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An einem ersten Oktober hatte Oliver das Licht der Welt erblickt – gleichsam unter dem Zeichen herbstlicher Mäßigung: in einer Jahreszeit, wo das Klima Neu-Englands, nachdem es die ansässigen Optimisten durch ein bis zwei Schneestürme und ein paar plötzliche Einbrüche von Tauwetter und krampfiger Tropenhitze erprobt hat, doch zuletzt seine grundsätzliche Heiterkeit dadurch zu bestätigen pflegt, daß es sich zu einer beharrenden Folge kühler, klarer Tage entschließt. Dann geht die Sonne in niedrigem Bogen über den Himmel, der bunt verschleiert ist vom Dunst der feuchten Wälder, vom Hauch des Meeres und dem Qualm der Städte; und ein erster Nachtfrost wandelt das harte Grün des noch kräftigen Laubs zu Tönen von Karmin, Rostrot und feurigem Gelb. Eine reinere Luft erfüllt die Lungen, und der ermattete Sommerfrischler kehrt aus dem langweiligen Ferienbetrieb ins hoffnungsvolle Geschäftsleben zurück.

In dieser gesegneten Zeit pflegte Peter Alden seine Familie alljährlich zu besuchen. Er kam gewöhnlich zu Olivers Geburtstag, brachte ein Geschenk mit und schied wieder nach dem Thanksgiving Day, Dankfest, Erntedankfest. Großer amerikanischer Feiertag, gewöhnlich am letzten Donnerstag des November. bevor er Gelegenheit gehabt hatte, seine Dankbarkeit zu widerrufen. In dem Jahr, in dem Oliver seine ersten richtigen Hosen bekam, war das Geschenk seines Vaters ganz besonders imponierend und stand im Einklang zu der neuen männlichen Gewandung: es war ein Pony zum Reiten! Der Junge hatte nie Tiere zum Spielen besessen: Tauben, weiße Mäuse, Meerschweinchen und alle, die etwa sonst noch in Betracht kamen, machten so viel Schmutz, erklärte seine Mutter; Hunde und Katzen waren ein Unfug und außerhalb der Wirtschaftsräume nicht erlaubt, und die Pferde im Stall waren zu groß und zu furchterregend.

Ein Junge von fünf Jahren ist bereits vom Geiste des zwanzigsten Jahrhunderts erfüllt; er wünscht sich zuverlässig funktionierende Maschinen oder lebendige Geschöpfe, die so maschinenähnlich wie möglich sind, Wesen mit feststehenden Eigenschaften, die man abrichten und zur Arbeit anstellen kann. Er verlangt nach etwas, das eigene Kräfte und Widerstände und aufgespeicherte Energien besitzt, aber Kräfte und Widerstände, die von dem kleinen Herren-Ich beherrscht werden können, sodaß die ungeheure fremde Macht ihm ganz wie seine eigene erscheint und es weit über sich selbst hinaushebt. Einem solchen Kind oder vielmehr einem solchen verwegenen Mechanikus wird ein bloßes Modell oder ein stofflicher Fetisch, wie es eine Puppe ist, nie mehr genügen; seine Lieblingsgeschöpfe und -spielsachen müssen Leben haben, müssen Kräfte bergen, die sich herausschmeicheln und lenken lassen – eine fortwährende Herausforderung zu fortwährendem Siege! Sein Instinkt ist männlich, vielleicht in Vorahnung des Weibes, doch denkt er nicht an das Weib. Denn in Wirklichkeit kann es ja geschehen, daß die Frauen, denen er später begegnet, es ablehnen, sich seinem Herrschertrieb zu unterwerfen, weil sie selbst herrschen wollen; der Gehorsam von Maschinen ist so viel exakter und wunderbarer! Weder Eltern, noch Führer, noch blinde äußere Mächte, noch Gott selbst werden einem solchen Fanatiker Ehrfurcht abnötigen. Er allein will richtunggebender Mittelpunkt sein. Alles, was nicht völlig lenkbar ist, wird er verachten und übersehen. Die große Heldentat wird für ihn darin bestehen, Kräfte einzuspannen, die unzähmbar schienen, und das Gute nur in der eigenen handgreiflichen Überlegenheit zu verehren.

Der fünfjährige Oliver hatte den tragischen Irrtum dieser Philosophie noch nicht entdeckt, und die Ankunft des Ponys gab ihm ausgezeichnete Gelegenheit, seinen Herrscherdrang zum ersten Mal zu betätigen. Fräulein hatte ihn manchmal mit in den Stall genommen, und er hatte das Kutschpferd in seiner Box und das Arbeitspferd, das lose an der Krippe angehalftert war, respektvoll bewundert, aber er hatte sich vor den hin und her wischenden Schwänzen und den grotesk beweglichen Mäulern der beiden Tiere doch erschreckt und war völlig ungerührt geblieben von Fräuleins Begeisterung über die sauberen Stände, die reinlichen Decken, das an der Wand hängende Geschirr und die gesunden, natürlichen Gerüche. Doch ein lebendiges Pony als Eigentum zu bekommen, das nicht höher war als sein Schaukelpferd, aber eine Mähne hatte wie ein Löwe – das war etwas ganz anderes.

Als er, zum Zerspringen geladen mit schweigender Spannung, plötzlich von seinem Vater aufgehoben und auf den Rücken des Ponys gesetzt wurde, war dieses Erlebnis eine Offenbarung. Jetzt hatte er nicht die mindeste Angst. Selbst das Vergnügen, da oben zu sitzen, verblaßte vor dem Trieb zu handeln. Sein Blick wurde ernst, er ergriff die Zügel fest mit beiden Fäusten und preßte seine Knie mannhaft gegen den Sattel. Niemals hatte er ein solches Verantwortungsgefühl verspürt. Natürlich würde er nicht herunterfallen, aber die Hauptsache war, den Zügel nicht allzu scharf anzuziehen, um »Dumpy« nicht zu verletzen, und ihn doch fest genug anzuziehen, um das Tier zum Aufpassen zu zwingen.

Bald wurde ihm offenbar, daß das Geheimnis der Führung nicht so sehr in Anwendung von Gewalt als in Anwendung von Suggestion bestand; und damit die Suggestion gelang, mußten zuerst die in Dumpy selbst ruhenden Möglichkeiten berücksichtigt werden. Man mußte seine dumpfe Seele erobern, durfte sie nicht vergewaltigen; und auf dieser freundschaftlichen Basis begründete das Kind sogleich eine feste, durch und durch verantwortungsvolle Herrschaft über das Tier – zu dessen offenkundiger Zufriedenheit und zu seiner eigenen Freude über die schwerwiegende Entdeckung, daß es seine Pflicht war zu herrschen, und daß er zu herrschen verstand.

Dumpy wurde das Sinnbild der Welten, die es zu erobern gab. Jetzt war es Fräulein, welche die gemeinsamen Unternehmungen zu ehrgeizig fand und immer meinte, es sei Zeit für den Heimweg. Als das Interesse an Dumpys Bezwingung abflaute – der faule Kerl wollte einfach nie mehr als ein paar Meter hintereinander traben – gewann er neuen Wert als Sitz für friedliche Beobachtungen. Sie konnten nun weit über den Friedhof und die Irrenanstalt hinausgelangen und landeinwärts über die sanfteren Hänge von High Bluff hinunter zu den Farmhäusern und den kleinen Waldparzellen, oder gar weiter hinauf an den plätschernden Fluß und die kleinen Teiche. Da gab es Kühe, Eichhörnchen, Ameisenhaufen und Krähen; ach, was für Bilder und Verwandlungen mochte die Welt weit draußen noch zeigen! Doch während so der landschaftliche Umkreis sich erweiterte, schien das Leben daheim seine langweilige Tyrannei erst recht auszudehnen und zu befestigen.

Manchmal nahm Fräulein den Jungen zum Haarschneiden oder zum Einkauf von neuen Schuhen oder zum Anprobieren beim Schneider mit in die Stadt. Auch das waren festliche Ausflüge, denn er konnte sich dann wenigstens im Wagen hinstellen, von einem Fenster zum andern laufen und sehen, was auf der Straße vor sich ging. Wenn sie ausstiegen, konnte er stehen bleiben, um die Schaufenster zu betrachten; und während Fräulein mit der sorgfältigen Auswahl der richtigen Artikel beschäftigt war oder mit dem Hervorsuchen und Öffnen ihres Geldtäschchens oder mit dem Zahlen – was immer viel Zeit und angestrengtes Runzeln ihrer fast augenbrauenlosen Stirn erforderte – konnte er den andern Kindern zuschauen, die sich so sonderbar balgten, neckten und umherjagten; er konnte auch den dicken Polizisten mitten auf der Straße betrachten und die Verkaufsstände für Orangen und Erdnüsse an jeder Ecke.

Seltener fuhr er in dem gleichen Wagen mit seiner Mutter in die Stadt, und dann immer zum Zahnarzt. Nicht umsonst war Mrs. Alden Arzttochter und Arztgattin, und wenn sie auch aus Weisheit oder Indolenz bei fast allen andern Gelegenheiten ihre Autorität auf Fräulein übertrug, so griff sie doch entschlossen selbst ein, sobald es sich um Dinge der Gesundheit und medizinischen Lebensregelung handelte. Man konnte sich nicht darauf verlassen, daß eine ausländische Erzieherin die ungeheure Wichtigkeit der Körperpflege einsah. Ausländer hatten womöglich noch nie davon gehört, daß man auf Terrassen im Freien schlief, und hatten am Ende sogar den niederträchtigen Hang beibehalten, nachts die Schlafzimmerfenster zu schließen. Als Fräulein zum ersten Mal erfuhr, daß ihr Zögling zum Zahnarzt sollte, obwohl er erst seine Milchzähne hatte und offenbar nichts an ihnen fehlte, war sie unschuldig mit ihrem Erstaunen herausgeplatzt; als ob es nicht die Pflicht jedes zivilisierten Menschen wäre, seine Zähne jedes halbe Jahr nachsehen und reinigen zu lassen!

Für Oliver selbst bedeuteten diese Besuche beim Zahnarzt feierliche Begebenheiten: einmal waren die Prozeduren länger und unangenehmer als beim Haarschneiden, dann aber tat auch die grimmig grausame Schaustellung von Tabletts und Schubfächern voller Stahlhaken, Meißel und Lanzetten ihre Wirkung; ferner gab es monströse, schnurrende Instrumente, die wie riesig vergrößerte Spinnenbeine aussahen. Aber das Ganze fing mit dem beklemmenden Zwang an, still an der Seite der Mutter im Wagen sitzen zu müssen (genau das gleiche beklemmende Gefühl hatte Oliver in späteren Jahren, wenn er neben ihr in der Kirche saß); denn sie haßte alles unruhige Wesen und wollte ihn nicht aufstehen und aus dem Fenster schauen lassen. Sie sagte, es sei draußen nichts zu sehen. Es gab in der Tat nichts besonders Bemerkenswertes auf der langen, weitläufigen Fahrt den Berg hinab in die Stadt; und doch – es gab Bilder und gab Eindrücke; und nach Bildern und Eindrücken dürstete der junge Geist, ohne zu fragen, ob sie bemerkenswert oder gar schön seien.

Schon die Dinge vorbeifliegen zu sehen, war Erregung genug. Zuerst kamen die beiden Granitpfosten und die beiden großen Ulmen, die die Stelle anzeigten, wo der Aldensche Privatweg auf die öffentliche Straße mündete; dann fuhr man vorbei am Tor des Friedhofs und am Tor der Anstalt, wo die Straßenbahn hielt; dort war vielleicht gerade ein leerer Wagen zu sehen, der kreischend um die Kurven bog und über die Weichen ratterte, wenn er wendete und sich unter heftigen Klingelzeichen für den Aufbruch zur abschüssigen Fahrt nach der Stadt rüstete. Dann kamen leere Bauplätze mit großen schwarz und weißen Tafeln, die besagten, daß hier der Grund und Boden begehrenswert und billig sei; denn die Hoffnung, daß High Bluff ein beliebtes Wohnviertel werden würde, hatte die letztvergangene Hausse in Bauunternehmungen nicht überlebt; die Bevölkerung hatte sich in andern Vorstädten ausgebreitet.

Nun war man am Fuße des Hügels angelangt, und Patrick lockerte die Bremse und begann den Gaul schneller und regelmäßiger traben zu lassen, wenn er nicht etwa am Bahnübergang halten mußte, wo sich oben über die Straße eine warnende Inschrift langhin spannte: Achtung vor der Lokomotive!

Hier befand sich an der einen Seite der Laden eines Negerbarbiers und an der andern ein Schnapsausschank; man näherte sich der Zivilisation. Von nun an war die Straße von großen, aber etwas beschädigten und wackeligen Bauzäunen eingefaßt, an denen entlang Maisflocken, Papierkragen und Gummiabsätze auf gigantischen und grellfarbigen Bildern gekauft zu werden verlangten. Hinter diesen umfangreichen Zäunen konnte man an einzelnen Stellen die gemarterten Überreste eines schäbigen Waldes erblicken, dessen Boden mit Konservenbüchsen, Papierfetzen, zerbrochenen Flaschen und gelegentlich etwa mit einem alten Schuh verunziert war. Es sollten eines Tages die Uferanlagen daraus werden, denn auf der andern Seite berührte jetzt die Straße den Fluß, der die großen Fabriken und Industriewerke des jenseitigen Ufers widerspiegelte; die hohen rauchenden Schornsteine zeugten davon, daß das Unternehmertum von der Kraft des Wassers, durch die es sich ursprünglich hatte anlocken lassen, schon keinen Gebrauch mehr machte.

Oliver staunte dies alles immer verständnislos an; aber seine Einbildungskraft regte sich, sobald sie die Brücke erreichten, besonders wenn sie auf ihren schwankenden Mittelteil kamen, der in die Höhe gezogen werden konnte, um die Schiffe auf dem Fluß durchzulassen. Als er älter wurde, konnte er, wenn er den Hals recht verrenkte, von hier aus gerade die glänzenden Mühlenteiche und Kanäle sehen, das Wasser, das unter den Mühlrädern hervorschoß, und ganz hinten die Ruderboote und Kanus, die vor Murphys Bootshaus festgemacht waren. Gibt es in der Welt etwas Verlockenderes als fließendes Wasser und die Möglichkeit, sich darauf fortzubewegen? Gibt es ein besseres Sinnbild des Lebens und der Aussicht, darüber zu triumphieren?

Nachdem diese leuchtende Vision verschwunden war, sank Oliver gewöhnlich in seine Wagenecke zurück; alles, was noch kam, war, wie seine Mutter richtig bemerkte, nicht des Anschauens wert. Beim Zahnarzt jedoch gab es dann wenigstens noch Treppen zu erklettern, Klingeln zu läuten, einen merkwürdigen Stuhl zu ersteigen; und schließlich befand man sich in der Nähe jener großen Spinnenbeine, die im Kreise wirbelten und schnurrten und schnurrten.

Diese Fahrten fand auch Mrs. Alden langweilig; denn die großen Wandlungen, die Great Falls während ihrer Zeit durchgemacht hatte, bedeuteten für sie eine Selbstverständlichkeit, so sehr sie auch den Grundstücksmakler und den Steuerbeamten interessieren mochten. Sie war höchstens etwas verdrossen und beunruhigt darüber, daß seither ein fremder Menschenschlag, der ihre Überlieferung nicht teilte und ihren Rang nicht anerkannte, ihre kleine Welt überflutete. Einem Philosophen freilich hätte es viel Vergnügen gemacht, auf diesem Schauplatz umherzuschlendern und sich an den verschiedenen Veränderungen zu ergötzen. Unterhalb der neuen Fabriken und der gebrechlichen Brücke, die an der Stelle ehemaliger, jetzt kanalisierter und überbauter Stromschnellen lag, erweiterte sich der Fluß zu einem See, der Südteich genannt wurde; dort lag, noch immer lieblich mit welligen Hängen, die alte Dorfwiese, nach allen Richtungen hin durchzogen von Querpfaden, die von reichlichem Ulmenbestand beschattet wurden; in ihrer Mitte erhob sich ein Kriegerdenkmal. Am Rande dieser Gemeindewiese aber standen im Halbkreis allerlei seltsam zusammengewürfelte Gebäude: zwei oder drei bequeme Holzhäuser aus früherer Zeit, zwei Kirchen, die eine aus rotem Backstein mit einem kuppelbedeckten Glockentürmchen im Stile Wrens, die andere gotisch, mit großem, schrägem Dach und spitzem, grauem Steinturm; ferner das alte Rathaus, jetzt öffentliche Bibliothek, und das alte Gerichtsgebäude, jetzt Verkaufshalle für gebrauchte Möbel. Das neueste Gebäude in dieser Umgebung, der Musterbau der Schule mit seinen weiten Glasfensterflächen und einem wahren Walde von Ventilatoren auf dem Dach, war erst kürzlich entstanden; er sollte ein paar Jahre später das Ziel von Olivers täglicher Pilgerfahrt werden.

Inmitten aller Neuerungen bewahrten die grünen, schattigen Flächen der Gemeindewiese eine Atmosphäre von Ruhe, Erholung und lässiger Freundlichkeit. Hier und da saß ein kümmerliches altes Menschenkind auf einer Bank und genoß offenkundig das Nichtstun. Spatzen hüpften zwitschernd umher, und welke Blätter wurden, ganz wie zu Zeiten Homers, von einem Windstoß durcheinandergewirbelt oder von einem bejahrten Gärtner zu Haufen zusammengekehrt. Trotz allem schlug hier das Herz des lärmenden, rastlosen Stadtgebildes, das aus diesem stillen Dorf hervorgegangen war und es überwuchert hatte, bis es fast erstickt und vernichtet war. Noch aber lebte hier die alte Einfachheit tief verborgen unter einer Schicht von Getöse und Getriebe, freudloser Unternehmungssucht und widerwärtigem Geschäftsgeist. Die neue Welt begann an der Ecke, wo sich die Hauptstraße und die Kastanienstraße trennten und sich in die Banken, Läden und klingelnden elektrischen Bahnen der aufstrebenden Provinzstadt gewissenhaft teilten. Und von jenem alten ländlichen Mittelpunkt aus hatte sich auch ein langer Fühler nach High Bluff und dem Haus der Bumsteads ausgestreckt, wo schon drei oder vier Generationen mit günstigen und widrigen Schicksalen und mit gutem und schlechtem Gewissen gekämpft hatten.

»Mutter«, sagte Oliver eines Tages, als sie die Brücke und das Bootshaus passierten, vor dem Mrs. Murphy saß und nähte, wobei sie ihren jüngsten, krabbelnden Sprößling etwas unbequem auf dem Schoß hatte, »Mutter, warum läßt sie das Kleine nicht auf der Bank sitzen?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Mrs. Alden, ohne hinzusehen. »Das Kind ist wohl noch zu klein und kann nicht allein sitzen.«

»O nein, es ist fast so groß wie ich.«

Mrs. Alden mußte nun doch hinschauen und war etwas gereizt. Aber es war ihr festes Prinzip, niemals Ungeduld zu zeigen. So tat sie, als dächte sie ernstlich über die Sache nach. »Vielleicht ist der Junge schläfrig«, sagte sie, »und die Frau fürchtet, er könnte von der Bank herunter und ins Wasser fallen.«

Während ihre Lippen mechanisch diese Worte formten, kam ihr selbst zum Bewußtsein, daß sie Unsinn redete; denn bei ihrer Hypothese hätte ja der schläfrige Junge erst mehrere Meter auf ebenem Boden weiterrollen müssen, bevor er in den Fluß fallen konnte. Würde Oliver das merken? Und in der Besorgnis, er käme dahinter, erhob sie sogleich die Diskussion auf eine höhere Ebene und wandte sich von den physikalischen Betrachtungen lieber zu moralischen; ein guter Ausweg, wenn die Tatsachen einer Behauptung widersprechen!

»Sicherlich« meinte sie etwas mißmutig, »geschieht es aus purer Dummheit. Wahrscheinlich kann es sich die Frau nicht leisten, ihrem kleinen Jungen fürs Haus solch einen Stuhl anzuschaffen, wie du ihn im Schulzimmer hast; und so hat die arme Person sich angewöhnt, ihn auf den Schoß zu heben, selbst wenn sie draußen sind und noch eine Menge Platz auf der Bank neben ihr ist. Schließlich kommen solche Leute so weit, daß sie es geradezu lieben, sich so zusammenzudrängen. Dabei ist es einfach abstoßend; es ist auch ungesund für den Jungen, und so unbequem! Aber ungebildete Leute sind eben so.«

Aus einer weit, weit zurückliegenden dämmerigen Vergangenheit, so, als hätte es sich in einer anderen Welt oder in einem Leben vor der Geburt zugetragen, erinnerte sich Oliver hier des längst erloschenen Vorrechts, auf dem Schoß seiner Mutter zu sitzen. Was für ein sicherer, sanfter, bequemer Zufluchtsort war das gewesen; wie ein König auf dem Thron, den die dichten Reihen seiner Leibgarde umgeben, hatte man sich getragen und umhegt gefühlt von einer Fülle liebenden Schutzes, und die Landschaft draußen, die mit bunten, flüchtigen Bildern hereingrüßte, war damals das unterhaltendste Schauspiel gewesen, das überraschte und erregte, aber einem nichts anhaben konnte; es war, als erzählte die Mutter selbst eine Geschichte, zu der alle die Bilder gehörten. Aber jetzt in der wirklichen Welt, wo man allein saß und zum Zahnarzt mußte, schien dieser warme Mittelpunkt des Lebens erkaltet zu sein, und nur die Außenbereiche kamen einem freundlich entgegen: eine unberührbare Welt, wo Flüsse rauschten und blitzten und die Pfeifen von Schleppern ertönten und leuchtend braune Boote und Kanus am Landungsplatz zusammengetäut waren wie Bananenbündel und Mrs. Murphy nähend in der Sonne saß und ihr Kind an ihren breiten Busen drückte.


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