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3

Fräulein Schlotes Erscheinen war in jeder Hinsicht ein Segen. Von Anfang an lächelte ihr Mrs. Aldens Gunst, von der alles abhing. Schon Irmas erster Anblick war ihr eine große Erleichterung gewesen.

Die Aussicht auf eine ausländische Erzieherin hatte Gedanken an manche unangenehmen Möglichkeiten, selbst an Verbrechen aufkommen lassen: könnte sie nicht Mrs. Aldens Juwelen stehlen oder einen heimlichen Buhlen haben oder aus purer Bosheit das Haus anzünden? Doch nein, dies hier war keine von den mageren, dunklen, streng kritischen Ausländerinnen mit aristokratischen Ansprüchen; keine verbitterte große Dame, die durch widrige Umstände gezwungen war, sich in die Abhängigkeit einer reichen, von ihr verachteten Barbarenfamilie zu begeben.

Diese Irma war ganz freundliche Ergebenheit und ungeheuchelte Bewunderung; zudem solch kleines, blondes Ding, das jünger als seine zwanzig Jahre aussah, ein Kind geradezu, doch nicht allzu hübsch oder allzu gut gekleidet; sie hatte nicht das geringste von einer künftigen Rivalin oder Kritikerin an sich, sondern eher etwas von einer verehrenden Schülerin oder einer dankbaren, armen Verwandten. Sie konnte mit der vollen Verantwortung für den Kleinen betraut werden, ohne sich dabei etwa selbst als eine neue schlimmere Belastung zu entpuppen.

Mrs. Alden liebte es, wenn man sie bediente und ihr gehorchte, aber sie haßte Dienstboten. Dienstboten waren fremdartige Wesen, die sie nervös machten wie fremde Katzen in ihrem Zimmer. Stets blieb ihr auf unangenehme Weise bewußt, daß sie hinter ihrem Rücken umhergingen oder verstohlen an den Türen vorbeistrichen. Es war so anstrengend, sich von Geschöpfen beobachtet zu fühlen, die innerlich selbständig und vielleicht feindlich waren, wenn sie auch harmlos dem gewohnten Tagewerk hingegeben schienen; sie kamen ihr vor wie Automaten, die man beaufsichtigen mußte, um festzustellen, ob sie richtig weiterarbeiteten und taten, was man von ihnen verlangte. Die Beziehung zwischen Herrschaft und Diener dünkte sie im höchsten Grade unmenschlich und unsittlich; sie begrüßte alle maschinellen Hilfsmittel und alle sozialen Einrichtungen, die Dienstboten überflüssig machten. Ihre Sippe hatte längst jenes barmherzige Fundament der christlichen Gesellschaft eingebüßt, das ehemals eine liebevolle, heitere Familiengemeinschaft zwischen Hoch und Nieder ermöglichte und eine buntscheckige Welt der Rivalität und des Neides enthob.

Niemals hätte Mrs. Alden mit Anstand die Herrin eines großen Hauswesens vorstellen können, etwa in einer Burg oder in einem Palast voller Fahrender und Bewaffneter, hämmernder Handwerker, spinnender alter Frauen, spaßiger Narren, schaffender, singender Mägde, zechender Männer und bettelnder Mönche. Sie gefror zu Eis, wenn sie mit einer andern Menschenschicht in Berührung kam. Überlegene Macht und Würde waren ihr unerträglich; konnte sie etwas Höheres nicht nachahmen, so verneinte sie es. Und ebenso fühlte sie sich beleidigt durch den geringsten Anflug von Derbheit oder Einfalt unterhalb ihres eigenen Niveaus.

Ihr sittliches Ideal war die Demokratie, aber eine Demokratie der Auserwählten. Es konnte nicht von Unterdrückung die Rede sein, wenn man Leute, die wirklich alle gleich waren, gleichförmig behandelte; und eine solche Gesellschaft verlangte von ihren Mitgliedern ja nur, was diese, wenn sie anständig waren, von sich selbst verlangten. Sie vermochte sich das Leben nur in Gestalt einer Sippenherrschaft zu denken, deren Glieder im Besitz gleicher Rechte und ähnlicher Tugenden zu sein hatten. Jenseits der Pfähle ihres Stammes konnte nur äußerste Finsternis herrschen – eine fremde, heidnische, unbegreifliche Welt, die so fern wie möglich gehalten werden mußte. Natürlich: wenn man daheim keinen Tee bauen konnte, so mußte man ihn aus China oder Ceylon beziehen, fand sie. Und ebenso hielt sie es auch für notwendig, daß man mit der schrecklichen Welt da draußen manchmal Krieg führte, um ihr eine Lektion zu erteilen, wenn sie zu unbotmäßig wurde. Es war aber bei weitem das beste, diese Welt gänzlich zu ignorieren. Sie hätte gar nicht vorhanden sein dürfen!

Glücklicherweise lebten in Amerika die eingewanderten arbeiten-* den Klassen in ihren eigenen Bezirken und Wohnungen wie die Juden im Ghetto. Man brauchte keinen persönlichen Kontakt mit ihnen zu haben; und soweit es Mrs. Alden anging – denn sie gehörte nicht zu denen, die sich in alles einmischen – sollten sie ruhig ihre eigenen Sitten und Religionen beibehalten, sogar ihre Sprache, wenn sie es fertig brachten; aber als Dienstboten in ihrem Haus waren sie schreckliche Eindringlinge.

Dieses Fräulein nun war kein Dienstbote, sondern die Tochter eines Pfarrers, die beinahe Mrs. Aldens Schwägerin geworden wäre, wenn nicht ein glücklicher Zufall es verhindert hätte; denn eine ausländische Schwägerin wäre eine rechte Heimsuchung gewesen. In abhängiger Stellung jedoch würde sich Irma sehr nett machen; liebte sie doch die Küche, die Mrs. Alden verabscheute und niemals aufsuchte, liebte die Vorratskammer, die Schränke, den Kofferraum und den Speicher, wußte bald, wo alles war, verstand die Wäsche herauszugeben, das Silber und das Porzellan zu zählen und wegzuschließen, überhaupt den Haushalt so zu ordnen, daß die Dienstboten kaum mehr vorhanden zu sein schienen oder sogar freundlich und zufrieden aussahen, wenn man sie zu Gesicht bekam. Es war eine ungeheure Erleichterung für die Herrin des Hauses, eine Offenbarung dessen, was Behaglichkeit eigentlich hieß, eine Belohnung dafür, daß sie so selbstlos nur an Olivers Wohl gedacht hatte und bereit gewesen war, eine fremde Frau in ihr Haus aufzunehmen; nun fügte es die Vorsehung, daß diese fremde Frau Mrs. Alden die kleinlichen Sorgen abnahm und ihr ermöglichte, sich höheren Pflichten im öffentlichen Leben zu weihen.

Außerdem konnte Fräulein, wenn sie Oliver zu Bett gebracht hatte, wieder herunterkommen, sich auf den niedrigen Schemel zwischen der Lampe und dem Feuer setzen und ihr vorlesen – welche Erholung für die Augen! Oder sie konnte schnell in ihr Schlafzimmer kommen und ihr sanft und sorgfältig das Haar bürsten; das war nicht nur angenehm (darum hätte sich Mrs. Alden nicht viel gekümmert), sondern gut gegen ihre Neuralgie und ausgezeichnet für die Kopfhaut, denn ihr Haar begann dünn zu werden.

Es war im Interesse ihrer geistigen Tätigkeit höchst wichtig, daß Mrs. Alden ihre Gesundheit schonte. Ein Gatte und ein Kind genügten nicht, ihr Leben auszufüllen, und sie hatte sich entschlossen, keine Kinder mehr zu bekommen. Im allgemeinen natürlich, zumal bei Leuten von guter, altamerikanischer Herkunft, war sie für große Familien; aber in ihrem speziellen Falle würde das wissenschaftlich nicht gerechtfertigt sein. Schon Oliver wirkte wie das Kind eines alten Mannes; sie hatte von ernsten Gefahren in dieser Hinsicht gelesen – und auch für sie würden weitere Geburten eine zu große Anstrengung bedeuten. Jede Frau konnte Kinder kriegen; ein Wesen aber, das Geist besaß, sollte Freiheit genießen, um ihn zu bilden.

Es war ein Segen, daß man es Fräulein anvertrauen konnte, mit der Köchin zu verhandeln, ein Auge auf den Gärtner zu haben und nachzusehen, daß an jedem Tag der Woche die richtigen Zimmer gekehrt und gründlich geputzt wurden. Dies ermöglichte es Mrs. Alden, sich nach dem Frühstück, wenn ihr eigenes Zimmer aufgeräumt war, dorthin zurückzuziehen und ein wenig auszuruhen – irgendwie fühlte man sich heutzutage morgens nicht mehr so frisch – während das ›Boston Transcript‹ oder ›Little's Living Age‹ oder das ›Atlantic Monthly‹ offen, aber ungelesen in ihrem Schoße lag (denn illustrierte Zeitschriften hielt sie für recht gewöhnlich). Und da sie ohnehin von einem neuen Ereignis oder einer bedeutenden Idee bestimmt bei den Zusammenkünften des Wohltätigkeitsvereins, des Kunstvereins und der Shakespeare-Gesellschaft zu hören bekam – nicht zu vergessen Letitia Lamb, die an den übrigen Nachmittagen allen Klatsch frisch von der Stadt hereinbrachte – brauchte sie wirklich nur die Schlagzeilen der Zeitung und die Todesanzeigen zu überfliegen, um über alles auf dem Laufenden zu sein.

Während sie auf diese Weise ihren Geist bildete und durch ausreichende Ruhe ein Erlahmen ihrer allgemeinen Interessen verhinderte, hatte sie das befriedigende Bewußtsein, daß inzwischen der kleine Oliver in seinem Musterschulraum und in dem sonnigen Spielzimmer mit den Glaswänden, das am andern Ende des Hauses eigens für ihn angebaut worden war, bewundernswert erzogen wurde, besser tatsächlich, als wenn sie sich darauf versteift hätte, seine Entwicklung selber zu überwachen. Es war nun einmal so, daß kleine Kinder, auch wenn sie sich später als sehr begabt erwiesen, zuerst besser mit alltäglichen, simplen Seelen wie Fräulein auskamen und ihnen nachliefen, wie sie den Tieren nachliefen, während die Art ernsthafter, hochkultivierter Leute Kinder befremdete. Wenn Oliver erst älter wäre, würde er schon den Unterschied begreifen und würde lernen, bei seiner Mutter Führung und Zuneigung zu suchen, wie es das Natürliche war. Aber noch war er nicht so weit, daß er ihre tieferen Qualitäten zu würdigen wußte, und zog mehr Nutzen aus dem Zusammensein mit Fräulein. »Wenn meine Freunde mich dies sagen hörten«, dachte Mrs. Alden, »würden sie einwenden, daß ich viel zu bescheiden sei; aber alle wirklich überlegenen Menschen sind eben bescheiden«.

Peter Alden, der es liebte, still in sich hineinzulachen, amüsierte sich in seiner Art über den glücklichen Zufall, der so völlig auf die Verantwortung seiner Frau und auf die Veranlassung ihres Lieblingsbruders hin eine Person ins Haus geführt hatte, die ganz nach seinem eigenen Geschmack war. Theoretisch hätte er zwar eine englische oder sogar eine französische Gouvernante bevorzugt, wegen jenes Hauchs von verfeinerter, kühler Lebensart, die von einer Deutschen nicht erwartet werden konnte; aber Oliver war von Natur feinnervig und zurückhaltend und brauchte vielleicht eher den Anreiz einer unverfälschten Begeisterung.

Begeisterung nun besaß Fräulein, und ebenso eine ungewöhnliche Sprachfertigkeit; wenn man sie wegen ihres ausgezeichneten Englisch beglückwünschte, pflegte sie zu sagen: »Ich spreche auch fließend französisch.« Ihr Englisch war das britische – musikalisch, abgeschliffen und rein; doch entging es der Feindseligkeit, mit der man die Sprache einer wirklichen Engländerin kritisiert hätte; es galt einfach für ausländisch.

Peter war entzückt, solcherweise mit Genehmigung der Zollbehörde Konterbande in seine Familie eingeschmuggelt zu sehen; manchmal war doch die Ungereimtheit des Lebens zugleich seine einzige Rechtfertigung! Vielleicht tat es überhaupt besser, wenn man dem Stamm der Aldens ein wenig teutonische und lutherische Aufgeklärtheit aufpfropfte, statt noch mehr verfeinertes, wählerisches Lebensgefühl – wie kräftig und selbstbewußt war doch diese deutsche Kultur, verglichen mit der blassen, einheimischen Tradition! Fräulein war ein wahrer Schatz; aber Peter vermied von Anfang an jeden zu warmen Ausdruck seiner Zufriedenheit. Er behandelte die junge Person mit oberflächlicher Höflichkeit und ließ seiner Frau gegenüber eher durchblicken, daß er deutsche Methoden und deutsche Gefühle lächerlich finde. »Wenn Harriet ahnte«, dachte er bei sich, »welchen Balsam für mein väterliches Gewissen dieses Fräulein bedeutet, würde sie sie sofort ihre Sachen packen lassen.«

Irma selbst fand den Herrn Doktor recht kalt und sphinxhaft und fürchtete, er könnte sie nicht leiden, bis sie zu Weihnachten ein sehr großzügiges Geschenk von ihm erhielt mit einer Karte aus Havana, auf der er Fräulein Schlote seinen Dank für ihre Leistungen und ihre Aufopferung aussprach. Auf einem beigelegten Streifen Papier aber stand noch: »Sie können Mrs. Alden diese Weihnachtskarte zeigen, aber bitte, sprechen Sie nicht über den Scheck. Das muß ein kleines Geheimnis zwischen uns beiden bleiben.« Das Geheimnis wurde jedoch sofort der Schwester in Göttingen in einem sechzehn Seiten langen Brief enthüllt, der mit Freudentränen benetzt war.

Was den kleinen Oliver selbst betraf, so machte weder das Verschwinden der alten Pflegerin, noch das Erscheinen des neuen Fräuleins besonderen Eindruck auf sein junges Gemüt. Er war an Fremde gewöhnt und fürchtete sich nicht vor ihnen; sie verhielten sich alle sehr ähnlich; ja, für sein transzendentales Bewußtsein waren diese großen Gestalten, die sich hin- und herbewegten und irgend etwas taten – seine Pflegerin, seine Mutter und die übrigen – sämtlich genau so fremd, wenn auch vertraut und harmlos wie die Elefanten im Bilderbuch; und vorläufig war auch Irma nur eine solche neue Gestalt, schmächtiger und flinker als die andern.

Allmählich jedoch wurde er einen Unterschied gewahr. Ihre Bewegungen waren etwas anderes als die mehr oder weniger notwendigen und feststehenden Handreichungen Miß Tirkettles, es kam Sympathie und Scherz in ihnen zum Ausdruck: Irma war herzlich zu ihm. Ihr Wesen begann gleichsam in das seine einzustrahlen. Die Disziplin wurde lockerer; es war nicht mehr Vorschrift, daß er nur mit dem reinen Sand spielen durfte, der eigens für ihn herbeigeschafft worden war, sondern er durfte sich nun seinen Sand vom Gartenweg holen, wo er wollte. Doch während er von diesem neuen Vorrecht Gebrauch machte, war er keineswegs entzückt darüber oder Irma besonders dankbar dafür; er vergaß einfach, daß dies ein neues Vorrecht war, und nahm es als selbstverständlich hin. Wohl war der Ablauf des täglichen Lebens beweglicher geworden und ließ der Laune etwas mehr Spielraum. Aber war Laune weniger lästig als Gesetzmäßigkeit? Beides schien über ihn verhängt durch eine geheimnisvolle Schicksalsmacht oder durch einen ansteckenden fremden Willen, den er zu seinem eigenen machte, ohne recht zu wissen und ohne selbst zu wünschen, was er tat.

Doch wenn er auch zuweilen über die Langweiligkeit des Daseins ein wenig seufzte, so wäre es ihm doch nicht eingefallen, sich zu beklagen, oder aufzubegehren. Dies war die Ordnung des Universums, und seine Mutter sagte, er sei um vieles glücklicher als andere kleine Jungen, die arm wären und keine Spielsachen hätten, sondern ihre Zeit damit hinbringen müßten, in der Gosse zu wühlen und Taugenichtse zu werden.

Es war entschieden eine Erlösung für ihn, als er den Kinderwagen los wurde und zu Fuß mit Fräulein draußen im Freien spazieren gehen konnte. Die Gefangenschaft in dem engen, beklemmend luxuriösen Wagen brachte einen allmählich zur Verzweiflung! Nun war er wenigstens ein kleiner Mann auf zwei Beinen; aber noch genoß er keine unumschränkte Freiheit. Manchmal bestand Fräulein darauf, ihn an der Hand zu führen. In der ersten Begeisterung ihres Aposteltums bemüht sie sich eifrig, gemeinschaftliche Freuden für sich und ihren kleinen Zögling zu entdecken oder zu erfinden. Jede hübsche Blume, jeder reizende Schmetterling, jedes liebe Vögelchen mußte gezeigt, beschrieben und bewundert werden. Es war für Olivers Ohr eine gute Übung im Deutschen und gewissermaßen auch eine Einführung in den Reichtum der Natur, doch nahm er alle diese feurigen Unterweisungen etwas mürrisch auf; es hätte ihn nicht gelangweilt, allein und schweigend umherzulaufen.

Und manchmal dehnte Fräulein diese Streifzüge länger aus, als ihm lieb war. Er war kein solches Baby mehr, daß er gesagt hätte, er sei müde oder heiß, oder er möchte lieber getragen werden; und von dem alten Kinderwagen, selbst wenn man einen Augenblick an ihn dachte, konnte nicht die Rede sein. Er wollte lieber die gegenwärtigen Beschwerlichkeiten ertragen, als zu den früheren zurückflüchten, die er allzu gut kannte. Wenn ein Steinchen in seinen Schuh geriet, so war das unangenehm, aber er klagte nicht. Steinchen galten nicht als offizieller Grund, um stehen zu bleiben oder nach Hause zu gehen, als wäre es schon Zeit zum Heimweg. Die Zeit, die rechte Zeit für jedes Ding war die heiligste Norm, nach der man leben mußte. Steinchen waren unbedeutende Zwischenfälle, so wie gewisse körperliche Bedürfnisse; und wenn Fräulein vor absichtlichem Entzücken stöhnte und sagte, sie müßten bis zur Spitze des Hügels kommen, die Aussicht wäre dort so wunderschön, so hatte man stoisch den Hügel zu erklimmen.

Die Aussicht bedeutete ihm nichts; aber bis er sich tapfer zum Gipfel hinaufgearbeitet hatte, war das Steinchen vergessen; und falls er es später, nachdem er den Hügel wieder heruntergerannt war, an einer andern Stelle spürte, wußte er, daß sie jetzt ohnehin heimgingen. So war es eben auf Spaziergängen; und wenn er vor dem Essen Schuhe und Strümpfe wechselte, konnte er das Steinchen entfernen. Er wußte, Schmerz spielte keine Rolle, falls kein körperlicher Schaden entstanden war; und das nächste Mal wollte er schon daran denken, seine beiden Schuhe fest zuzuschnüren, sodaß in keinen ein Steinchen käme.

So bildete der junge Philosoph seinen Charakter selbst, doch was die äußere Bereicherung betraf, so versäumte Fräulein ihre Pflicht keineswegs. Konnte es eine bessere Grundlage tiefer und wahrer Bildung geben als die Kenntnis der deutschen Sprache? Das Deutsche war keine so künstliche und zufällige Sprache wie das Französische und das Englische, die aus der Verderbnis und Vermischung verschiedener alter Sprachen entstanden waren. Es war eine Ursprache, eine Sprache des Herzens; und um sie den kleinen Oliver auf gefühlsmäßigere und mütterlichere Art zu lehren, pflegte Fräulein ihn auf den Schoß zu nehmen und mit ihm über die Dinge draußen vor dem Fenster oder in dem Bilderbuch, das offen auf dem Tisch lag, zu sprechen. Nach kurzer Zeit wußte er die Namen aller Dinge auf Deutsch ebensogut wie auf Englisch oder sogar besser; ja, mehr noch, er konnte deutsche Verse und Gebete aufsagen (obwohl man sie ihn nicht beten lehrte) und sogar kleine deutsche Lieder singen. Dies war seine Lieblingsbeschäftigung, denn Fräulein schlug den Takt wie ein Kapellmeister, und er machte es ebenso; sie sagte, vielleicht würde er später einmal Dirigent eines großen Orchesters werden, und statt daß er allein im Takt sänge, würden dann sechzig oder hundert Violinen, Flöten und Posaunen nach seinen Taktschlägen spielen. Das war ein großer, ungeheuer anfeuernder Gedanke, denn Olivers Geist war weniger anschauend als verarbeitend tätig; der bloße Kontakt mit den Dingen bedeutete ihm nichts, die Einverleibung alles. Was er bloß gesehen oder gehört hatte, blieb für ihn ein Bild oder eine Geschichte; eine äußere Kraft, ein fremder Rhythmus mußten erst in ihn eingehen und ein Teil seines Rhythmus und seiner eigenen Willensrichtung werden, wenn er sie je ganz erfassen oder wichtig nehmen sollte. Und hatte er einmal etwas aufgenommen, verdaut und mit einer moralischen Etikette versehen, so war gleichsam die Orange ausgequetscht; ihre Kraft war aus ihr in ihn übergegangen; und ob und wie sich die verschmähte Schale und das zerdrückte Fleisch jenem uns scheinbar umgebenden wirren Haufen von nicht-moralischen Erscheinungen zugesellen würden, das ließ ihn ganz kalt. Alles war nur wirklich, soweit es für ihn und in ihm war: soweit er es verarbeitet hatte.

Nicht daß seine Anschauungskraft mangelhaft oder spröde gewesen wäre, im Gegenteil, sie hatte die automatische Genauigkeit eines erstklassigen Mechanismus; und in späteren Jahren war er immer der Beste in seiner Schulklasse und bei allen sportlichen Spielen, soweit es sich dabei um persönliche Geschicklichkeit handelte. Seine Sinne, seine Nerven, sein Gedächtnis bedienten ihn ausgezeichnet, wenn er sie nur einfach gewähren ließ. Alles handwerkliche, stoffliche Wissen – Daten, Konjugationen, Beweise zeichnete sich wie von selbst frühzeitig in den leidenschaftslosen oberen Regionen seines Gehirns ein, um bei der richtigen Gelegenheit fast fehlerlos angewandt zu werden.

Inzwischen schlief das Herz oder träumte von etwas anderem. Es blieb unreif selbst in der Zeit seiner Männlichkeit. Doch inmitten dieser tiefen inneren Gleichgültigkeit verstanden Auge und Hand um so wunderbarer, mit den Hebeln und Schaltknöpfen des äußerlichen Lebens umzugehen, als handle es sich um ein flüchtiges Spiel ohne Zweck und Sinn. Stoffliche Ziele sah er klar vor sich, und ebenso stoffliche Probleme; doch alles in dieser Sphäre schien für ihn aus Glas: vollkommen hart und vollkommen unverdaulich.

Seine Lehrer und Freunde wunderten sich oft über so viel Tüchtigkeit bei jemandem, der so passiv und so wenig wißbegierig war. Sie kannten Fräulein Schlotes Methode nicht. Wie plastisch und wie verdaulich waren doch diese deutschen Worte, Verse und Gebete, wie schmeichelten sie sich leicht ins Herz hinein! Wie schnell wurden sie ein Teil seines eigenen Rhythmus und seines eigenen Gefühls, wenn er auf Fräuleins Schoß saß und den Takt schlug, wie ein Dirigent, der einen Chor leitet. Einmal brachte Fräulein sogar sein Haar, das von Natur glatt und unauffällig war, in Unordnung, damit er mehr wie ein Genie aussähe. Und manchmal, wenn er beim Lesen oder Aufsagen an eine schwere Stelle kam, pflegte sie seine nackten Beine zu streicheln, um ihm über die Schwierigkeit hinwegzuhelfen und ihm zu zeigen, daß er es recht machte.

Eines Tages richtete er sich ohne jeden Grund auf ihren Knien auf, legte beide Arme um ihren Hals und hielt sie für ein paar Augenblicke, die ihr ganz lang vorkamen, sanft und fest umschlungen.

»Aber Liebling«, sagte sie, ihre Rührung unterdrückend, »warum tust du denn das?«

Sein Deutsch und selbst sein Englisch reichten für eine Erklärung nicht aus, und er hielt sie schweigend weiter fest.

»Aber umarmst du denn je deine Mutter so? Natürlich wäre es sehr unrecht, wenn du sie nicht viel, viel lieber hättest als mich, weil sie doch deine Mutter ist.«

Etwas verdrossen und geistesabwesend ließ Oliver sie los; natürlich war er zu seiner Mutter niemals so lieb. Es war alles recht entmutigend. Irma fühlte das auch, sie streichelte seine Beine nie mehr und hörte nach und nach auf, ihn auf den Schoß zu nehmen. »Du bist jetzt so ein großer Junge«, sagte sie. »Du mußt schön auf deinem hohen Stuhl sitzen«, und dann sperrte sie ihn in das hohe Kinderstühlchen mit dem ovalen Brett, das mit Scharnieren an der Rücklehne befestigt war und über seinen Kopf heruntergeklappt werden konnte, wodurch ein Tischchen entstand. Auf dieses legte sie wie eine geöffnete Bibel sein buntbebildertes Tieralphabet von ›Ameise bis Zebra‹. »Fein sitzt du da, wie ein kleiner Engel auf einer Kanzel! Wenn du später mal Pastor wirst – du weißt ja, mein lieber Vater war Pastor – dann wirst du so aussehen, wenn du in der Kirche predigst.«

Das erweckte die unbestimmte Befürchtung in Olivers Seele, er sei zum Prediger bestimmt und sollte mit einem dicken, geöffneten Buch vor sich in eine Kanzel eingeschlossen werden. So sah also ein Pastor aus und so war ihm zu Mute: zu seiner Mutter und Gott, den Wesen die er am liebsten haben sollte, konnte er nicht lieb sein; und andere lieb zu haben war immer unrecht.

Der hohe Stuhl hatte jedoch auch seine Reize; es war, als stände man auf Stelzen, und die Abgeschiedenheit dieser Kanzel war ganz gemütlich, solange einen das Buch wirklich beschäftigte. Doch aus einem verborgenem Grunde wurde der luftige Sitz nach einer Weile unbequem. Der Unterricht ging weiter, bis er zu Ende war; niemals kam es dem pflichttreuen Oliver in den Sinn zu klagen oder die Stunde zu unterbrechen. Das Leben war im wesentlichen etwas, das ausgehalten werden mußte – etwas Unerbittliches. Es ging nicht an, zu rebellieren, bloß weil der Augenblick gerade Unerfreuliches brachte. So fuhr also Olivers Geist fort, seinen Stoff zu verarbeiten, vielleicht ein wenig langsamer; und weiter strömten die unverarbeiteten Dinge und Worte vorüber, seltsam deutlich in ihrer Fremdheit. Und wenn dann die Stunde vorbei war, das Brett zurückgeschlagen wurde und er hinunter auf die feste Erde klettern konnte, dann tat er es ohne Hast, als übte er damit die konstitutionellen Rechte eines freien Bürgers aus.

Eines Tages war sein Bleistift, den er sehr schätzte, weil er am einen Ende blau und am andern Ende rot war, zufällig unter den Tisch gerollt; und als er ihm auf allen Vieren nachkrabbelte, geriet Fräulein in großes Erstaunen, denn sie erblickte plötzlich das ganze regelmäßig geometrische Muster des Strohgeflechtes rosa abgedruckt auf seiner kleinen Sitzfläche. »Was«, schrie sie auf, »hat der böse Stuhl meinem kleinen Liebling weh getan? Und warum hat er es denn seinem guten Fräulein nicht gesagt? Dann hätte sie ihm doch ein hübsches, weiches Kissen zum Draufsitzen gemacht! Das wird sie auch heute noch tun.«

Aber es war gerade Zeit zum Lunch, und Fräulein, noch ganz von dieser Sache erfüllt, sprach bei Tisch ahnungslos von dem dringenden Bedürfnis nach einem Kissen für Olivers Stuhl und schwatzte munter drauflos über einen Rest von hübschem Chintz und ein übriggebliebenes Stück Wattierung von einer alten Winterjacke, woraus sie besagtes Kissen heute abend nähen wolle, damit es morgen zur Kanzelstunde fertig wäre.

Mrs. Alden ließ sie reden; doch nach einer kleinen Pause spitzte sie die Lippen und sagte: »Ich finde nicht, daß kleine Jungen dazu erzogen werden sollten, auf Kissen zu sitzen. Das ist feminin. Der Stuhl kommt vom besten Fabrikanten in Great Falls. Ich habe einen besonders hohen Preis für ihn bezahlt, und ich bin überzeugt, er ist genau so, wie er sein soll – viel kühler und gesünder im Sommer als ein muffiges Kissen, das immer wegrutscht und hinfällt und einen unruhig macht. Wenn Oliver nur richtig auf seinen Kleidern stillsitzen wollte, hätte er es völlig bequem und brauchte nicht an dem zu mäkeln, was man für ihn angeschafft hat.«

Das eingeschüchterte Fräulein wagte nicht zu bemerken, daß Oliver ja ganz still säße und an gar nichts mäkelte. Als Frau von unabhängigem und intuitivem Geist erfand Mrs. Alden ohne Zaudern Gedanken und Handlungen, die sie anderen zuschreiben konnte; und sie vertraute so sehr auf die Wahrheit ihrer Eingebungen, daß sie nicht zögerte, sie sogar in Gegenwart der Beschuldigten als Tatsachen zu verkünden. Manchmal traf sie den Nagel auf den Kopf und machte auf jedermann Eindruck damit; und selbst wenn sie unrecht hatte, brachte sie ihre Angriffe in solch frischem, optimistischem Ton vor, als handle es sich um allgemein anerkannte Tatsachen, von denen sie freimütig Notiz nähme; worauf dann die meisten Leute nicht wagten, sich beleidigt zu zeigen oder ihr zu widersprechen; denn was man über sich selber sagt, wird sehr leicht für Irrtum und Selbsttäuschung gehalten, und die Stellung der angegriffenen Partei, die sich gegen kühle, lächelnde Ungerechtigkeit verteidigt, ist von vornherein schwach.

So gab auch Fräulein ihre Sache ohne Widerrede auf und betonte nicht einmal, daß ihr Kissen nicht hin- und hergerutscht wäre, da sie beabsichtigt hätte, es an den vier Ecken mit vier süßen blauen Schleifen an den Stuhlbeinen festzubinden. Aber ihr energisches kleines Kinn unter dem Stumpfnäschen sprach von dem inneren Entschluß, die Tyrannin zu hintergehen und irgendwie die zarte Haut dieses unschuldigen, heroischen Kindes zu schützen. Und wirklich hatte sie, bevor die nächste Stunde begann, vier Lagen Löschpapier mit roten Aktenbändern zusammengebunden und sie auf dem ärgerniserregenden Sitz befestigt. Aktenbänder und Löschpapier waren sicherlich nicht feminin; sie ließen an einen zukünftigen Staatsmann und Gelehrten denken. Mrs. Alden kam niemals in das Schulzimmer und brauchte diese Umgehung ihres Verbots nie zu entdecken; und auf alle Fälle würde die Sache unbemerkt durchgehen, bis die kalte Jahreszeit käme und damit Olivers fünfter Geburtstag, an dem er die Würde und den Schutz von Hosen erlangen sollte.


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