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3

Als sie das Zollhaus an der Mühle hinter sich gelassen hatten und in den Feldern jenseits der Schleuse kräftig vorwärts schritten, nahm Jim die vorsichtige, heimlich triumphierende Miene eines Spielers an, der sich seines Gewinnes sicher fühlt.

»Es ist noch ganz schön hell«, bemerkte er verschmitzt. »Wir haben nur noch zwei Meilen.«

»Zwei Meilen wohin?«

»Zum Abendessen.«

»Aber wir haben doch gerade zu Abend gegessen.«

»Nicht im geringsten. Wenn das wirklich alles gewesen wäre, hätte ich einen schönen Krach gemacht! Ich hielt meinen Mund, weil ich dich zum Abendessen nach Sandford mitnehmen wollte. Das Lokal wird natürlich heute geschlossen sein, aber das macht nichts. Die Wirtin kennt mich gut und erwartet uns.«

Flottes Marschieren begünstigt eine Unterhaltung nicht, und so tauschten die beiden Freunde nur hie und da ein paar Worte aus. Doch blieb ihr Geist deswegen nicht müßig, und obwohl ihre Gedanken an Gehalt und Schnelligkeit ungleich waren, strömten sie doch einmütig nebeneinander her, wie zwei Bäche, bevor sie zu einem einzigen Strome zusammenfließen. Die Lieblichkeit des weiten Abends überwältigte sie beide mit sanfter Macht. Ein seltsames Gefühl von Sicherheit, Freude und unerschöpflichem Reichtum erfüllte Oliver, während sein warmblütiger Gefährte ihm zur Seite schritt. Wie weit entfernt, wie dürftig und fremd kam ihm jetzt sein altes Leben zu Hause vor, nicht anders als die gleichgültigen Stimmen, die aus einem verspäteten Boot voller Ausflügler über das Wasser herüberdrangen. Und auf eine ganz andere Art wiederum war es wunderbar, daß der Pfarrer an ihm, der doch erst ein Junge war, solch unerklärliches Interesse nahm und so viel Verständnis für ihn hatte, wie es selbst die gute Irma nicht aufbrachte. Dieser alte gelehrte Theologe behandelte ihn ganz wie seinesgleichen, wie einen selbständigen Geist, eine unabhängige unsterbliche Seele, vor der er seine besten Gedanken ausbreitete. Wie schön waren Strenge, Armut und Verborgenheit, wie überraschend war die Offenbarung, daß es auf dieser Erde Orte und Menschen gab, die von der Welt ganz unberührt blieben, und für die nur Natur, Religion und Freundschaft wirklichen Wert hatten.

Jims Gedanken schienen nicht weniger erfreulicher Art zu sein, wo sie nun auch immer weilen mochten. Er war die Munterkeit selbst, und als sie in Sandford Lock ankamen, rannte er über den Steg voraus und verschwand so schnell, daß Oliver nicht recht wußte, durch welche Tür er ins Haus geschlüpft war; denn das efeuumrankte Gasthaus zum ›Königswappen‹ hatte mehrere Türen, die aber alle verschlossen zu sein schienen. Das Tageslicht war fast gänzlich erloschen und der Mond noch nicht aufgegangen. Ein letztes Boot zog jenseits der geöffneten Schleusentore flußabwärts, und der tiefe Abgrund der Schleusenkammer lag leer da; seine schwarzen, schleimigen Wände tropften, und ein Hauch feuchter Kälte, ein rieselndes Geräusch und faulige Pflanzengerüche stiegen von ihnen auf. Alles ringsum war still und verlassen, und Oliver, der noch vom schnellen Laufen glühte, fühlte, wie ihn ein leichter Schauer überlief. Im gleichen Augenblick rief ihm Jim zu, er möge durch die Hintertür hereinkommen. Die Polizeistunde war schon vorbei, und Bar und Café durften in dieser Sonntagsnacht nicht in ihrer Grabesruhe gestört werden.

Sie durchschritten ein kaum erkennbares Billardzimmer, wo die Tische, auf denen man unter gespenstischen Tüchern Stühle umgekehrt aufgestapelt hatte, wie Schiffe im Dock ruhten. Jenseits eines dunklen Ganges traten sie plötzlich in ein hell beleuchtetes kleines Wohnzimmer. Das Quadrat eines glänzend weißen Tischtuches schien fast den ganzen Raum einzunehmen; darüber hing ein riesiger, rotglühender, schäbiger Lampenschirm mit lückenhaftem, mottenzerfressenem Fransenwerk. In der Ecke stand ein zerrissener Sessel mit einem schmutzigen Schutzdeckchen. Jim verscheuchte die große weiße Katze, die dort schlief, und lud Oliver ein, sich zu setzen. Die offene Tür gestattete den Blick zur Küche hinüber, in der sich Frauenschürzen bewegten und Frauenstimmen durcheinander riefen. Jim schien überall gleichzeitig zu sein, holte Flaschen aus der Bar, flüsterte mit den Küchenmädchen, die kicherten oder ihm in gespieltem Zorn antworteten; dann kam er zurück zu Oliver und stellte seine Beute mit triumphierender, spitzbübischer Miene auf den Tisch.

»Also nun wären wir so weit. Minnie – das ist Mrs. Bowler, die Wirtin – macht uns noch eine Eierspeise. Das versteht sie großartig. Wir bekommen eine Hammelpastete mit Erbsen und Kartoffeln, dann eine Stachelbeertorte mit Eierrahm, denn die Schlagsahne haben die Sonntagsgäste schon zu ihren Erdbeeren verschlungen. Gemein von ihnen, nicht? Aber dir wird's nichts ausmachen. Ihr in Amerika müßt ja Erdbeeren und Eis schon ganz über haben. Und was möchtest du trinken? Keinen Whisky-Soda? Kein Bier? Dann werden wir dir mal einen Shandy-Gaff geben. Du weißt zwar nicht, was das ist, aber du wirst schon sehen.«

»Will der junge Herr ihn bitter oder mild?« fragte Mrs. Bowler, die nun hereingekommen war. Sie war eine hübsche Frau, nicht viel über dreißig, groß und selbstbewußt. Sie lächelte selten, nicht etwa aus Mangel an weiblicher Eitelkeit, sondern weil sie sich ihrer alten Freunde sicher fühlte und Fremden gegenüber auf ihre Würde hielt. Sie herrschte in der Bar wie eine große Dame im Salon, während ihr Mann oder das Mädchen in der Wirtsstube bedienten. Wenn aber die Polizeistunde kam, wo geschlossen werden mußte, durfte der gute Mann, der sich selbst gern ebenso gut wie seine Gäste behandelte, in die Bar kommen und sich auf dem Sofa ausruhen, wo er auch heute schon längst lag und schnarchte.

Da Oliver sich nicht klar darüber war, was ihre Frage bedeutete, sagte er aufs Geratewohl: »Bitter«. Das fand bei Jim großen Beifall; er bekräftigte eifrig, Shandy-Gaff sollte stets mit ein wenig Bitter gemischt werden, weil er sonst zu süß würde.

Mrs. Bowler brachte ein Glas mit einem bernsteinfarbenen Getränk, das jedenfalls höchst appetitlich aussah, einerlei wie es schmecken mochte; dann schloß sie die Tür und setzte sich zu ihren Gästen. Ein behagliches Schweigen senkte sich über die kleine Gesellschaft, als sei man längst miteinander vertraut und befreundet.

»Sie sind also der Sohn von seinem Chef«, fing die Dame an, richtete ihre großen, ausdruckslosen Augen wie in schwerwiegendem Nachdenken auf Oliver und nickte mit dem Kopf. Sie überließ den Genuß ihrer leckeren Gerichte völlig den beiden jungen Männern und saß ein wenig abseits, die Hände im Schoß. »Sie sind das einzige Kind, nicht wahr? Nun, nachdem Sie alle heimgekommen sind, werden Sie doch sicher nicht wieder aus England fortgehen? Ich hoffe, Jim hat Sie gut herübergebracht?«

Wenn ein Gefühl und eine Tatsache zu gleicher Zeit an Oliver herantraten, beschäftigte er sich instinktiv zuerst mit der Tatsache und ließ das Gefühl links liegen. Das kam ihm sicherer, einfacher und weniger egozentrisch vor; infolgedessen wurde seine Ausdrucksweise mit den Jahren immer trockener. Bei Mrs. Bowlers Worten fühlte er, wie unglaublich inselhaft beschränkt es war, anzunehmen, daß England für alle Welt die Heimat sei. Doch fand er keine Redewendung, um ihr das höflich zu sagen. Da war es besser, zunächst ihren Irrtum über das Verbleiben der Jacht aufzuklären.

»Wir sind nicht mit dem ›Schwarzen Schwan‹ nach England gekommen. Der liegt noch im Mittelmeer. Ich habe die Überfahrt auf dem ›Kaiser Wilhelm‹ gemacht, und Jim und mein Vater kamen auf dem Landweg von Marseille.«

Nun waren die großen, ausdruckslosen Augen unverwandt auf Jim gerichtet. Warum hatte er sie wohl belogen? Warum spielte er in seiner Phantasie mit bloßen Möglichkeiten und schwatzte von schönen Aussichten, die sich vielleicht niemals verwirklichen ließen?

Es schien, als sei Jim tatsächlich rot geworden, aber das konnte auch bloß von der heißen und scharf gewürzten Eierspeise kommen oder von dem Whisky-Soda, der jedenfalls gehörig stark war.

»Dann ist also noch nichts geregelt, und du gehst wieder zur See?«

»Natürlich gehst du doch wieder zur See. Was sollte mein Vater ohne dich anfangen?«

»Na, man weiß nicht, was in einem Jahr passieren kann. Vielleicht sind wir dann alle nicht mehr am Leben«, orakelte Jim und trat Mrs. Bowler unter dem Tisch auf den Fuß.

»Ja, das weiß man allerdings nicht«, seufzte sie, denn sie begriff seinen Wink. »Selbst die Jüngsten unter uns kann's treffen. Aber es ist unheimlich, wie lange manche alten Leute es machen, bei denen kein einziges Organ mehr gesund ist; sie verhöhnen einfach den Doktor und den Totengräber, der schon mit dem Spaten an ihrer offenen Grube steht.«

Mrs. Bowler schauderte und blickte sich in der Richtung der Bar um, wo ihr zweiter Gatte der Ruhe pflegte. Zufällig war das auch die Richtung des Friedhofs, wo, etwas weiter entfernt, ihr erster Gatte ebenfalls der Ruhe pflegte.

Die Unterhaltung wurde für Oliver jetzt unverständlich, da sie sich um Menschen und Dinge drehte, die er nicht kannte, und er fand Zeit, den kleinen Raum zu mustern, in dem sie saßen. Ein Samtvorhang verdeckte das Fenster, eine Samtdraperie verzierte den Kaminsims, auf dem zahlreiche Vasen und Porzellanfigürchen, gerahmte Photographien, zwei große Meermuscheln und ein ausgestopftes Wiesel unter einem Glassturz prangten. Die Wände waren über und über mit Bildern bedeckt: da gab es Jagd- und Sportszenen, ein paar Silhouetten von altmodischen Kavalieren mit Vatermördern und lockigen Haaren und von Damen in Federhüten, ferner vergrößerte Bleistiftzeichnungen verstorbener Verwandter, auf denen die Männer alle aussahen wie schielende mazedonische Banditen und die Frauen wie bleichsüchtige, ebenfalls schielende Märtyrerinnen. In der Mitte über dem Kamin hing ein Sinnspruch in gotischer Schrift auf Wolle gestickt: »Gott segne unser trautes Heim!«

Plötzlich, nach einer Pause, hörte Oliver Jim fragen:

»Und wie geht's Bobby?«

»Der liegt oben und schläft.«

»Ich geh mal rauf und schau ihn mir an.«

Mrs. Bowler blickte auf Oliver, als überlegte sie sich, was man wohl inzwischen mit ihm anfangen könnte.

»Oliver wird's nicht übel nehmen«, sagte Jim, stand sehr entschieden auf und schob seinen Stuhl unter den Tisch, als sei die Sitzung unwiderruflich beendet. »Du kannst dir hier solange die Kuriositäten ansehen oder, wenn du es im Zimmer zu dumpfig findest, kannst du draußen die Schleuse bei Mondlicht genießen. Sie ist sehr romantisch, aber fall nur nicht hinein. Es ist die tiefste Schleuse der ganzen Themse, und du könntest drin ertrinken.«

Er sprang, immer drei Stufen auf einmal nehmend, munter die Treppe hinauf, nachdenklich folgte ihm Mrs. Bowler mit einer Kerze in der Hand.

Da Olivers Interesse an den dörflichen Kunstgegenständen bald erschöpft war, blieb ihm nichts anderes übrig, als die Schleuse zu erforschen. Wirtshof und Garten lagen verlassen und gespenstisch im Mondschein vor seinen Augen, die sich an nichts Gewohntem orientieren konnten; doch fand er schließlich den Weg zum Fluß. Das Mühlwasser glitt oberhalb des Gasthauses eilig durch den Brückenbogen der Papierfabrik, die mächtig und drohend wie eine Festung aussah. Ballen von Lumpen oder Papier lagen aufgehäuft auf dem Schleusendock; unten schoß das Wasser in gewaltigen Wirbeln hervor. Jenseits war ein langer glitzernder Flußstreifen sichtbar, der in unbestimmter Ferne von den dunklen Bäumen des Nuneham-Parkes und dem schwarzen Bootshaus von Radley abgeschlossen wurde. Es war ein seltsam beunruhigender Schauplatz; kalte Feuchtigkeit lag in der Luft, als sei man hier inmitten des Festlands auf dem Meer. Zweimal ging Oliver zum Wirtshaus zurück. Überall Totenstille! Schließlich streckte er sich in dem wackeligen alten Armstuhl aus und schloß die Augen. Die Tür war offen, und das Licht leuchtete hinter dem roten Lampenschirm. Da würde ihn Jim finden, wenn er damit fertig war, nach Bobby zu sehen.

Fünf Minuten oder vielleicht auch eine halbe Stunde später riß ihn Jims muntere Stimme aus dem Halbschlaf.

»Komm, los! Wir haben uns verspätet. Bobby ist aufgewacht, und ich durfte nicht weg, bevor er wieder eingeschlafen war, sonst hätte es Geheul gegeben. Mrs. Bowler hat mich gebeten, dir an ihrer Stelle gute Nacht zu sagen. Sie erwartet uns morgen zum Lunch – halt, ich habe meine Uhr vergessen«, und Jim rannte noch einmal die dunkle Treppe hinauf – diesmal nahm er nur zwei Stufen auf einmal. Man hörte ihn und Mrs. Bowler oben sprechen, gedämpft und abgebrochen, als tauschten sie noch ein paar Abschiedsworte aus.

Sofort nachdem sich die Tür des Wirtshauses hinter den beiden jungen Leuten geschlossen hatte, wurde sie von innen verriegelt. Die Dame mußte ihnen im Dunkeln unmittelbar auf den Fersen gefolgt sein.

Als sie die von den Schleusentoren gebildete Brücke hinter sich hatten, schlugen sie eine rasche Gangart an und gingen quer über die Felder, wo der Treidelpfad den Windungen des Flusses folgte. Während sie beim Öffnen und Schließen eines Gatters ihren Schritt verlangsamten, blieb Jim plötzlich stehen.

»Nach allem, was du gesehen und gehört hast, kann ich dich ebensogut in das Geheimnis einweihen. Minnie ist meine Frau – nicht vor dem Gesetz, weil der alte Bowler ja noch da ist; aber sie war meine erste Flamme, und tatsächlich sind wir so gut wie verheiratet. Und Bobby ist mein Sohn.«

Glücklicherweise lag Olivers Hand noch auf dem geschlossenen Gatter, und er konnte sich daran festhalten. Jims Worte drangen an sein Ohr, doch er dachte nicht über sie nach und dachte auch nicht an Mrs. Bowler oder an Bobby. Alle Vorstellungen waren aus seinem Gehirn verschwunden. Nur eine elende Leere war in ihm, wie an jenem Nachmittag auf der Jacht, als er glaubte, Jim würde nie wieder aus dem Wasser auftauchen. Und doch bestand ein seltsamer Unterschied. Jetzt wartete Oliver auf nichts mehr. Es war nichts mehr da, worauf man warten konnte; es gab keine Zukunft mehr. Nur die eine kalte Tatsache, daß Jim nun endgültig untergegangen war, die stand so fest wie ein Grabstein.

Sie hatten ihren Marsch wieder aufgenommen, und die Stimme des Toten sprach weiter.

»Du darfst es deinem Vater nicht erzählen. Es würde ihm wohl nicht passen. Komischerweise bilde ich mir ein – warum, weiß ich nicht – es könnte seine Gefühle verletzen. Alle Leute sehen einen immer so, wie man war, als man ihnen zuerst begegnete. Sie wollen es nicht wahrhaben, daß man sich ändert. Dein Vater weiß ganz genau, daß ich kein edler Galahad bin und auch keiner war. Er nimmt's nicht übel, wenn ich hie und da eine Nacht an Land verbringe und mich darüber in Schweigen hülle. Mit einem Mann in seinen Jahren kann ich nicht von meinen Liebesangelegenheiten reden; es paßt sich nicht. Außerdem bildet er sich nun einmal gerne ein, daß all der Unsinn eigentlich keine Rolle bei mir spielt, sondern in meinem Leben nur ein unbedeutender Traum ist, während er selbst bei mir an erster Stelle steht. Du weißt, er hat mich recht lieb gewonnen; das kommt von dem blöden Zeug, was ich schwätze, um ihn bei guter Laune zu halten. Tatsächlich hatte er schon vom ersten Augenblick an einen Narren an mir gefressen. Ich war damals sehr jung, sah noch jünger aus, war dabei schon ein gewandter Kerl und schien mich im Leben so wohl zu fühlen wie ein Fisch im Wasser oder ein kleiner heidnischer Gott. So nannte er mich immer. Es wäre für ihn deshalb sehr unangenehm, wenn er wüßte, daß ich mich verändert habe, gewissermaßen ein Familienvater mit einem vierjährigen Kind bin; und es käme ihm sicher noch schlimmer vor, wenn ich richtig verheiratet wäre.«

Während Oliver zuhörte, ging ihm erst auf, warum ihm Jims Enthüllungen überhaupt einen solchen Schlag versetzt hatten. Der Schlag war nun vorbei. Alles erschien jetzt natürlich und klar, verzweifelt klar. Jeder, der nicht gerade ein Narr war, hätte darauf gefaßt sein müssen.

»Natürlich werde ich es meinem Vater nicht erzählen, und es schadet auch nichts, daß du es mir erzählt hast.«

»Großer Gott«, rief Jim, von Olivers Ton überrascht, »du meinst doch nicht etwa, daß du zu jung bist, um es zu erfahren? Du kannst wahrhaftig nicht sagen, daß ich dich auf Abwege führe und dir ein schlechtes Beispiel gebe. Ich zeige dir gerade das Abschreckende der Unmoral, die Dornen an der Rose der Liebe, die so häßlich sind wie Angelhaken und so lang wie Harpunen.«

»Dann machst du dir eigentlich gar nichts aus Mrs. Bowler?«

»Warum soll ich mir nichts aus ihr machen? Sie ist eine alte Freundin, ein gutes Ding. Ich hab sie gern. Aber stell dir mein Pech vor! Jetzt bin ich hier in Sandford Lock festgelegt, die Frau ist älter als ich, arm, zum zweiten Mal verheiratet, alle Liederjane der ganzen Grafschaft schwärmen um sie rum, und Bobby, der an sich schon recht wäre, gehört mir ja doch nicht, und ich weiß nicht, was aus ihm werden soll. Es ist eine traurige Geschichte. Der alte Bowler zählt nicht, hat nie gezählt. Sie sagt, sie hätte nichts mit ihm und bliebe ihrem Seemann treu, Sommer und Winter. Aber das lügt sie; sie ist in ihrer ruhigen Art eine richtige Männerjägerin. Sie hat mich eingefangen, als ich noch ein Junge war und auf Urlaub vom Schulschiff kam. Es war mein erstes Verhältnis. Das war noch zur Zeit ihres ersten Mannes, der war Wirt und Landbesitzer und hatte sie aus Liebe geheiratet – ein eifersüchtiger, brutaler Kerl, der immer um sie herumstrich, in allem, außer im Saufen, ganz das Gegenteil vom armen Bowler. Er nahm ein trauriges Ende – das heißt, eigentlich war's gar nicht so schrecklich traurig, denn er hat ihr das Haus hinterlassen, und die Lizenz geht nun auf ihren Namen. Er ist in einer schönen Sommernacht ertrunken; sie war wie diese heute; niemand weiß, wie es kam, wahrscheinlich hatte er schwer geladen, als er in die Schleuse fiel. Dann, nach dem Trauerjahr, nahm sie den Bowler, um den Schein aufrechtzuerhalten und einen Mann im Hause zu haben; außerdem sprach ein nettes Sümmchen auf der Bank zu seinen Gunsten. Ich meinerseits bin immer nur in großen Zwischenräumen hier aufgetaucht, und wo so viele Männer aus- und eingehen, hat niemand einen speziellen Verdacht auf mich, nur Mutter weiß es, und Bobby fängt an, mir so verdammt ähnlich zu sehen, daß es nach und nach peinlich wird. Aber Minnie ist ein gutes Mädel und mag mich gern – haben wir nicht ein nettes Essen bei ihr bekommen? – und Bobby gilt für vollkommen legitim, nur schäme ich mich, daß Bowler sein offizieller Vater ist; das ist bös für den armen kleinen Kerl. Manchmal möchte ich den alten Trunkenbold hinter seinem Vorgänger her in die Schleuse schmeißen, Minnie heiraten und der rechtmäßige Wirt vom Königswappen werden. Wär gar nicht so übel, was? Ganz vergnügtes Geschäft für die alten Tage.«

»Du hättest sie ja schon heiraten können, als ihr erster Mann gestorben war«, sagte Oliver scharf. »Dann könntest du dir die Arbeit sparen, Bowler umzubringen. Aber wahrscheinlich hattest du Pech und warst gerade auf See.«

»Durchaus nicht. Ich war da, und wie! Aber ich war dazumal ein glorreicher Kadett auf Urlaub und bildete mir ein, ich würde mal Admiral. Ein zukünftiger Admiral kann doch nicht eine Frau heiraten, die ein Wirtshaus hat. Das geht nicht. Aber jetzt wäre ich da ganz in meinem Element; ich würde die Sache für Bobby ebenso in Ordnung bringen, wie mein Vater es damals für mich getan hat.«

Oliver schwieg.

»Ich verrate dir alle meine Geheimnisse«, fuhr der andere fort, »und auch die meiner Familie. Ich denke, ich kann sie dir anvertrauen.«

»O ja, du kannst sie mir anvertrauen.« Oliver lächelte im Gedanken daran, wieviel sicherer, wie unendlich viel sicherer diese unerquicklichen Geheimnisse in seinem Herzen aufbewahrt waren als auf Jims loser Zunge. Und doch war Jim anfangs gerade durch seine Schamlosigkeit, seine Schwatzhaftigkeit, seine Indiskretion eine so große Erquickung und ein so fester Halt für ihn gewesen. Das Schlimmste von allem war, wenn man sich täuschen ließ, in einem Narrenparadies lebte und der Wahrheit nicht ins Gesicht zu sehen wagte.

»Na, du hast ja meine arme Mutter gesehen. Sie ist eine Bauerntochter aus Islip; und als mein Vater noch Bakkalaureus in Keble war und sich auf seine Ordination vorbereitete, pflegte er mit einem griechischen Buch in der Tasche lange, einsame Wanderungen in den Wäldern von Wood Eaton zu machen. Dort begegnete er ihr eines Tages ganz zufällig, sie war auch allein, und irgendwie, ohne daß sie beide recht wußten, wie es kam, war das Unabänderliche geschehen. Sie trafen sich manchmal wieder, und du kannst dir vorstellen, daß sich mein Vater fieberhaft überlegte, was der liebe Gott und die Engel an seiner Stelle tun würden. Er versprach ihr, sie sofort zu heiraten, wenn er eine Stelle hätte. Aber dann drohte ich auf einmal zu erscheinen. Die Heirat mußte beschleunigt werden, der arme Vater mußte seinen Vorgesetzten alles gestehen und bekam für sein ganzes Leben einen schlechten Ruf und dazu eine Frau, mit der die Damen der andern Geistlichen nicht verkehren wollten. Das war ein scheußliches Hemmnis. Zuerst mußte er in einer Schule im Norden Lehrer werden; und erst nach zehn Jahren bekam er endlich die Ordination und anständige Lebensbedingungen. Nicht daß er es sonst zum Bischof gebracht hätte, selbst wenn er die Tochter eines Herzogs geheiratet hätte; dazu ist er viel zu religiös. Aber er wäre heute wohl irgendwo Dekan oder Leiter eines Colleges. Seine unstandesgemäße Heirat und das aufschlußreiche Datum meiner Geburt haben ihn nicht hochkommen lassen. Der Klatsch in den geistlichen Kreisen hat nie aufgehört, obgleich offiziell alles mit mir in Ordnung ist« – und Jim fing an, den Ton einer Leichenpredigt nachzuahmen –, »ich war unehelich gezeugt, aber ehelich geboren. Ich könnte sogar den verdammten Familientitel annehmen, falls er uns zufiele; aber immer hat so etwas wie ein unheilvoller Balken über meinem Weg gelegen. Ich bin niemals ganz ich selbst gewesen, außer bei meiner Mutter, genau wie ein echter, rechter Bastard! Wir fühlen beide, daß die Welt gegen uns ist. Und dann dieses schreckliche Opfer, das Vater gebracht hat, indem er sich wie ein Engel benahm: schließlich war es ja doch umsonst, denn aus eigener Schuld kam ich später in eine viel schlimmere Schande. Es hat keinen Zweck, gegen den Stachel zu löken. Am Ende ist es wirklich besser, wenn Bobby in dem Glauben bleibt, er sei Bowlers Sohn. Dann braucht Minnie nicht wie eine Verbrecherin zu reden und zu wünschen, ihr alter Mann möchte doch endlich sterben.«

»O, ich dachte, sie hätte auf meinen Vater angespielt.«

»Auf deinen Vater? Wie käme sie auf deinen Vater?«

»Weil sie doch anscheinend erwartete, du würdest die See aufgeben und dich in England niederlassen. Das ist doch nur möglich, wenn mein Vater stirbt und die Jacht dir gehört, sodaß du sie verkaufen kannst und ein kleines Kapital hast, um irgend etwas anzufangen.«

Jim blieb stehen und sah seinem Freunde gerade ins Gesicht. »Also bei allem, was mir heilig ist, wenn du nicht willst, daß ich den ›Schwarzen Schwan‹ bekomme, so kannst du ihn für einen Dollar zurückkaufen, genau wie mir dein Vater ihn verkauft hat. Was soll ich auch mit der Jacht anfangen – sie würde mir dauernd, untragbare Unkosten machen und ich könnte sie nur schwer losschlagen. Mir wäre es lieber gewesen, der Doktor hätte mir in seinem Testament ein Geldgeschenk in bar oder eine nette kleine Rente vermacht. Aber das wollte er nicht; sagte, er wäre gebunden und könnte Außenstehenden nichts hinterlassen. Er könnte mir nur schon jetzt die Jacht und außerdem die Sammlungen schenken – die kann man natürlich leichter los werden – und mich inzwischen mit einem Pachtvertrag binden, den er beliebig oft erneuern würde; die Pachtsumme haben wir einfach in der Höhe meines Gehalts festgesetzt; und er zahlt natürlich alle Ausgaben, sodaß die Sache, solange er lebt, praktisch genau ist wie vorher. Aber um Himmels willen, Oliver, denke doch deswegen nicht, ich hätte vor, dich um dein Geld zu bringen! Ich hab selbst was auf der Bank, und ich bin noch jung genug, um meinen Weg in der Welt zu machen. Wenn alle Stricke reißen, kann ich immer noch eine Stelle als Arbeiter bekommen, und ich weiß, was das heißt; oder ich kann einen schönen tiefen Sprung ins Meer tun und nie wieder heraufkommen.«

»Warum sagst du so etwas, Jim? Wenn mein Vater dir die Hälfte seines Geldes vermachte, oder auch alles, würde mich das nur freuen. Wahrscheinlich täte er es auch gern, nur kann er es nicht – er wagt es nicht – meiner Mutter und der Leute wegen. Er hat mir davon erzählt, daß er dir den ›Schwarzen Schwan‹ geschenkt hat, denn er hat das Gefühl, daß er nicht mehr lange leben wird. Er kann dir kein Legat aussetzen; er hat ein Testament gemacht, als er heiratete, und seiner Frau versprochen, es niemals ohne ihr Wissen zu ändern – darin hinterließ er alles natürlich ihr; und er haßt es, ein neues Testament zu machen und Krach anzufangen. Aber er hat nach Boston telegraphiert und sich das Testament schicken lassen und es verbrannt. Die Jacht gehört schon dir, und ich werde zwei Drittel seines Vermögens bekommen, wenn ich volljährig bin, statt der Rente, die meine Mutter mir vermutlich gegeben hätte. Nicht daß ich mir viel daraus mache! Ich werde wohl Geistlicher oder Professor oder so etwas werden; ich werde immer viel zu viel Geld haben. Aber er möchte, daß ich unabhängig bin, und sicher ist ein Grund dabei der, daß er gemerkt hat, daß ich – daß wir Freunde sind; und er weiß, ich werde für dich sorgen, wenn du je in Schwierigkeiten kommst. Und das tue ich selbstverständlich auch, ganz gleich, was geschieht.«

Da umarmte Jim den Knaben plötzlich mit bärenhafter Stärke und küßte ihn.

»Du bist wirklich ein Engel, ganz ohne Zweifel. Vater sah es gleich am Nachmittag, als er seine Predigt hielt. Er hat das zweite Gesicht. Der Doktor ist immer ein Prachtmensch gewesen, aber du hast ihn wahrhaftig noch übertroffen.«


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