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Prolog

In den ersten Jahren nach dem Kriege war Mario van de Weyer in Paris beinahe mein Nachbar, denn er wohnte gerade dort, wo das linke Seineufer aufhört das Quartier Latin zu sein, und ich dort, wo es noch nicht das Faubourg Saint Germain ist. Aber Marios überströmend heitere, gesellige Natur überbrückte nicht nur mit Leichtigkeit diesen kleinen räumlichen Abstand, sondern auch den viel größeren zwischen unseren Lebensaltern. So manches Mal, wenn ich in der Dämmerung meine Papiere aufräumte und mich anschickte, zum Abendessen auszugehen, hörte ich die Hausglocke mit unverkennbarer, zuversichtlicher Entschiedenheit anschlagen, und ich rief, noch ehe ich die Tür ganz geöffnet hatte: »Ach, Vanny« (denn so hieß er bei seinen englischen Freunden), »wie nett! Wir haben ja seit ewigen Zeiten nicht mehr zusammen gegessen!«

Dann gehörte unser Abend den schon zehnmal wiederaufgefrischten Erinnerungen, die wir beide in so reichem Maße gemeinsam hatten, weil mich mit seiner Familie eine alte Freundschaft verband, die bis weit in die Zeit vor seiner Geburt zurückging. Unser Gespräch war eigentlich keine Unterhaltung zu nennen, wir dachten laut; und daß wir uns häufig wiederholten, störte uns in unseren Reden und Gedankengängen nicht im geringsten. Oft erwähnten wir den Sommertag in Windsor, an dem ich ihn zum erstenmal gesehen hatte. Es war im Garten unseres unvergleichlichen Howard Sturgis, meines Freundes und entfernten Vetters, der in dem weichen Nest seiner Kissen, seines Witzes und seiner Güte, umgeben von einer Menagerie zugelaufener Hunde und einem Schwarm von Freunden und Verwandten angenehm und üppig residierte. Mario, damals noch in seiner kurzen Etonjacke, stopfte sich gerade eifrig mit Erdbeeren voll, und ich erinnerte mich immer wieder der Antwort, die er uns gab, als wir seinen besonders elegant geschwungenen Hut lobten: »Schönster und billigster Hut in ganz Eton; stammt aus Busbys Laden für ›Peitschen, Hüte und Livreen‹; achtzehn Pence weniger, wenn Kokarde nicht gewünscht. Ist nämlich eigentlich ein Hut für 'nen Groom.«

Wenn wir so weit waren, griff Mario den Faden unserer Erinnerungen auf:

»Der alte Busby sah wie Mr. Pickwick aus, hatte eine Taubenbrust und legte den Kopf in den Nacken, wenn er die Wirkung eines neuen Hutes an seinem Kunden beurteilen wollte. ›Steht Ihnen glänzend, Sir; könnte gar nicht besser stehen, Sir; danke recht schön, Sir.‹ Seit dem ersten Mal, wo ich einen Hut bei ihm erstanden hatte, waren wir dicke Freunde. Als er mich nämlich zur Tür begleitete, hielt ich ihn plötzlich zurück. ›Hören Sie, Mr. Busby: angenommen, meine Leute wären ruiniert, und ich müßte mich nach einer Stelle umsehen – glauben Sie, ich könnte als Lakai unterkommen?!‹ ›Sie als Lakai, Sir? Will doch wirklich nicht hoffen – will sagen: natürlich, jederzeit, Sir; Sie würden der netteste kleine Groom von ganz London sein – vom Kutschbock runter wie ein Affe – Verzeihung, Sir, ich meine ,hurtig' – den Schlag vor Ihrer Gnaden aufgerissen –.‹ ›Fein, Mr. Busby, aber werden Sie mich auch empfehlen? Sie müßte wenigstens eine Gräfin sein und recht jung‹, fügte ich augenzwinkernd hinzu. Dann richtete ich mich stramm auf, machte ein korrektes Bedientengesicht, berührte formell den Hutrand und ließ ihn verdutzt zurück. ›Der Teufel soll mich holen‹, murmelte er noch hinter mir her, ›wenn so ein fixer junger Herr wie Sie nicht auch ohne Zeugnis sofort eine Stelle findet.‹ – Aber diese Zeiten sind vorbei. Der gute alte Busby ist längst tot. Niemand braucht mehr Peitschen, Kutscherhüte und Grooms; und wenn man noch mal einen Lakaien sieht, dann trägt er so 'ne blöde kleine Automütze mit Schirm. Sogar die Straße, wo das Geschäft war, ist verschwunden.«

»Das schadet nichts«, sagte ich, »wenn das Volk in der Mode tonangebend wird, bekommt die Männerkleidung ihre alte Verwegenheit wieder. Ein Groom war immer hübscher angezogen als ein Gentleman, denn für einen Gentleman besteht heutzutage der gute Stil ja nur darin, peinlich sauber, korrekt und unauffällig angezogen zu sein. Selbst die Militärs hassen alles, was nach Prahlerei und angriffslustiger Männlichkeit aussieht, sie fühlen sich unbehaglich in Scharlachrot mit goldenen Schnüren und flüchten nach Möglichkeit in die gesegnete Unscheinbarkeit des Zivils. Dabei befreit die Uniform des Industrialismus uns armselige Geschöpfe durchaus nicht von der Verpflichtung zur Eitelkeit und Sorge für unser Äußeres. Wir müssen die richtige Linie einhalten und dürfen nichts übertreiben; aber wir richten uns für unsere Geselligkeit nur zitternd und zagend her und mehr in der Furcht zu mißfallen, als in der Hoffnung zu glänzen.«

»Ich nicht«, sagte Mario lächelnd und richtete sich stolz auf. »Mir macht es Spaß, mich fein anzuziehen, damit die Leute was zu sehen kriegen.«

»Ich weiß; aber du bist eine seltene Ausnahme, ein Herzensbrecher von Beruf, ein bunter Vogel unter einer Million von Krähen. Du hast den Mut, dich so zu geben wie du bist, wie dein Vater den Mut hatte, ganz seinen feinsinnigen Liebhabereien zu leben. Auf andere Weise emanzipiert zu sein, hätte in seinen Tagen als lasterhaft und bösartig gegolten; und er blieb in seinem Wesen und Gebaren die Unschuld selbst, obgleich seine Begeisterungsfähigkeit grenzenlos war. Deshalb nannten wir ihn auch alle den ›lieben Harold‹. Als du ihn verlorst, warst du noch zu jung, um seine Begabung und seine Schwächen recht zu begreifen. Wie alt warst du eigentlich damals?«

»Ungefähr sieben Jahre.«

»Da war er natürlich für dich einfach der Papa, der dir lustige Bilder malte und dir Stevenson vorlas, um dein Englisch zu verbessern. In meiner Generation gab es viele solche Luxusamerikaner, die ihre Jugend auf der Ecole des Beaux Arts zu verlängern suchten, in der Hoffnung, das perikleische Zeitalter wieder heraufzuführen. Schon als wir noch in Harvard waren, stürmte Harold manchmal voller Begeisterung in die Schriftleitung des ›Lampoon‹, er hatte dann irgend eine plötzliche Idee für eine komische Zeichnung; aber der Witz ließ sich niemals auf die richtige Pointe bringen, und so endete das Bild nach verschiedenen Entwurfsversuchen schließlich im Papierkorb.

Später aber kam er jedesmal, wenn er es gerade wieder aufgegeben hatte, ein großer Maler zu werden – das passierte ihm alle zwei Jahre – auf seine alte Schwärmerei für die Genealogie zurück und eilte nach Holland, um nach seinen Vorfahren zu forschen. In demselben Garten in Windsor, wo wir deinen Hut bewunderten, entdeckte er eines Tages, daß in der Nachbarschaft eine altbekannte englische Familie namens van de Weyer lebte; und da half nichts, man mußte ihn sofort zu dem alten Oberst führen, damit er sich über dessen Stammbaum unterrichten konnte. Aber alle Nachforschungen brachten nicht die geringste Beziehung zwischen dieser Familie und den van de Weyers in New York zutage. Da er also in der privaten Genealogie erfolglos geblieben war, sprach er seitdem über Heraldik im allgemeinen und über seine monumentale Arbeit ›Heraldische Ornamente in der Baukunst‹, die er immer gerade veröffentlichen wollte. Sein ganzer Ehrgeiz, pflegte er zu sagen, bestehe darin, sein Leben einem eng begrenzten Gegenstand zu widmen, und die Heraldik enthalte das Geheimnis aller Künste gleichsam in einer Nußschale, denn dies Geheimnis sei nichts anderes als Selbstdarstellung auf dem Schilde der Selbstverteidigung. Aber sobald er diesen ersten glänzenden Grundsatz aufgestellt hatte, wußte er nichts weiter über die Sache zu verkünden; der Strom seiner Begeisterung stieß gegen eine Mauer und ergoß sich daraufhin lieber in die beglückende Tätigkeit, Exlibris zu sammeln.«

»Kein Unglück!« sagte Mario, während ein ernster Schatten über sein Gesicht zog. »Solche Liebhabereien schaden niemandem. Dagegen war es roh von ihm, daß er meine Mutter heiratete und sie so verhinderte, die größte Primadonna ihrer Zeit zu werden.«

»Aber wo wärst dann du geblieben, wenn dein Vater deine Mutter nicht geheiratet hätte? Den lieben Harold hätte es sogar gefreut, seine schöne Frau als glorreiche Diva mit der ganzen Macht des Genies auf den Brettern herrschen und auf einem Ozean von Blumenspenden von einer Huldigung zur anderen schiffen zu sehen. Nur sie selbst und ihre vernünftigen italienischen Verwandten wollten davon nichts mehr hören, als einmal ihre bürgerliche Zukunft sichergestellt war. Ihrer Ansicht nach hatte der reiche junge Amerikaner, der gerade zur rechten Zeit um sie anhielt, die Situation gerettet.«

So erging sich unser Gespräch zwischen Erinnerungen, die umso angenehmer waren, je weiter sie zurücklagen; nach und nach kamen aber auch die neueren Ereignisse an die Reihe, und Mario erzählte mir von dem einen oder dem andern seiner Freunde; von solchen, die im Kriege gefallen waren, oder von denen, die leer weiter lebten, ohne zu wissen, was sie mit sich anfangen sollten.

Eines Abends fanden wir uns allein in dem kleinen Raum bei ›La Pérouse‹ – die Damen aus New York am andern Tisch hatten in Hast das Lokal verlassen, um die Premiere im Vieux Colombier nicht zu versäumen; Mario hatte sie zum Taxi begleitet und versprochen, ihnen am nächsten Abend nach der Oper den Montmartre zu zeigen; nun war die Stille wiederhergestellt. Da geschah es wie so oft, daß sich unsere Gedanken dem jungen Oliver Alden zuwandten, der uns von allen Opfern des Krieges am nächsten gestanden hatte. Er war Marios Vetter und bester Freund gewesen und einer meiner begabtesten Schüler in Harvard.

»Wissen Sie, was ich mir schon manchmal gedacht habe?« sagte Mario nach einer Pause. »Sie sollten einmal Olivers Leben niederschreiben. Niemand anders könnte das sonst.«

»Olivers Leben? Braucht er einen Biographen? Und warum soll ausgerechnet ich auf meine alten Tage die Philosophie im Stich lassen und anfangen, eine Historie zu verfassen – vorausgesetzt, daß aus Olivers Leben überhaupt irgendwelche Taten und Ereignisse berichtenswert sind?«

»Taten nicht, aber etwas anderes, was Sie sicherlich mit boshaftem Vergnügen schildern würden: der Puritanismus, der sich selbst verdammt. Oliver war der letzte Puritaner.«

»Ich fürchte«, antwortete ich mit einer Melancholie, die nur halb geheuchelt war, »daß es in dieser verrückten Welt immer Puritaner geben wird. Der Puritanismus ist eine Reaktion gegen die Natur.«

»Ich meine ja auch nicht, daß der Puritanismus mit Oliver ausgestorben ist. Es mag immer wieder Menschen geben, die dazu neigen. Aber in Oliver erschöpfte sich der Puritanismus bis zu seinem logischen Ende. Oliver selbst kam auf puritanischem Wege zu der Überzeugung, daß es verkehrt sei, Puritaner zu sein.«

»Und trotzdem ist er einer geblieben?«

»Ganz gewiß, das war gerade die Tragödie. Er hielt es für seine unabweisbare Pflicht, den Puritanismus aufzugeben, aber er konnte es nicht.«

Ich sagte lachend: »Dann erging es ihm wie Miß Pickleworth in Boston, die mir einmal erklärte, sie beneide mich darum, daß ich kein Gewissen habe. Ich fand das etwas anmaßend von ihr, bis sie mir in vollem Ernst erklärte, die Menschen hätten im allgemeinen unbedingt zu viel Gewissenhaftigkeit und Selbstkritik; es sei falsch und grausam, sich selbst verkümmern zu lassen und sich aus Feigheit dem größtmöglichen Reichtum an Erfahrung zu verschließen; jeden Abend, bevor sie zu Bett gehe, überdenke sie deshalb grundsätzlich alles, was sie am Tage gesagt oder getan habe, aus Besorgnis, zu skrupelhaft gewesen zu sein.«

»Guter Gott! Nein, das hat nicht das mindeste mit Oliver zu tun. Er gehörte nicht zu jenen romantischen Banausen, die durchaus alles erleben wollen, was es irgend gibt. Er sparte sich für das Beste und Höchste auf. Gerade das machte ihn zum echten Puritaner.«

»Ganz richtig; in seinem Puritanismus war nie eine Spur von Ängstlichkeit, Fanatismus oder harter Berechnung, er war vielmehr eine tief spekulative Macht: Haß gegen allen Trug, Verachtung jeglichen Scheins, bittere, erbarmungslose Freude an der harten Wirklichkeit verbanden sich darin. Diese Leidenschaft für das Wirkliche war bei Oliver etwas Wundervolles, denn vieles in seiner Veranlagung und in seiner Umgebung hätte ihn verführen und seinen Geist unter weltlichen Konventionen verschütten können. Er war Millionär und doch von peinlicher Einfachheit und stillem Heldentum. Deswegen liebten wir beide ihn ja auch so. Wir sind keine Puritaner; und wenn wir diese soviel unbestechlicheren Menschen mit unserer natürlichen Laxheit vergleichen, müssen wir sie wider Willen bewundern, weil sie wirklich das Auge auszureißen vermögen, das sie ärgert, selbst wenn es das Auge für die Schönheit ist, und schließlich lahm und hinkend in das Königreich der Herzensreinheit eingehen. Für meine eigene Person mache ich mir nichts aus Selbstkasteiung, denn die richtet sich gegen die Fülle des Lebens, gegen die Intelligenz und gegen die Ironie der letzten Wahrheit. Aber ich sehe ein, daß die Enthaltsamkeit an sich, gleichsam als Kunstwerk betrachtet, das Schönere ist, und ich liebe sie an andern.«

»Ich habe ja immer gewußt, daß Sie mehr von Oliver hielten als von mir.« Mario war der Liebling seiner Mutter gewesen und war durch das Entgegenkommen der Frauen so verwöhnt, daß seine ausgeprägte Männlichkeit zuweilen in Koketterie umschlug. Er hatte eine Schwäche für Schmeicheleien, kleine Geschenke und die allerbesten Zigaretten.

»Von Olivers Tugend hielt ich natürlich mehr. Aber ich unterhalte mich lieber mit dir.«

»Na, in Oxford, als er dort im Kriege das Erholungsheim hatte, führten Sie immer endlos lange Gespräche mit ihm.«

»Freilich, aber das waren philosophische Diskussionen, die ja nie sehr befriedigend verlaufen. Hast du dich je mit Mönchen oder Nonnen unterhalten? Zugegeben, manche von diesen guten Seelen sind Heilige, aber ein Gespräch mit ihnen wird immer sehr bald unfruchtbar und eintönig, selbst wenn es von geistlichen Dingen handelt, denn es dreht sich stets um einige wenige sanfte und hartnäckige Grundsätze im Kreise. Nun: Oliver wäre sicher Mönch geworden, wenn er Katholik gewesen wäre.«

»Ja, und ich glaube sogar, er wäre noch zum Katholizismus übergetreten, wenn er länger gelebt hätte.«

»Meinst du wirklich? Dieser durch und durch nordische Charakter hätte den schmalen Pfad des absoluten Willens verlassen können zugunsten der alten römischen Heerstraße der Tradition? Gewiß: auf der Landkarte sieht diese Straße genau so geradlinig aus wie jener Pfad, oder sogar noch gerader; aber sie führt so unbekümmert auf unebenem Gelände bergauf und bergab wie ein kleines Boot auf hoher See; und während ihre Mitte für die getreuen Kämpfer gleichmäßig gepflastert ist, ziehen sich an ihren beiden Seiten breite Grünstreifen für die Schafe und Ziegen entlang, und überhaupt findet man dort angenehme Rastplätze und wohnliche Endstationen. Man könnte fast seine Aufgabe vergessen und das Leben für eine Vergnügungsreise oder sogar für ein Picknick halten. – Und wie hat Oliver immer Picknicks gehaßt – die unordentlichen Speisereste, das weggeworfene Papier, die laute Munterkeit, die Raufereien und Liebesszenen, die auf dem grünen Grase improvisiert wurden! Wenn es aber sein mußte, ertrug er das alles wacker und stillschweigend. Das hielt er für seine Pflicht der Demokratie gegenüber. Nein, Katholik wäre er nicht geworden. Seine Phantasie war nicht hochfliegend und frei genug, um eine zweite Welt über der diesseitigen aufzubauen und wahrhaft an sie zu glauben. Er mißtraute einem so doppeldeutigen Bau, aber auch das Chaos konnte er nicht ertragen. Um ihm zu entgehen, ohne der Menschheit Phantasiebilder oder falsche Hoffnungen vorzuspiegeln, wäre er imstande gewesen, uns irgend eine Gewaltherrschaft aufzuzwingen. Ja, obgleich er ein so freier, feiner, empfindsamer Mensch war, hätte er für seine Person womöglich die rote kommunistische Tyrannei anerkannt, die einem den schmutzigen Revolver unter die Nase hält und dazu brüllt: ›Sei wie ich, oder stirb!‹«

»Na, bei den Bolschewiken hätte er nicht viel Puritanertum gefunden«, sagte Mario und dachte an die freie Liebe.

»Im Bolschewismus ist wenigstens das eine Element des Puritanismus enthalten, auf das Oliver den Hauptwert legte: Kompromißlosigkeit um jeden Preis und daher Verachtung aller praktischen oder theoretischen Zugeständnisse.«

»Ich glaube nicht, daß Oliver jemals richtig verliebt war«, warf Mario ein, der meinen letzten Worten kaum zugehört hatte und offenbar jetzt an verschiedene Vorfälle dachte, die er lieber mit Stillschweigen überging. »Die Frauen machten ihm beträchtliche Schwierigkeiten. Er glaubte, er hätte sie gern, und sie glaubten, sie hätten ihn gern, aber immer fehlte etwas dabei. Für ihn waren alle Frauen Damen: mehr oder weniger schöne, gütige, bevorrechtete und rätselhafte Wesen. Nie hat er die Entdeckung gemacht, daß alle Damen Frauen sind.«

»Ja, und gerade das ist die Seite, die du an ihnen siehst! Aber du vergißt, daß manche der Damen, die Oliver kannte, an derselben Hemmung litten, wie er selbst; sie entsteht bei Menschen, die übermäßig behütet, dabei aber überentwickelt sind. Alles Geschlechtliche ist ihnen zuwider, und sie können es nicht auf beglückende Weise mit ihrem Gefühl für die Menschen, die sie lieben, in Verbindung bringen. Deshalb bleibt Sinnlichkeit für sie immer etwas Ekelhaftes, bloße Zärtlichkeit aber etwas Unvollkommenes.«

»Die Armen!« rief Mario in aufrichtigem Mitleid. »Wahrscheinlich ist das der eine Punkt, den ich bei Oliver nie verstanden habe. Der andere ist seine Philosophie. Ganz bestimmt wäre es gerade für Sie eine lohnende Aufgabe, sein Leben zu schildern. Sie verstanden ihn durch und durch. Sie kannten seine Familie und seine Umgebung, und Sie können mit allen diesen deutschen Philosophen umgehen, die er immer zitierte.«

»Ich weiß doch nicht! Du und ich, wir haben den ungeheuren Vorteil der katholischen Tradition. Wir sind schon mit der Klarheit auf die Welt gekommen und brauchen daher nicht nach Klarheit zu streben. Aber das gewohnte Licht unseres Alltags macht uns vielleicht blind für das, was im Dunkel vor sich geht; die Wurzeln aller Dinge liegen unter dem Erdboden. Möglicherweise lassen wir uns von dem blauen Himmel betrügen und sind törichte Astronomen, indem wir Beobachtungen bei Tageslicht anstellen wollen.«

»Nun, hier haben Sie ja Gelegenheit, Ihr Teleskop so lange auf die Tiefen unseres armen Oliver zu richten, bis Sie Ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben und schließlich finden werden, daß sich nichts darin verbirgt. Oder vielmehr: Sie werden etwas völlig Alltägliches entdecken! Nichts ist weniger wunderbar als das, was die meisten geheimnisvollen Leute, besonders Frauen, als ihr Geheimnis hüten: nur halten sie es in einem schön bemalten Schrein mit sieben Schlössern verborgen, damit niemand sehen kann, was es eigentlich ist.«

»Offen gesagt: ich glaube zu wissen, worin Olivers Geheimnis bestand«, antwortete ich. »Es war alltäglich genug und, wenn du so willst, sogar universell. Es handelte sich bei Oliver einfach um die Tragödie des Geistes, der sich nicht damit begnügt zu verstehen, sondern gebieten will. Die alten Calvinisten zerschnitten diesen gordischen Knoten, indem sie die Ansicht verfochten, seit dem Sündenfall habe zwar der Geist aufgehört, über die Welt und ihre Leidenschaften zu herrschen, aber trotzdem sei er im geheimen allmächtig und werde am Jüngsten Tage diese Welt samt ihren Leidenschaften durch Feuer vernichten. Oliver litt nicht unter einer solchen Täuschung. Er sah den Weltbrand, wie er wirklich war: das endlose Feuer des unvernünftigen Lebens verzehrte sich selbst, dennoch stieg aus den Flammen der Geist empor und betrachtete das Schauspiel unter Tränen, aber auch mit beträchtlicher Neugierde und Befriedigung. Trotzdem hat es Oliver schwerlich je so weit gebracht, daß er sich in dieser törichten Welt zu Hause fühlte. Ich konnte ihn niemals davon überzeugen, daß Vernunft und Güte nur sekundäre Begleiterscheinungen sind. Sein absolutistisches Gewissen blieb ein Kronprätendent, der auch in der Verbannung die angestammten Rechte auf den Thron geltend machte. Ich gestehe, daß es mich locken würde, an Olivers Gestalt die Purifizierung des Puritanismus in ihrer ganzen Hartnäckigkeit zu verfolgen. Aber woher soll ich den äußeren Stoff nehmen? Ich müßte ihn zur Hälfte erfinden, und ich bin kein Romanschreiber.«

»Oliver hat immer ein Tagebuch geführt, und es sind eine Menge Briefe von ihm und an ihn da. Seine und seines Vaters Papiere hat er mir sämtlich hinterlassen; ich stelle sie Ihnen gern zur Verfügung. Außerdem könnten wir seine alte deutsche Erzieherin um ihre Aufzeichnungen bitten; die sind bestimmt sehr umfangreich und gefühlvoller, als ein guter Roman es sich heute leisten kann. Auch seine Mutter wäre natürlich in der Lage, uns zu helfen, aber sie wird es niemals tun. Von der Seite haben wir nichts zu erwarten.«

»Wir brauchen sie auch gar nicht. Ich kann mir gut vorstellen, was sie in jeder Situation gesagt und getan hätte. Aber trotz aller möglichen Dokumente müßte ich manche Lücke selbst ausfüllen und alle Dialoge selbst ausdenken. Das würde mir niemals gelingen. Und wie, mein lieber Vanny, soll ich mit den Liebesszenen fertig werden?«

»Ach was, Liebesgeschichten gibts in allen Buchläden mehr als genug für den, der so was mag. Aber was hat man schon von Liebe auf dem Papier! Dies hier soll ja die Geschichte eines tragischen Lebens werden.«

»Bedenke doch, ich müßte eine Menge noch lebender Leute porträtieren, darunter vor allem dich!«

»Sie werden es schon machen.«

»Es ist eine heikle und vielleicht unmögliche Aufgabe, die richtigen Worte zu finden für zartere Gefühle und mannigfaltigere Gedanken, als ich selbst sie habe. Aber ich will es versuchen. Es heißt ja, wir alle trügen so manche unentwickelten Anlagen in uns, die unter hypnotischem Einfluß erschlossen werden könnten. Wenn mich meine Eingebungen im Stich lassen, werde ich dich herbeizitieren, damit du den Zauber erneuerst, und vielleicht wird es mir gelingen, Olivers Gedanken und auch die von euch andern ohne Indiskretion so weit wiederherzustellen, als sie die Welt erfahren darf.«


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