Neuen Welt überschauen, wie sie sich nordostwärts gegen Island, Norwegen und die sturmgepeitschten Hebriden erstreckten, gleich Armen, die sich den Männern des dunklen Nordens mit den starken Händen und trotzigen Herzen zur Begrüßung öffneten. Aber von der Ausfahrt des Mittelmeers her, über weitere, sonnigere Fluten hinweg, glaubte er die bunten Segel des Kolumbus zu entdecken, der auf kleinem Raume das ganze Erbe von Byzanz und Rom, das Erbe Spaniens und des Islams westwärts trug: Religion, zivilisiert durch Gelehrsamkeit; Leidenschaft, zivilisiert durch Politik. So empfand er wenigstens in den Augenblicken der Intuition. Sobald es sich jedoch darum handelte, die Tatsachen zu Papier zu bringen, kam ihm Fülle wie Dürftigkeit der jeweiligen Berichte gleichermaßen entmutigend vor. Sein Geist wurde leer, sein Körper schmerzte, und die Arbeit mußte auf morgen aufgeschoben werden.

Mañana, das große amerikanische Schibboleth! Dieses Wort war es, das Caleb Wetherbee als Motto für sein zukünftiges Buch und als Symbol für seinen Glauben gewählt hatte.

Da Oliver der jüngste und fremd im Hause war, blieb er zunächst im Hintergrunde, während sein Vater und Jim den Hausherrn begrüßten und die üblichen allgemeinen Redensarten mit ihm tauschten. So gewann er einen Augenblick, um sich umzusehen und sein erstes Erstaunen herunterzuschlucken.

Der Vetter Caleb war in der Tat ein Ungeheuer. Er hockte wie ein Papagei auf einem hohen Stuhl, mit dem er rastlos im Raume hin- und herrollte, umgeben von einem verwirrenden Durcheinander von Büchern, Atlanten, Landkarten und Schriftstücken, die auf Tischen und Stühlen und teilweise auf dem Fußboden aufgehäuft lagen. Er befingerte alles und legte alles wieder weg, und trotz seiner Fahrigkeit, Zerstreutheit und chaotischen Geistesverfassung schien er genau zu wissen, wo jedes Ding sich befand. Seine grotesken, teigigen Gesichtszüge wirkten überlebensgroß und sein Kopf mit den traurigen Froschaugen und dem zerwühlten Haar übernatürlich breit. Es war, als sei er wütend entschlossen, seinen armen Rumpf mit Hilfe der langen Affenarme und der verbogenen Beine bis zum Äußersten zu verteidigen, wie eine verwundete Riesenspinne. Seinen großen, gedehnten, schlaffen Mund hatte er kaum noch in der Gewalt, der Ton seiner Rede schwankte unabhängig von ihrem Inhalt zwischen krampfartiger Heftigkeit und äußerster Sanftmut: einmal schienen die Blasebälge in seinem Inneren plötzlich von selbst loszugehen, ein andermal wieder unvermittelt auszusetzen, worauf er dann gezwungen war, seine Worte mitsamt den Wurzeln aus den Tiefen seines leidenden Körpers herauszureißen. Doch stand der Sinn dessen, was er sagte, in seltsamem Gegensatz zu der Krampfhaftigkeit seines ganzen Gebarens. Wenn er seine Lieblingsideen verfocht, zitterte sein ganzes verkrümmtes Knochengerüst aufs entsetzlichste vor Erregung. Er konnte dann nicht verhindern, daß Schaumblasen auf seine Lippen traten und dort zu zerplatzen drohten, weshalb er sich von Zeit zu Zeit mit einem Taschentuch, das er mühsam in seinen langen, unsicheren Fingern hielt, den Mund wischen mußte.

»Also das ist unser junger Oliver, das ist der grüne Sproß, der Benjamin, den du sechzehn Jahre lang in den Tiefen Connecticuts vor uns verborgen hieltest. Oliver, wenn du ein so kluger Kopf bist, wie man mir sagt, dann komm zu uns nach Boston, ich sage ›komm nach Boston‹, denn trotz all der heiligen Bande, die mich hier in Salem halten, gebe ich doch mein Häuschen in Beacon Hill nicht auf. Dein Vater weiß, daß im Winter am Mount Vernon-Platz jeden Sonntag Abend der Tisch für sechs gedeckt ist. Alle meine Freunde sind eingeladen; wer zuerst kommt, [mahlt] zuerst. ›Das erste Fünft gern bleiben mag, der Rest komm' einen andern Tag‹. Das ist so etwas wie ein Knittelvers und das Motto meines Haushalts. Wenn du erst in Harvard bist – denn natürlich gehst du nach Harvard – mußt du zu meinen Stammgästen gehören. Und hab keine Angst, daß du nur alte Leute und Invaliden bei mir triffst, gerade die Allerjüngsten sind es, die sich nicht vor mir fürchten. Für die Alten bin ich eine verjährte Nummer, und sie mögen ihre traulichen Kamine nicht verlassen, um ein Ungeheuer zu besuchen und unbequeme Wahrheiten zu hören.

Ja, komm nach Boston! Da entgehst du der Hast, der scheußlichen Prahlsucht, der häßlichen Sprache, der aggressiven Gemeinheit und den idiotischen Vergnügungen des modernen Lebens – wenigstens in unseren alten Familien; da kannst du Presse, Kanzel und Professoren lächelnd links liegen lassen, brauchst sie nicht zu bekämpfen, denn sie sind Teile des gegenwärtigen Systems und vielleicht nützlich, nur mußt du sie innerlich völlig ignorieren, wenn du den Grundsatz hast, ganz schlicht und simpel deinen Weg zu gehen und sie und dich nicht zu überschätzen. Du wirst dort merken, daß es dein Vater und überhaupt alle Menschen von Einsicht und Bildung genau so machen, denn nur Leute, die die Welt nicht kennen, lassen sich von ihr zum Narren halten. Arme, sündhafte Welt! Wir wollen sie nicht beschimpfen, wir wollen für sie beten! Aber einstweilen müssen wir ganz wir selbst bleiben, wie Emerson ganz er selbst blieb, nur sollen wir nicht auf Stelzen gehen wie er und nicht in Selbstbetrug verfallen; denn die Welt wurde nicht geschaffen, damit sie uns dazu diene, unsere Philosophien zu bestätigen, ebensowenig wie wir dazu geschaffen wurden, damit wir ihr dienen und ihr die Füße küssen.

Nun sind für einen geistigen Menschen, der unabhängig sein will, gerade in Boston und Harvard die Verhältnisse besonders günstig. Er findet Ruhe, er findet Bücher, er findet Musik, er findet Freundschaft; ja, er findet wohl auch unterdrückte Seelen mit ehrlicher Sehnsucht und Begierde nach Erleuchtung. War es doch im guten, alten, aufgeklärten Boston, daß die Erleuchtung zu mir kam und ich bekehrt wurde, allerdings nicht zum Glauben Bostons, sondern zum entgegengesetzten; aber was könnte man Boston höher anrechnen, als daß es immerhin Gelegenheit zu solchem Aufschwung bietet! Deshalb sage ich: Junger Mann, wenn unter der glatten, blanken Eierschale deiner Höflichkeit eine Seele steckt, so geh und brüte sie in Boston aus. Und der Vorteil dabei läge nicht auf deiner Seite allein! Boston und Harvard brauchen heutzutage neues Blut, frischen, geistigen Mut. Sie werden den übrigen Landesteilen zu ähnlich, werden erwürgt von Geschäften, krampfigem Vergnügungsbetrieb und einem Wissen, das bloß nützlich ist. Die furchtlosen Seelen der früheren Tage haben keine Erben zurückgelassen. Losreißen müssen wir uns – waren wir nicht immer Durchgänger? – losreißen vom geistigen Professionellentum, von der längst abgestorbenen Rinde der öffentlichen Meinung, von der süßlichen Verlogenheit der Kanzeln, von der einfältigen, unwissenden, eintönigen, geradezu ansteckenden Hilflosigkeit unserer Politiker, die im großen und ganzen anständig sind und das Beste wollen, aber mit so dürftigen geistigen Mitteln! Tatsächlich gibt es in Harvard schon einige Menschen, die sich losreißen, wenn auch erst in ihrem Fühlen, noch nicht in ihrem Lehren. Amerika, das bedeutet die größte aller Möglichkeiten und den schlechtesten aller Einflüsse; also sollen wir uns bemühen, seinem Einfluß zu widerstreben und seine Möglichkeiten noch zu veredeln.

Du machst dazu ein befremdetes und etwas gekränktes Gesicht? Du wunderst dich, weshalb ich sage, daß Amerika den schlechtesten aller Einflüsse ausübt? Weil es der Welt Laster bringt, die sich als Tugenden gebärden und deshalb unbereut bleiben. Amerika begünstigt den Optimismus, die Weltlichkeit, die Mittelmäßigkeit. Aber an unsern gleichzeitigen Kraftquellen gemessen ist unsere Mittelmäßigkeit eine Schande, unsere Weltlichkeit eine Sünde, unser Optimismus eine Lüge. Aus diesem Grund habe ich mein Kloster gebaut. Angeblich erforsche ich die Historie; aber ich studiere die Vergangenheit nur, um darin die Keime der Zukunft aufzufinden, die guten Samenkörner, die scheinbar vom Unkraut erstickt werden, doch in Wirklichkeit bestimmt sind, das Unkraut zu überleben. Es ist jetzt ein dunkles Zeitalter für den Geist, ein Zeitalter geheimer Vorbereitung. Wir dürfen auf Jahrzehnte, vielleicht auf Jahrhunderte hinaus nicht erwarten, daß unser Volk seine eigene Lage versteht. Gott wird seine Zeit wahrnehmen. Aber bis jetzt hat uns Gott noch nicht aufgegeben, noch sind wir sein auserwähltes Volk. Sehet das Pflichtgefühl, mit dem wir unseres Weges ziehen, die Glut, mit der wir jedes Ziel verfolgen, das man uns an öffentlicher Stelle setzt! Sehet unser Vertrauen zur Erziehung! Sehet unsere wackeren, unverdorbenen, hingebungsvollen Frauen! Sehet unsere amerikanische katholische Geistlichkeit, aufgewachsen im Dunstkreis materiellen Fortschritts und dabei so tugendvoll, so tätig, so erfolgreich, ähnlich den Aposteln vor der Ausgießung des Heiligen Geistes! Vom materiellen Standpunkt aus haben wir riesige Anstrengungen und Leistungen aufzuweisen, nur nicht den geringsten sittlichen Gewinn – im Gegenteil: das einzige Ergebnis ist schrecklichste Leere, Gewöhnlichkeit und Hoffnungslosigkeit. Hätte Gott eine solche Tragödie zugelassen, wenn er uns nicht eine Lehre in der Weisheit geben wollte? Soll unser babylonischer Turm – unsere Wissenschaft, unser Fortschritt, unser Glaube an Maschinen – in Unehren zusammenstürzen und im Gedächtnis der Menschen, wenn überhaupt, dann nur als riesenhafter Mißgriff weiterleben? Ich kann es nicht glauben. Alles das ist eine unbewußte Vorbereitung; und der ganze Materialismus, der uns jetzt an der Erlösung hindert, wird später selbst der Erlösung geweiht sein, denn auch die ägyptischen Obelisken wurden in Rom von den Päpsten zu Ehren des wahren Gottes neu aufgerichtet und mit dem Kreuze und dem Stern Bethlehems bekrönt.

Laß mich etwas prophezeien, was du, Oliver, als einziger von uns allen wahrscheinlich noch erleben wirst. Unser ganzes leichtfertiges Wohlleben, unsere ganze ungestüme Aktivität wird eines Tages – vielleicht schon bald – vor einem Wort zusammenstürzen wie die Mauern von Jericho; es braucht dazu nicht einmal einen großen Sturm, sondern jene inneren Veränderungen und geheimen Lockerungen der Zeit werden es vollbringen, kraft deren der Staub bis in alle Ewigkeit zum Staube zurückkehrt. Zum Schutze gegen diesen Tag des Schreckens und des Lichtes habe ich mein Kloster errichtet, als Festung, die allen heidnischen Einflüssen widersteht, als Vorposten, der alle geistigen Möglichkeiten aufgreift; nur ein paar Mönche – nicht mehr als dreißig – die aus allen amerikanischen Nationalitäten ausgewählt sind, wohnen darin. Mein Abt ist ein französischer Kanadier, der in Rom erzogen wurde, auch haben wir mehrere Mexikaner und Kubaner. Wenn der Erzbischof sie braucht, tun sie ihren bescheidenen Dienst in der Gemeinde oder Mission; aber im Augenblick besteht ihre erste Pflicht darin, die wahre Gelehrsamkeit lebendig zu erhalten und die Liturgie in ihrer ganzen Vollendung und Großartigkeit zu zelebrieren. Sie sind willens, im Verborgenen zu beten und zu arbeiten und das Licht der Lampe bis zum Kommen des Bräutigams zu bewahren. Ein Heiligtum der Sammlung ist dieses Kloster, eine Schule der Buße, ein Nest-Ei für den Heiligen Geist.«

»Es freut mich«, sagte Peter zu seinem Sohn, »daß du einmal zuhören kannst, wenn unser Vetter Caleb sein Herz ausschüttet. Du wirst seine Anschauungen vielleicht nicht verstehen und sie dir nicht aneignen wollen, aber wenigstens können sie dich warnen, jenen deutschen Denkern ohne weiteres zu glauben, die da behaupten, daß es jeweils für eine Zeit nur eine lebendige und maßgebende Philosophie in der Welt gibt. Alle Philosophien stehen uns jederzeit offen. Womöglich kehrt die nächste Generation dem, was wir Fortschritt nennen, entschlossen den Rücken und wendet sich wieder einer festen Überlieferung zu, entweder der, an die sich der Vetter Caleb anschließt, oder einer andern. Ihr Missionare«, fügte er, zum Gastgeber gewendet, hinzu, »seid immer heroisch und reinen Herzens, solange ihr in der Opposition steht; aber wenn ihr euren Willen bekommen hättet, würdet ihr im Besitze der Macht bald fett und weltlich werden; ganz zu schweigen davon, daß ihr eure geistigen Wunschbilder jedermann aufzwingen würdet. Laßt der Welt ihren Spaß, sage ich. Laßt sie in ihrem eigenen Safte schmoren; und laßt diejenigen, deren Nerven stärker als deine und meine sind, an dem Wirrwarr des unbekehrten Amerika ihre Freude haben; laßt sie am Ruder, bis die ganze Welt sich schneller und schneller unter einem einstimmigen, ohrenbetäubenden Höllengeheul im Kreise dreht – ein heilsames Erlebnis für die Menschheit und ein ergiebiges Thema für die Betrachtungen der Moralisten einer späteren Zeit!«

»Was geistige Wunschbilder betrifft, Peter«, gab der alte Krüppel etwas gereizt zurück, »so sprich nicht mit so überlegener Miene davon, als ob sie dich nichts angingen. Es gibt nur zwei grundsätzliche Möglichkeiten, die dem menschlichen Glauben offen stehen. Jede ist eine Hypothese, jede ein Wagnis, und wenn man sie annimmt, schließt man gleichsam eine Wette ab, aber diese Wette wird uns nun einmal vom Leben aufgezwungen. Leben heißt wagen, denn die Führung jedes Lebens setzt all unser ärmliches Hab und Gut aufs Spiel, verpfändet unsere Seele auf der einen oder auf der andern Seite. Du kannst den breiten, einladenden Pfad der heidnischen Philosophie wählen, du kannst ihn sogar, wenn du willst, höchst phantastisch mit irgend einer heidnischen Religion ausschmücken. Das ist der einzige Weg, der dem Geiste im unbekehrten Naturzustand offen steht, bevor die Reue ihm Einhalt getan und die Offenbarung ihm eine Richtschnur gegeben hat. In diesem Falle umgibt dich ein in jeder Hinsicht unermeßliches Weltall, dessen kritische Untersuchung tatsächlich kaum eine Rolle spielt, denn deine Seele und alles, was du liebst, ist in ihm nur ein von langer Hand vorbereitetes, aber binnen kurzem überholtes Zwischenspiel. Dein Leben verläuft als tragische oder komische Episode in einem universalen Tumult von Atomen oder Naturgesetzen, Energien oder Illusionen. Ich leugne nicht, daß dir ein solches Leben erträglich oder sogar unterhaltend vorkommen kann; alle Tiere finden Geschmack daran, warum nicht der Mensch, wenn er doch nichts anderes als ein sprechendes, lachendes, maschinenproduzierendes Tier sein soll?

Aber es gibt eine andere Möglichkeit, nämlich den Glauben an das menschliche Herz, den Glauben an das Übernatürliche, aus dem heraus man sich weigert, sich der großen, heidnischen Prozession anzuschließen. Denen, die aus wohlerwogenen Gründen diese zweite Möglichkeit wählen, braucht deshalb kein Illusionismus zur Last gelegt zu werden. Ebensogut wie das Heidentum, ja vielleicht noch besser, sind wir imstande die Ergebnisse kühler Beobachtung festzustellen und die Erkenntnisse zu schildern, mit denen sich der bloße Verstand zufrieden geben muß; doch zugleich berufen wir uns auf einen höheren Gerichtshof. Wir geben den natürlichen Tatsachen und den natürlichen Wünschen eine übernatürliche Auslegung. Wir sagen: es hat sich sowohl in der Krippe von Bethlehem als auch in unseren eigenen Seelen ein Wunder zugetragen; wir haben begriffen, daß zwar Astronomie, Biologie und weltliche Geschichte die offenkundige Herzlosigkeit des Weltalls erweisen, daß es aber in Wirklichkeit dennoch als Werk eines göttlichen Herzens besteht, von dem unser eigenes Herz nur ein entstelltes Abbild sein kann; und daß jedes Ereignis in diesem Weltall vielleicht nur dem Plan dient, die Gedanken unseres Herzens zu wecken, zu entfalten oder zu strafen.

Nun tritt freilich dieser übernatürliche Glaube oft ganz zusammenhanglos an die Oberfläche und versiegt dann wieder, oder er wird plump und hinkend ausgedrückt und setzt sich in Widerspruch zu den natürlichen Anschauungen, die zu widerlegen er nicht die Macht hat. Doch gibt es einen einzigen vollendeten, stichhaltigen, realistischen und umfassenden Ausdruck des Glaubens im menschlichen Herzen. Das ist die katholische Lehre, daß Gott Mensch geworden ist, und zwar innerhalb der historischen Wirklichkeit und auf alle Ewigkeit und mit allen Folgerungen, die dies Mysterium in sich begreift. Alle Revisionen und Reformen des katholischen Glaubens sind Rückfälle ins Heidentum; sie leugnen mehr oder weniger die Oberhoheit des menschlichen Herzens und des Übernatürlichen; und im gleichen Maße münden sie auf geheimen, aber unvermeidlichen Pfaden in die heidnische Heerstraße einer vorgetäuschten Harmonie, die in Wirklichkeit Verzweiflung ist. Und wenn auch heidnische Philosophen von ihrem Standpunkt aus die übernatürliche Wiederaufrichtung der Herrschaft des menschlichen Herzens als einen rührenden Trug verurteilen, so bleibt doch ein Mensch, der sich zur Religion des göttlichen Herzens bekennt, nicht ohne mannigfache Betätigung seines Glaubens durch die eigene Erfahrung und durch die Früchte, die dieser Glaube noch stets unter den Gläubigen getragen hat.«

Während dieser Predigt wurde der arme Alte von den Stürmen einer unfreiwilligen Heftigkeit geschüttelt, aus der hier und da die verborgene Sanftmut hervorbrach wie eine Blume aus felsigem Gestein; nun aber fühlte er, daß es Zeit war, den Gesprächsgegenstand zu wechseln.

»Ich brauche nicht zu fragen«, sagte er, »ob ihr eine glückliche Fahrt hinter euch habt. Ich sah, wie stolz ihr in die Krähenbucht einfuhrt, und bewunderte, wie euer großer ›Schwarzer Schwan‹ mit seinen neumodischen Maschinen Windstille und Gezeiten besiegt und einer Ente im Dorfteich an Wendigkeit nicht nachsteht. Ein alter und ein junger Seebär bringen miteinander alles fertig. Erinnerst du dich noch des Tages, als wir der Krähenbucht ihren Namen gaben? Wir beobachteten vor uns in der Mitte des Kanals etwas Schwarzes. ›Es ist die schwarze Flagge eines versunkenen Piraten‹, vermutete ich, da ich von uns beiden die stärkere Phantasie hatte. Doch du, der du im Besitze besserer Augen bist, meintest gleich, es sei eine im Wasser stehende Krähe. Jetzt ziehst du Nutzen aus dieser Erfahrung und hältst dich stets an die Außenseite der Bucht. Nur wenige Schiffe kommen heute noch nach Salem. Keine Schnellsegler fliegen mehr vor den Passatwinden in neunzig Tagen nach China. Das war, wie alle unsere amerikanischen Errungenschaften, eine feine Leistung; nur ein harter, kühner Männertyp konnte sie vollbringen, aber unser Sieg war zu schnell, er erwies sich als seicht und kurzlebig. Was brachten wir nach China und Manila? Eis! Eis, das in einem Tage schmelzen mußte. Und was brachten wir heim von der Fahrt über eine ganze Hemisphäre blauen Meerwassers? Tee, Töpferwaren und Hanf! Die Spanier haben ihrerzeit trotz ihrer Langsamkeit und Umständlichkeit ihre Fahrten zu größeren Zwecken betrieben. Gewiß, das Gold schmolz in ihren Händen noch schneller als Eis, doch für den Augenblick war es ein prächtiges Schauspiel; und im Austausch dafür brachten sie der neuen Welt das beste Erbteil der alten, sie eröffneten den fernsten und demütigsten Völkern den Weg der Wahrheit und des Heils – ach, da bin ich wieder bei meinem alten Steckenpferd angelangt, und ihr werdet lachen über diese Manie eines alten Krüppels. Wie aber wächst mein Vetter Oliver auf? Im unitarischen Bekenntnis?«

»Wirklich«, sagte Peter lachend, »das weiß ich nicht einmal. Ich bezweifle überhaupt, daß er mit irgend einem Dogma vollgepumpt wird.«

»Wir haben unseren Kirchenstuhl bei den Unitariern, aber wir gehen nicht oft hin, weil Mutter gewöhnlich am Morgen ruhen möchte. Fräulein und ich gehen, wenn wir allein sind, gerne nach St. Barnabas, weil es da schöner ist. Dort singt ein Knabenchor und in der andern Kirche nur ein Quartett; aber Mutter findet, daß der unitarische Geistliche gesündere Ansichten über die Weltgeschichte hat.«

»Natürlich, natürlich«, brummte Caleb, »er hat wahrscheinlich über jeden Gegenstand die allerneuesten Ansichten. Du weißt doch, was der französische König in bezug auf Massillon sagte: ›Wenn er auch noch ein wenig über Religion gesprochen hätte, dann hätte er ein wenig über alles gesprochen.‹«

»Oliver hat eine deutsche Erzieherin gehabt, die eine Priesterin des Goethekultes ist. Wie nennt sie das? Realistischen Idealismus, romantischen Klassizismus öder pantheistischen Idealismus?«

»Sie nennt es einfach Philosophie«, erwiderte Oliver, der fand, daß sein Vater frivol und der papistische Vetter voll hoffnungsloser Vorurteile war. »Sie sagt, daß die Philosophie beständig über ihre eigenen Systeme hinauswächst, und daß Goethe alle Philosophie bis auf den heutigen Tag überholt hat, daß wir aber seine Philosophie noch nicht überholt haben, weil sie unsere gesamte Wissenschaft in sich begreift.«

»Laß dich von den deutschen Philosophen nicht an der Nase herumführen, mein Junge. Sie sind geschickter, als es je ein schlauer Yankee im Pokerspiel war. Sie sind gute Lehrer, Oliver, denn sie haben den Respekt des echten Arbeiters für sein Werkzeug; sie nehmen einen tüchtig in die Schule. Lerne es, mit ihnen nach Schätzen zu graben, lerne deine Arbeit lieben, aber kehre zuweilen aus dieser Nibelungenschmiede an die Sonne zurück.

Goethe freilich war kein Professor, obwohl er manchmal redete, als wäre er einer. Er war ein großer Mann: in einem Augenblick ein lyrischer Sänger, im nächsten ein einfacher Naturforscher, der wie ein unschuldiger Wilder über prismatischen Farben und vulkanischen Steinen brütete. Doch er kannte auch die Welt, er war sehr gelehrt und lebte in einer einigermaßen lenkbaren Gesellschaft, wo das Gewicht seiner Persönlichkeit in die Wagschale fiel und er der Napoleon des Wortes werden konnte. Aber was für ein diabolischer Seelenführer! Schlimmer als Voltaire, schlimmer als Rousseau, im tiefsten noch unmoralischer, noch ausschweifender, noch gefährlicher als sie. Ich sagte, er kannte die Welt, aber er betete sie auch an – betete die Natur, das Leben, die Gesellschaft an, oder was wir irgend sonst die Welt nennen wollen – das beweist, daß er im Grunde die Welt nicht kannte. Sie nahm ihn gefangen; er verkaufte ihr seine Seele wie sein Schwarzkünstler Faust. Er war überzeugt, daß es keine andere Möglichkeit gäbe, sondern daß das Heil darin läge, seine Seele an die Welt zu verkaufen; und er brachte die Religion wie ein Ballett auf die Bühne, um die Irreligiosität zu bekrönen und ihr unter schmetternden Trompetenstößen und dem Halleluja der Engel seinen letzten Segen zu erteilen. Kann man sich eine trivialere Auffassung denken? Er ist noch schlimmer als Walt Whitman, der auf dem Fährboot nach Brooklyn an seine haarige Brust schlug und dazu sprach: ›Was für ein guter Mensch bin ich!‹ Goethe aber lagert, nachdem er seine Haushälterin geheiratet und den Adel erhalten hat, bequem auf dem west-östlichen Diwan und bietet einem gütig in goldener Schnupftabaksdose den Staub weltlicher Weisheit und die Asche seiner Seele dar.«

Oliver lachte, er lachte und errötete dabei vor Angeregtheit und Vergnügen, als wäre der altkluge Kopf auf seinen jungen Schultern erst jetzt plötzlich in Verbindung mit den Blutgefäßen gekommen.

»O, wenn Fräulein das hören könnte! Sie wäre starr! Sie würde kein Wort davon verstehen.«

»Aber du verstehst es«, rief der Vetter Caleb triumphierend und glotzte Oliver mit den kugligen Augen eines Menschenfressers an. »Ich merke genau, daß du es verstehst.«

»Ja, ich glaube schon, daß ich's verstehe. Goethe war, was du einen Heiden nennst. Er sagte, wir müssen verzichten, aber er tat's nicht. Er trank alles gierig in sich hinein.«

»Nur das Beste nicht, Oliver. Auf das verzichtete er. Dafür hatte er keinen Geschmack, und keinen Platz.«

»Aber ich begreife nicht, wie du ihn schlimmer finden kannst als Walt Whitman. Soweit ich es beurteilen kann, ist bei Walt Whitman alles nur Salbaderei. Aber bei Goethe gibt es den Ratskeller in Leipzig und Fausts Studierzimmer und Mephisto und Gretchen und Mignon und Götz von Berlichingen und Egmont.«

»Wunderbar, großartig, wahr!« rief das alte Ungeheuer begeistert. »Unser junger Daniel kennt sich aus! Goethe gehörte zu dem großen Geschlecht der malenden Künstler, der Shakespeare, Raffael, Rubens und wie sie alle heißen, bis herunter zu Dickens und Victor Hugo. Romantische Illustrationen, Bilderbücher, Schöpfungen! Goethe schuf Mephistopheles, er malte Gretchen; doch seine liebeskranken Damen und Herren und seine Philosophie galten nur für seine eigene Zeit. Faust selbst wäre ohne Mephistopheles nur ein Tropf; und deshalb urteilte Goethe in seinem großen Geiste, daß alles Gute ohne das Böse einfältig sei, und daß die Welt sich nicht durch Gottesliebe, sondern durch Frauenliebe bewege. Kann man sich einen Spaßmacher von größerem Format denken?«

Es erhob sich ein Gelächter, in das Caleb Wetherbee einstimmte. Oliver jedoch war zu sehr bei der Sache, um zu lachen.

»Vetter Caleb«, sagte er und beugte sich herüber zu dem alten Hexenmeister, der ihm nun nicht länger wie ein abstoßendes fremdes Wesen vorkam, »dann bist du also auch der Ansicht, daß Faust gar nicht wirklich gerettet wurde. Das habe ich Fräulein schon immer gesagt. Er hat ganz im Ernst seine Seele dem Teufel verkauft und hat nicht bereut. Diese Himmelfahrt am Schluß hätte niemals kommen dürfen; das ist bloß Dekoration, und Goethe war inkonsequent.«

»Was, in deinem Alter hast du diesen Trick schon durchschaut, der die Weisen und Gelehrten irregeführt hat? Ja, die Sache ist völlig klar, und ich glaube, Goethe hat auch gar nicht die Absicht gehabt, darüber hinwegzutäuschen. Er hielt niemanden für so dumm, das nicht zu verstehen. Natürlich konnte es in dieser seiner Welt nichts anderes geben als Leben an sich. Kein besseres Heil war zu erhoffen. Keine schlimmere Verdammung zu fürchten. Da war es ganz folgerichtig, seine Seele dem Teufel zu verschreiben, ebenso wie es für Adam und Eva richtig war, den Apfel zu essen, denn sonst hätte es ja keine heidnischen Griechen geben können und keine romantischen Deutschen und keinen Wolfgang von Goethe. Das Leben wäre nicht wert, gelebt zu werden, siehst du, wenn es nicht rücksichtslos und sündig wäre.«

»Dann«, beharrte Oliver immer noch glühend vor Erregung auf seinem Gedankengang, »dann wäre aber auch der Prolog im Himmel nichts als ein schlechter Witz. Fräulein sagt, es liege die tiefste Weisheit und das Geheimnis des Lebens darin, aber ich sage, der alte Märchengott da pufft einfach den Teufel in die Rippen und gibt ihm Auftrag, die Sache in Schwung zu halten.«

»Wer ist dieser dein Sohn, Peter«, rief der Vetter, »wer ist dieser Knabe, der hier sitzt und mit Gelehrten disputiert und uns alle beschämt?«

»Aber ich bin älter als zwölf Jahre«, bemerkte Oliver artig, »ich bin fast siebzehn.« Und er wunderte sich, warum der Alte wohl lache. Die Bibel war für ihn ein deutsches Geschichtenbuch, und er kam sich aufrichtig bescheiden vor.

Sein Vater nahm, noch lächelnd, die Unterhaltung in verändertem Tone auf. »Wenn aber Goethe auch ein Heide war, Caleb, so kannst du doch nicht sagen, daß er das menschliche Herz verachtet hätte.«

»Verachtet? Nein, wirklich nicht. Er pflegte es, wie meine Mönche ihre Pfirsiche an den sonnigen Klostermauern pflegen. Er beobachtete, wie jedes seiner Herzen reifte, und bewunderte das samtweiche Gewebe und den schönen, vollen Schmelz der Farben. Er war ein Kenner in Herzen. Doch traute er dem Herzen keineswegs, nicht einmal seinem eigenen in den heißesten Liebesbeziehungen. Niemals hat sein Herz die endgültige, ewige Beziehung aller Liebe erprobt, um dann diesen höheren Gegenstand der Liebe anzubeten um jeden Preis. Er brachte es niemals fertig, das Herz ganz zu bejahen und die Welt ganz zu verneinen.«

Jim Darnley war aufgestanden, um gute Nacht zu sagen, und ohne weitere Erklärungen erhob sich auch Oliver und trat hinter ihn, um sich vom Gastgeber zu verabschieden.

»Was«, rief Caleb, »du willst auch gehen? Du siehst doch, es wird gleich regnen, und die Fahrt im Boot wird kalt werden. Vielleicht wird es sogar stürmisch, wenn ihr um die Landspitze kommt.«

»Möchtest du nicht bleiben und die Mönche und das Kloster sehen?« fiel Peter ein, etwas enttäuscht über die Absage – nur zu gut kannte er bei seiner Familie dieses Widerstreben, sich mit etwas Neuem, geistig und seelisch Ungewohntem näher zu befassen. Mußte denn auch Oliver geistig ein Stubenhocker bleiben oder sogar ein Feigling werden?

»Der Regen macht mir nichts aus. Ich mag ihn ganz gern«, erwiderte Oliver, indem er sein scheues Ausweichen unter einem höflichen Lächeln verbarg. »Recht vielen Dank, aber ich glaube, ich gehe doch lieber mit Lord Jim.«

»Er möchte wohl sehen, ob ich nicht vielleicht das Boot an den Felsen kentern lasse, oder mich in der Nacht verirre. Das wäre doch ein guter Spaß.«

Der alte Herr drang nicht weiter in ihn. Denn es lag etwas Schamhaft-Entschlossenes in Olivers Blick, das jeden Kompromiß unmöglich machte und bei aller Anstrengung, höflich zu bleiben, doch Bereitschaft zu offenem Widerstand verriet. Als die Tür sich hinter den beiden jungen Leuten geschlossen hatte, sahen die beiden Alten einander an. »Leider«, sagte Peter entschuldigend, »haben heutzutage die Jungen nur für sportliche Angelegenheiten etwas übrig. Ich habe Oliver von deiner Musterabtei erzählt; aber die Sache liegt seinem Gesichtskreis zu fern, um ihn zu interessieren.«

»Ist dies sein erster Ausflug aus eurem Hause? Er ist ganz bezaubert von den Schiffen und dem Meer – diese Leidenschaft solltest du verstehen – und er fühlt sich in der Gesellschaft deines jungen Kapitäns glücklicher als in unserer. Du wirst ihn doch deswegen kaum tadeln können! Das Herz hat hier eben die Führung; es soll sie ja auch haben. Später, wenn er älter ist, mußt du ihn wieder herbringen, und dann wird alles anders sein. Was für ein Glück, solch einen Sohn zu haben, wenn man alt wird – eine Jugend, in der unser eigener verbrauchter Körper neu aufzublühen scheint, die aber unsere Fehler noch nicht begangen hat und unsere Laster noch nicht kennt.

Doch was wird in zehn, zwanzig Jahren die Welt aus ihm gemacht haben? Nein, Peter, alles in allem beneide ich dich nicht um deine Vaterschaft. Auch ich lebe in der Zukunft und denke an die, die nach uns kommen in diesem wimmelnden Amerika, und die zu ihrem Glück – nicht die Erben meines Körpers, aber sicherlich mehr oder weniger die Rächer meines Geistes sein werden. Wir waren stets ein gottgeweihtes Volk und zu großen Erwartungen berechtigt. Zu welchen Erwartungen aber? Das weiß niemand; doch glaube ich, daß Gott mir einiges über die Wege seiner Vorsehung enthüllt hat. Ich danke ihm für meine Mißgestalt, ohne sie hätte mich wahrscheinlich – denn was vermag ich aus eigener Stärke? – die hohe Flut des Wohllebens und der Alltäglichkeit kopfüber mit weggerissen. Niemals hätte ich begriffen, daß wir hier in Amerika nicht zu eitler Ruhmsucht auserlesen sind, nicht zu einer glänzenden Weltherrschaft unseres Namens und unserer Rasse, sondern vielmehr auserlesen zur Buße, zu einem neuen Leben der Demut und Nächstenliebe. Und ich glaube klar zu sehen, daß dein wunderbarer Sohn einer der ersten sein wird, die den Ruf vernehmen und ihre Netze am See von Galiläa im Stich lassen werden.«


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