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Haus Bumstead, Great Falls, Connecticut

Thanksgiving Day 1896.

Mein liebstes Schwesterchen!

Hier war es in letzter Zeit herrlich – ich meine nicht das Wetter, sondern das Essen! Der Doktor, der Vater meines kleinen Oliver, kam zu Besuch. Es ist schließlich doch besser, wenn ein Mann an der Spitze einer Haushaltung steht.

Du weißt ja, daß sich der Doktor meistens auf seiner Jacht ›Hesperus‹ aufhält, die sehr schön sein soll. Wie gern möchte ich sie einmal sehen! Obwohl er früher eine hatte, die noch großartiger war. Aber aus der seltsamen Sucht, alles herabzusetzen, die alle englischsprechenden Menschen haben, und die sie Humor nennen, taufte der Doktor sein prächtiges Luxusschiff ›Die alte Dschunke‹; ich glaube, weil er es ähnlich ausgestattet hatte wie ein Boot, mit dem er in China einmal auf den Flüssen umhergesegelt ist. Was mag er damals wohl für ein Leben geführt haben, als alleinstehender, reicher junger Mann in einem so fernen Lande, wo die ganze Moral so seltsam und heidnisch ist? Ich kann manchmal lange, lange davon träumen, aber ich werde es nie erfahren. Er ist sehr schweigsam, und wenn ich ihn etwas frage, speist er mich mit einem der kalten, langweiligen amerikanischen Witze ab. Warum können die Männer hier nicht zuweilen auch ernst sein und uns dürstenden Seelen einmal die Wahrheit über einen Punkt sagen? Liebes Lieschen, ich glaube, ich weiß den Grund dafür. Sie hassen einfach das Nachdenken! Sie sind zu beschäftigt oder zu müde dazu; und wenn es wirklich einmal passiert, daß sie sich halbwegs eine Meinung über etwas gebildet haben, so mögen sie sich nicht die Mühe machen, sie klar auszusprechen oder sie zu verteidigen. Sie lachen über alles, was die Leute denken, sogar über das, was sie selber denken; und sie respektieren nur, was die Leute tun. Ja, mein Liebes, hinter diesem scheußlichen, zynischen Skeptizismus steckt noch etwas Tieferes. Sie haben Angst vor der Wahrheit! Ist das nicht schrecklich? Meinen kleinen Oliver aber, diesen tapferen Jungen mit den ruhigen, klaren, großen Kinderaugen möchte ich lehren, die Wahrheit nicht zu fürchten. Dabei sind hier alle peinlich genau in Kleinigkeiten – kein Gedanke etwa an kleine Lügen, Finten oder gar richtige Schwindeleien! Nur eben eisige Schweigsamkeit und eine Heuchelei, die sie durch lebenslängliche eiserne Zurückhaltung möglich machen. Das alles ist nicht mein Fall. Ich liebe das Gesicht der Natur und will lieber in Einklang mit der Wahrheit leben, als mich nach den Ansichten richten, die meine Umgebung für passend hält.

Aber ich komme ab von der Hauptsache, nämlich vom guten Essen! Du weißt, wie nüchtern und reizlos ich bisher das hiesige Essen gefunden habe. Seit zwei Jahren nichts als langweilige Hühner und halbrohe Beefsteaks; selten Kalbfleisch, selten Hammel und niemals köstlichen Schweinebraten. Aber wie ändert sich das alles, wenn der Doktor kommt! Er ist sehr rücksichtsvoll und möchte unter keinen Umständen Mrs. Aldens Anordnungen durchkreuzen, aber er bringt Sachen von der Jacht mit oder bestellt sie bei Lieferanten in Boston als Geschenke. Diesmal hat er tatsächlich seinen schwarzen Koch mit hierhergenommen (einen indischen Eingeborenen, mein Liebes, ich habe ihn gesehen!), nicht hier ins Haus, wo die Dienstboten protestieren könnten, sondern in seinen Klub in der Stadt, wo farbige Kellner sind, und da kocht der nun und bringt uns die Gerichte zugedeckt zu den Mahlzeiten herauf. Es ist eine halbe Stunde mit der Elektrischen, und natürlich werden die heißen Sachen kalt. Mrs. Alden findet, daß dies alles zwecklos, umständlich und unnötig ist, und lauwarme oder aufgewärmte Sachen nicht schmecken. Aber der Doktor in seiner ruhigen Art lacht einfach darüber.

»Du brauchst sie nicht zu essen, meine Liebe«, sagt er, »es sind kleine Extragerichte für mich, denn mein Magen ist so verdorben, daß er nur noch Gift verträgt.« Aber sie ißt dann schließlich doch von allem, und zuweilen söhnt sie sich so damit aus, daß sie über sich selber ein bißchen lacht und zugibt, daß die Gerichte ausgezeichnet sind.

Der Doktor hat über heißes und kaltes Essen eine Theorie, die er seine griechische Philosophie nennt; er sagt nämlich, Leute, die verlangen, alles solle entweder sehr heiß oder sehr kalt sein, hätten keinen Gaumen, sondern nur Blutgefäße. Sie möchten sich abkühlen, wenn sie warm sind, und sich erwärmen, wenn sie kalt sind, aber schmecken könnten sie gar nichts. Und er will auch kein Eis in sein Wasser oder seinen Wein, wie es hier der Brauch ist, und seine Suppe und seinen Tee läßt er lau werden, bevor er trinkt; denn er sagt, er möchte genau wissen, was für Tee oder was für Suppe er zu sich nimmt. Mrs. Alden zuckt dann die Achseln und findet ihn etwas verrückt, und er nützt seine Wunderlichkeit (wie Hamlet bei Shakespeare) aus, indem er sich über die Leute lustig macht, besonders über seine Frau; aber ohne sie gar zu sehr zu beleidigen. Du weißt, sie ist sehr stolz auf ihre Familie; freilich sind die Bumsteads selbst nicht besonders vornehm, aber sie sagt, daß ihre Großmutter mütterlicherseits eine Adams war; nicht eine von den Quincy-Adams, aber doch aus einer Seitenlinie dieser Familie, die früher zu der Quincylinie gehörte. »Ja«, sagt dann der Doktor halblaut, »ein bißchen früher: nämlich bevor Adams am Schluß mit s geschrieben wurde.« Dies ist so ein echt amerikanischer Witz; zuerst mußte man mir derartige Witze erklären, aber jetzt kann ich sie fast ohne Nachhilfe verstehen. Und obwohl das nun ein sehr alter Scherz zwischen den beiden ist, lacht Mrs. Alden jedesmal etwas, wenn er wieder auftaucht.

Der Doktor reißt so viele Witze auf seine eigenen Kosten, daß man ihm verzeihen muß. Und er hat so viel Takt! Er wollte, unsere Köchin sollte lernen den Reis so zu kochen, wie er ihn gern hat, ganz trocken und weich und nicht zusammengepappt. Er besuchte sie also in der Küche (ich war gerade in der Speisekammer und konnte alles hören!) und sagte zu ihr, er habe anderswo noch nie solche Buchweizenpfannkuchen bekommen können, wie sie sie hier zu Hause mache; er esse sie aber so gern, besonders mit dem fabelhaften Ahornsirup, mit dem sie sie anrichte; und deshalb möchte er sie um den Gefallen bitten, doch seinem Koch ihr Rezept einmal beizubringen. Der Koch sei ja nun allerdings ein Hindu und etwas dunkel, aber es würde völlig genügen, wenn sie ihm die Sache ein einziges Mal zeigte, denn die Orientalen seien sehr intelligent!

Obgleich es nun Mrs. Mullins sonst für unter ihrer Würde hält, mit Farbigen zu reden, fühlte sie sich hier doch wider Willen geschmeichelt; und als der schlaue, junge Inder kam – er ist nämlich nicht älter als dreißig, sehr mager, mit großen schwarzen Augen, erschrecken könnte man geradezu vor ihm – sagte sie, er sei gar kein Schwarzer, sondern wirke eher wie ein Italiener, und es hätte ihr tatsächlich nichts ausgemacht, sich mit ihm zu einer Tasse Tee hinzusetzen. Und als er die ganze Zeit über sehr fein in ausgezeichnetem Englisch redete – besser als Mrs. Mullins selbst – und so geschickt die langen Löffel und die verschiedenen Platten handhabte, als wäre er ein Zauberer, da war sie ganz besänftigt und verwundert. Dann sagte er: »Na, Mrs. Mullins, möchten Sie nicht dem Doktor mal eine Überraschung bereiten? Wie wär's, wenn Sie ihm heute zum Lunch einen indischen Curry vorsetzten, wie er ihn außerhalb von Indien noch nie bekommen hat?« Und er machte sich daran, alles selbst zuzubereiten, und holte aus einer Tasche, die er mitgebracht hatte, den Chutney und den Safran und den besonderen Pfeffer, den man dazu braucht. Und ich versichere Dir, Mrs. Mullins war von dieser Methode, den Reis zu kochen, geradezu hypnotisiert; jetzt könnte sie es nicht mehr falsch machen, selbst wenn sie wollte: Ein Häufchen ganz weißen Reis, ein Häufchen rosa und ein Häufchen gelben Reis; das in Würfel geschnittene Hammelfleisch mit dickem Curry übergossen; und dazu noch eine tüchtige Portion Chutneysauce. Wie das schmeckt!

Aber dies gab es nur einmal zum Lunch; das Hauptfest war das Dinner heute. Ich wußte gar nicht, was auf den Tisch kommen würde, denn der Doktor hatte es übernommen, für alles zu sorgen. Er sagte, heute sei ein amerikanischer Feiertag, und bloße Europäer könnten sein Geheimnis nicht verstehen. Das war aber auch wieder ein Witz, denn gleichzeitig sagte er, daß er Oliver auf Dumpy mit hinausnehmen wollte, damit ich den ganzen Nachmittag frei hätte. Du kannst Dir vorstellen, daß ich die Gelegenheit benutzte, um zu Frau Müller auf ein gemütliches Plauderstündchen und ein Täßchen Kaffee zu gehen. Also das Dinner wurde dann eine halbe Stunde früher serviert, weil die Tage jetzt kürzer werden und der kleine Oliver auch mit am Tisch essen sollte, obwohl er erst sechs Jahre alt ist.

Austern! Du wirst sagen: eklige, kalte, schleimige, schlüpfrige Dinger, die man roh und fast noch lebendig verschlucken soll! Aber warte nur. Stell Dir zunächst einen Teller voll zerkleinertem Eis vor und reizende Silbergäbelchen wie Dreizacke; jede von den sechs Austern liegt in ihrer zart schattierten Perlmutterschale da, nicht so einfach roh, wie Du glaubst, sondern angemacht mit Zitronensaft und ein bißchen Petersilie; und um das Ekelgefühl dann gänzlich zu beseitigen, reicht Dir der Doktor noch eine wunderhübsche kleine Karaffe aus Kristall und Silber, mit einem flüssigen roten Pfeffer drin, den man Tabascosauce nennt; drei Tropfen davon auf jede Auster bewirken einen köstlichen Kontrast zwischen der kalten, wässerigen Substanz und dem scharfen, pfefferigen Gewürz. Darauf ein Schluck alten, blassen Sherry – der stammt natürlich auch von der Jacht, denn zu Hause haben wir keine Weine – und dann kommt die heiße, klare Mockturtle-Suppe mit Stückchen von sulzartigem Fleisch und Scheiben von hartgekochten Eiern; solche appetitanreizende Abwechselung! dazu kein gewöhnliches, schwammiges Brot, sondern Käsestangen, flaumige, duftige Biskuits wie pommes soufflées, und Salzmandeln. Und wieder ein Schluck Sherry, oder das ganze Glas auf einmal, wenn Du willst; denn Du weißt, es kommt noch Champagner.

Doch dann die eigentliche Festüberraschung! Kein gekochtes Fleisch, kein Braten, sondern auf jedem Teller – denke nur, Herzchen – eine ganze, unzerteilte junge Wildente, größer als eine Taube. Du schneidest sie an; aussehen tut sie noch ein bißchen roh, Blut sickert heraus; doch wenn Du Mut faßt und es versuchst – himmlisch! Und die Beilagen dazu! Knusperige, geröstete Brotwürfelchen, süßes, mildes Himbeergelee und frischer, kühler Selleriesalat mit ein paar scharfschmeckenden Radieschen dazwischen! Als ich jubelte und in die Hände klatschte (natürlich tat ich das, als ich auf meinem Teller eine ganze Ente für mich allein sah!), guckte mich Frau Alden streng an und sagte, ich dürfe Oliver nicht lehren, zu gestikulieren und seine Gefühle zu zeigen; Gentlemen seien keine Affen. Doch der Doktor lächelte mir zu, ich glaube, er hatte richtig seinen Spaß an der Sache.

»Nehmen Sie sich in acht, Fräulein«, sagte er, »Sie könnten kleine Schrotkörner in den Vögeln finden. Metallstückchen sind recht unangenehm für die Zähne, wenigstens in meinem Alter, und keinesfalls nahrhaft. Denken Sie nicht, daß diese Entchen aus dem Teich irgend eines Gutshofes stammten; es sind Seevögel aus den Salzsümpfen, die an unserer atlantischen Küste so häufig vorkommen; die Jäger müssen in flachen Booten weit hinausfahren und sich im Schutze von Felsen und Buschwerk und hohen Binsen verbergen, um sie zu schießen, wenn sie auffliegen; der feine, spritzende Schrot, der dazu benützt wird, ist nachher nicht leicht zu finden und zu entfernen. Als ich jung war, habe ich selbst manchmal zum Sport Wildenten geschossen; das war ein herrlich einfaches Leben in der Einsamkeit, das einen doch ganz ausfüllte. Es ist etwas Poetisches um diese unendlichen Weiten stillen Wassers und wolkigen Himmels, die von dem Leben der Wildnis erfüllt sind. Doch da mußte man vor Morgengrauen aufstehen, sich mit dürftigem Essen begnügen und den ganzen Tag bei Kälte und Feuchtigkeit unterwegs sein; dagegen protestierte dann mein Rheumatismus. Ich denke mir, auch heute sind die jungen Leute noch hinter dieser Entenjagd her; aber größtenteils ist sie wohl zum Geschäft geworden wie alles andere und hilft den verarmten weißen Einwohnern der Küstenorte, sich durchzubringen, wenigstens in dieser Jahreszeit. Gott weiß, woher sie ihren Lebensunterhalt in der übrigen Zeit nehmen! Vielleicht sind sie Politiker, oder destillieren Whisky.«

Liebstes Lieschen, wie wundervoll war es, inmitten von Luxus und Eleganz, mit all dem schönen Silber und Kristall auf dem Tische, bei den Blumen und Lichtern und dem venezianischen Spitzenläufer – denn Mrs. Alden ist sehr stolz auf ihren Mahagonitisch und deckt ihn niemals ganz zu, weil er ihrer Familie gehört hat und nicht der des Doktors – ja, wie wundervoll war es da, sich plötzlich in die wilde, weite Welt versetzt zu fühlen! Ich glaubte, den salzigen Wind zu spüren und die Vögel zu sehen, wie sie schreiend aufflogen und ihre breiten, starken Flügel entfalteten! Aber dann der Gedanke an den düsteren Hintergrund des amerikanischen Lebens, an die verlotterten Holzhäuser, die mageren, freudlosen Frauen, die verbitterten, fluchenden, trinkenden Männer! Hier ist es nicht wie bei uns auf dem Lande, wo es, weiß Gott, auch Entbehrung und Not genug gibt, wo aber doch alles wohlgeordnet, gesund und schön ist und es bei Gelegenheit auch ganz festlich zugeht, sowohl nach altheidnischem wie nach christlichem Brauch. Hier ist das Leben für die Armen nur elend, schwierig, häßlich und trostlos! Hier mußt Du reich sein, oder Deine Menschlichkeit geht zugrunde.

»Wie schmeckt Ihnen die Ente, Fräulein?« fragte der Doktor.

»O, sehr gut, aber warum ist fast kein Fleisch an den Flügeln und Beinen? Sie besteht ja ganz und gar aus Brust.«

»Diese Brust«, erwiderte er, »ist eigentlich die Flügelmuskulatur; je mehr ein Vogel seine Flügel benützt, desto kräftiger entwickelt sich die Brust. Den wilden Enten ergeht es genau so wie den zahmen Jünglingen, die im Christlichen Verein Junger Männer Keulen schwingen: ihre Brustmuskeln entwickeln sich enorm, aber ihre Beine bleiben spindeldürr. Vergessen Sie dabei nicht, daß Vögel keine Säugetiere sind, und daß die Brust bei ihnen nicht dieselbe Funktion hat wie bei der Kuh.«

Hier wurde Mrs. Alden, die einen vollen Busen hat, ein wenig rot und zischelte ihm zu: »Wirklich, geht diese Unterhaltung nicht zu sehr ins Physiologische?« Der Doktor sah mich an, um festzustellen, ob ich Grund fände zu erröten, merkte aber sofort, daß das nicht der Fall war. Es ist das erste Mal gewesen, daß er mich als Frau und nicht einfach als Gouvernante betrachtet hat. Er sagte also rasch: »Dem Fräulein macht das nichts aus. Sie gehört einer wissenschaftlich eingestellten Nation an und weiß, daß alles Wissenschaftliche erhebend ist.«

»Ja«, rief ich aus, »erhebend und spannend! Ich hoffe, daß auch Oliver sich einmal für die Naturwissenschaften begeistern wird.«

»Wie steht es damit, Oliver?« fragte der Vater den kleinen Jungen, der schon mit seinem Milchtoast fertig war und recht schläfrig aussah. »Weißt du, was ein Vierfüßler ist?«

Keine Antwort.

»Du weißt doch, was ein Vogel ist, nicht wahr? Der hüpft auf zwei Beinen.«

»Ja«, sagte Oliver, immer noch ziemlich mürrisch, »er hüpft fort

»Aber ein Pferd, ein Hund, eine Katze oder auch Dumpy, wenn er lebhafter wäre, die würden doch auf vier Beinen davonlaufen, nicht wahr?«

»O ja«, antwortete Oliver, der jetzt wieder ganz wach war.

»Nun, siehst du, deswegen werden Katze oder Pferd Vierfüßler genannt, weil sie auf vier Beinen davonlaufen und nicht auf zweien wie ein Vogel oder ein Mensch. Beim Vogel sind die Vorderbeine zu Flügeln geworden und bei uns zu Armen.«

Inzwischen hatte Oliver große, runde Augen bekommen; er war ganz ernst und schweigsam; ich bin sicher, daß sich in ihm schon ein Gefühl für die Erhabenheit der Wissenschaft regte. Doch in diesem Augenblick wurde gerade das Eis aufgetragen, und er bekam eine schöne Portion in einem Zuckerkörbchen vor sich hingestellt, genau wie wir andern. Für eine Weile war ihm da das Eis natürlich interessanter als die Wissenschaft. Es war aber auch wundervolles Eis mit grünen, gelben und roten Blättern aus kandierten Früchten, die in ein Gespinst von Zuckerfäden gebettet waren wie in Watte – denn, weißt Du, wirklich feine Früchte werden hier in Watte verpackt wie eine Puppe oder ein Edelstein. Und die Blütenknospen an dem Eis, mein Herzchen, waren Confitures à Surprises; wenn ihre dünne Schale einem im Munde zerbrach, war man überrascht und geradezu elektrisiert, denn jede war mit einem ungeheuer süßen und starken Cordial gefüllt. Ich habe keine Zeit mehr – es ist schon 1 Uhr nachts – Dir von den Kuchen zu erzählen, die immer für den Thanksgiving Day gebacken werden; sie schmecken ganz vorzüglich; jeder von uns bekam einen für sich allein. Die Kuchen wurden mit brennendem Rum serviert wie englischer Plumpudding. Natürlich werden wir zu Weihnachten auch Plumpudding bekommen, und ich freue mich schon im voraus darauf; vor allem auf die schwere, dicke Zuckersauce! Doch heute diese völlig unerwarteten Likörtropfen waren wirklich ein besonderer Genuß! Fast möchte ich mit Goethe ausrufen: »Verweile doch – – –«

Aber halt, ich darf den Champagner nicht vergessen; leider, leider kriegen wir Weihnachten keinen, weil dann der Doktor wieder weit fort ist und in der Tropensonne schmort. Ich glaube, Du hast auch einmal Sekt probiert, damals als der Sohn von Herr Bürgermeister Hochzeit hatte; aber heute gab es französischen Champagner, der viel delikater, stärker und mitreißender ist; ein Schluck oder zwei genügen völlig, um einen in ideale Regionen zu entrücken, hinauf zu allen großen Liebenden, Dichtern und Mystikern, wie Goethe, Dante, Omar Khayyam und Salomo, der das leidenschaftliche Hohe Lied mit seiner wunderbar tiefen Bedeutung gesungen hat. Das heißt, eigentlich war Salomo ja gar nicht der Dichter dieses Liedes. Wie zauberhaft befreit sich da der Geist vom Körper, die grausame irdische Kehrseite der Dinge schmilzt weg, und die Wunder von Tausendundeiner Nacht kommen einem schließlich vor wie das Natürlichste, Harmloseste und Wirklichste von der Welt.

Doch, mein liebes Lieschen, ich lasse Dich ja mit offenem Munde dastehen und auf den letzten Gang warten. Er bestand aus Nüssen, Datteln, Feigen, Rosinen, Birnen, Orangen und Treibhaustrauben. Natürlich konnte ich nicht von allem nehmen, aber Datteln kann ich niemals vorübergehen lassen, denn ich denke dabei an die Beduinen in Afrika, die fast nichts anderes essen; und während die dicke, klebrig-süße Masse mir im Munde zergeht, kommt es mir vor, als teilte ich das einfache, starke, religiöse Leben dieser Araber, ihre endlosen Wanderungen über die weitgedehnten, brennenden Sandflächen und ihre Liebe unter dem Vollmond.

Jetzt muß ich etwas Schreckliches sagen, liebste Schwester, aber ich fühle es eben, und man soll immer sagen, was man fühlt, selbst wenn es Blasphemie wäre! – Ich kann nicht länger mit Goethe ausrufen: »Verweile doch!« Nein, dieses Verweilen ist des deutschen Geistes unwürdig! Wir sollen uns nicht an irgend etwas Erreichtes anklammern, sondern stets unsere Arme voller Sehnsucht nach dem Jenseits ausbreiten. Ich will gar nicht sagen: nach etwas Höherem. Ich möchte keineswegs eine endlose Leiter hinaufklettern müssen, deren Sprossen numeriert sind wie die Grade auf dem Thermometer. Denn was wäre das weiter als ein Überbleibsel der mittelalterlichen Metaphysik? Unser freier, stolzer, reiner Genius läßt sich nicht auf solch engen Pfad beschränken. Er wird aus sich selbst heraus nach jeder Richtung hin einen Weg in die Unendlichkeit zu erzwingen wissen und jedes Gesetz verachten, das er sich nicht selbst kraft seines Lebens auferlegt hat; er wird sich durch keine Tatsachen hemmen lassen, keine Bedingungen anerkennen, sondern sich stets seine nächste Stufe aus ungefesselter, unvermittelter Inspiration heraus selbst erschaffen. Die Natur ist ein Gefängnis. Was mich anbetrifft – laßt mir das Chaos!

Ach, ich muß aufhören. Es ist zwei Uhr früh. Wie übernächtig und kaputt werde ich morgen sein! Vielleicht war das letzte, der zu schöne Pfefferminzlikör auf gehacktem Eis in seinem erlesenen Gläschen, das wie ein Smaragd in tausend Facetten geschnitten war, doch zu viel für meine nüchterne Urteilskraft, und ich habe Unsinn geschrieben! Was für reiche Erlebnisse gibt es in dieser unserer wunderbaren Welt; wenn auch mein und Dein Erleben nicht immer so überwältigend ist, wie es heute war für Deine Dich ewig liebende und noch hoffende

Irma

P.S. Im Augenblick ist niemand da, aber ich bin schließlich erst einundzwanzig.


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