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12

Nach der harten körperlichen Anstrengung löste die Frische reinen Leinens und gekühlten Blutes ein kräftiges Wohlgefühl in Oliver aus. Ein ausgezeichneter Gedanke von Lord Jim: das Dinner im Pyjama einzunehmen! Es war Regel an Bord, hatte er gesagt, sich zum Essen umzuziehen, denn das trug dazu bei, die Schiffsdisziplin aufrechtzuerhalten, und verlieh der Tafel des Doktors die Würde der Offiziersmesse eines Kriegsschiffes. Aber heute abend nahm der Doktor nicht am Essen teil, und wenn es ihnen beiden paßte, in Schlafröcken zu dinieren – was der Maat und der Ingenieur niemals wagen würden – so waren die Rangunterschiede dadurch ebenso deutlich betont wie durch eine Kleidung, die ins andere Extrem ging.

Im Freien speiste auch der Doktor immer, wenn sie im Hafen lagen und das Wetter es erlaubte. Die Tafel war, wie Oliver bemerkte, feierlich gedeckt. Eine chinesische Laterne aus geschnitztem Ebenholz und gemalter Seide stand in der Mitte und warf auf die Gläser und das Silber tausend farbige Lichter. Eine Flasche Champagner und eine Flasche Mineralwasser lehnten in einem silbernen Kühler ihre Köpfe torkelnd aneinander. Lord Jim mit seiner Zigarette im Mundwinkel wirkte in seinen orientalischen Gewändern höchst malerisch und beherrschte gewichtig die Situation; er führte Oliver an seinen Platz, dirigierte mit ein paar Winken den Steward und den Schiffsjungen und sorgte für den vorschriftsmäßigen Verlauf des Essens.

Oliver widmete den Speisen keine Aufmerksamkeit: während er sonst unbekannte Gerichte nicht anrührte, aß er jetzt unbedenklich von allem. Sein Sektglas war gefüllt worden, bevor er hatte abwinken können. Er ließ den Champagner eine Weile stehen; aber später, bei dem mit Pfeffer gebratenen Huhn, dachte er doch, jetzt sei die richtige Gelegenheit, dieses Getränk zum erstenmal zu versuchen. Es war nichts Unrechtes dabei, falls man das passende Alter erreicht hatte, und heute abend glaubte er, alles in allem, so weit zu sein.

Er trank ein halbes Glas; sofort wurde es vom Steward wieder gefüllt, aber diesmal vergebens. Nein, er mochte keinen Champagner, er schmeckte ihm nicht – im Gegenteil, er brachte ihn zu der entschiedenen Erkenntnis, daß, wie schon Pindar gesagt hatte, Wasser das beste war. Jede Sinneswahrnehmung traf bei Oliver gewissermaßen verspätet ein, sie drang erst ins Bewußtsein, wenn sie moralisch wurde. So sprach bei ihm der Magen, nicht der Gaumen. Er wollte jedes Gedankens an die Sinneswerkzeuge enthoben sein, damit der Geist leicht und frei für seine eigenen Flüge werde. Glücklich sein hieß singen, nicht aus Zwang oder Gewohnheit oder künstlerischen Gründen oder zu einem bestimmten Zweck, sondern aus naturhaftem, ja religiösem Antrieb, weil »es« in einem sang und alles andere in dem Augenblick entschwand und verstummte. Die Dinge waren nur dann wahrhaft schön, wie etwa ein Schiff unter vollen Segeln, wenn sie das freie Fluten des Lebens zum Bewußtsein brachten und im eigenen Innern auslösten. Aber Sekttrinken – das war entschieden nur eine künstliche Anregung und daher sinnlos; eine erzwungene Freude und daher freudlos; ein ausgeklügeltes Mittel, die Vernunft in Narrheit zu ersticken und daher widerwärtig! Dieses ganze luxuriöse Leben Lord Jims und seines Vaters, dieses müßiggängerische Nippen an bloßen Sensationen war eine leidige Sache, beinahe lasterhaft.

Was Essen und Trinken anging, so genügte dafür alles, was kein Gift und kein Rauschmittel war! Wenn Oliver sich auswärts sein Essen selbst wählen konnte, weil er etwa Rugby spielte und keine Zeit hatte, zum Lunch heimzufahren, dann bestand seine Lieblingsmahlzeit aus drei Gerichten, die er auf dem hohen Stuhl an der Lunch-Theke des Bahnhofs zu sich nahm: Austernsuppe zur innerlichen Erwärmung, Fleisch-Sandwiches zur Stärkung für die kommenden Anstrengungen und ein Schälchen mit Eierrahm, um den groben Nachgeschmack zu vertreiben; das Ganze wurde mit ein oder zwei Gläsern kalter Milch hinuntergespült, die ebenfalls zum Wohlbefinden beitrugen. Ihn verlangte nach nichts Auserlesenem, und exotische Kochkünste waren bei ihm nutzlos vergeudet.

Nicht so die jungenhafte Offenheit von Lord Jims Unterhaltung, die sich in kunstlosem Tatsachenstil über alle Dinge zwischen Himmel und Erde erging und von den öffentlichsten zu den privatesten Angelegenheiten schweifte, ganz als ob er laut dächte. Nur hier und da wandte er sich mit einem kleinen Lächeln an Oliver, wie um zu fragen: Nicht wahr, so ist's doch! Meinen Sie nicht auch?

Oliver war gewöhnt, daß man sich besorgt oder freundschaftlich oder mit jener freudig-überhitzten Herzlichkeit, die in Great Falls für geistreich galt, an ihn wandte; aber hier lernte er eine gänzlich neue Art von Unterhaltung kennen. Das Gespräch schien in keiner Weise auf ihn zugeschnitten zu sein. Er wurde gleichsam eingeladen, es anzuhören, ähnlich wie vor gewissen Verkaufshallen ein Schild in der offenen Tür anzeigt: Eintritt frei! Und es war in der Tat nicht schwer, dieser Aufforderung zu folgen. Lord Jim sah die ganze Welt mit den Augen eines Jungen, ohne geheimnisvolle Vorbehalte und unzulängliche Vorurteile. Nur die ›Schattenseite‹, die allzu menschliche Seite des Wissens kam ihm so begreiflich und natürlich vor, wie Oliver die ›Sonnenseite‹. Vielleicht konnte man sich, wenn man seine Augen einmal an künstliches Licht gewöhnt hatte, ebenso leicht und spielend zwischen den menschlichen Angelegenheiten bewegen wie zwischen Phänomenen der Natur? Vielleicht waren diese Menschlichkeiten ebenfalls Naturphänomene, und die ganze Verwirrung kam daher, daß man versuchte, sie anders anzusehen?

Niemals hatte Oliver jemanden mit so viel Erfahrung von so fremden Welten reden hören – denn das Meer und Klondike, die britische Marine und der englische Katholizismus, alles kam nacheinander an die Reihe – und doch hatte vor ihm noch nie jemand so einfach über alle diese Dinge gesprochen, so, als seien sie alle miteinander gleich selbstverständlich und gleich zugänglich. Nicht daß Lord Jim seine Mitmenschen niemals auslachte und verurteilte – das tat er sogar höchst freigebig und unbekümmert, aber er blieb dabei bescheiden und ohne Bosheit, als dürfte man eben keineswegs erwarten, daß alles anders wäre. Mochte die Welt einem auch noch so absurd und ungeheuerlich vorkommen – es war schließlich, als ginge man durch den Zoo und beschaute das Nilpferd, die Kobra, den Pfau und die Giraffe: närrische Geschöpfe, aber was ließ sich dabei machen? So schienen auch Geltung, Würde und Macht der Menschen nichts anderes zu sein als eine Art von gesellschaftlichem Fell, Gehörn und Gefieder, und diese groteske Aufmachung konnte für den, der ihr unbewaffnet entgegentrat, recht unangenehm werden, wie sie auch dem Träger selber zur Last war.

Als der Madeira den Champagner und der Whisky den Madeira abgelöst hatten und Steward und Schiffsjunge nicht mehr so unvermittelt am Tische auftauchten wie Kometen im Sonnensystem, wurden die Gespräche des Kapitäns persönlicher.

»Ihr alter Herr hat Ihnen wohl gesagt, daß er mich Lord Jim nennt? Sie wundern sich vielleicht darüber. Hat er's Ihnen erklärt?«

»Er sagte, Sie wären in Unannehmlichkeiten geraten wie der Lord Jim in Joseph Conrads Geschichte, nur auf andere Weise.«

»Aber er hat nicht gesagt, was los war?«

»Nein.«

»Es ist kein Geheimnis. Es füllte damals Spalten und Spalten in der Times und natürlich erst recht in den kleinen Blättern. Tagelang saßen alle Cityherren auf der Fahrt nach London wie die Eulen in ihren Erster-Klasse-Polstern und weideten sich an dem ganzen Skandal. Ein Kriegsgericht in voller Uniform war zusammengetreten. Und warum? Weil man ein paar Rotznasen dabei belauscht hatte, wie sie gewisse Dinge beim rechten Namen nannten. Unmoral in der britischen Marine! Der alte Admiral und die Kapitäne waren furchtbar entsetzt. Sie wälzten die Gesetzbücher und schickten sogar nach den Messevorschriften, damit ihnen kein Paragraph entginge. Sie übten sich vor dem Spiegel feierliche Gesichter ein, wie zum Beten, und wenn sie noch irgendwelche Erinnerungen an eigene Jugendstreiche hatten, dann schlossen sie diesen Teil ihres Gedächtnisses hermetisch zu und versuchten, unbedingt so auszusehen und zu empfinden wie die Königin Viktoria, oder wenigstens wie Prinz Albert.

Wieviel besser wäre man mit so einer Sache in Eton fertig geworden, oder in Radley, wo ich zur Schule ging, ehe ich nach Dartmouth kam. Dort hätten die alten Pfarrer und Schulmeister, statt öffentlich Skandal zu machen, ganz still einen der Rädelsführer hinausgeworfen und den übrigen mit einer scharfen Predigt Angst und Schrecken eingejagt. Ihre preiswürdige Beredsamkeit wäre von dem Thema der begangenen Untaten mühelos zu erhabenen Gedankengängen aufgestiegen, hätte dadurch die erwachende Erregbarkeit der Jungen von der Unkeuschheit auf die Religion abgelenkt und höchstwahrscheinlich aus kleinen Lümmeln kleine Heilige gemacht. Aber diese Tölpel bei der Armee und Marine schlagen zwar bei Gelegenheit selbst kräftig über die Stränge, doch sobald ihnen offiziell eine faule Sache vorkommt, schlottern sie vor Angst. Sie wissen dann nichts Gescheiteres zu tun als ein wütendes Gesicht zu machen und das Gesetz in seiner ganzen Schärfe anzuwenden, damit nur ja niemand sie für lax in ihren christlichen Grundsätzen hält. Ihre plumpen Seemannsgehirne ziehen sofort die wildesten Schlußfolgerungen, als ob es in der menschlichen Natur keine Schattierung zwischen Schneeweiß und Rabenschwarz gäbe.

Nun hätten die Richter bei unserem Kriegsgericht – soweit sie nicht geborene Esel waren – sehr wohl wissen müssen, daß die meisten von uns unschuldig, das heißt nicht in dem Maße schuldig waren, wie es sich ihre edle Phantasie sofort ausgemalt hatte. Weiß Gott, wir hatten geschwätzt, zu viel geschwätzt und die allergemeinsten Ausdrücke gebraucht, und falls wir wirklich einen kleinen Marinekonfirmanden in etwas eingeweiht hatten, was er auf eigene Faust noch nicht erforscht hatte, so konnte er uns dafür nur dankbar sein. Denn es gehört sonst zu diesen verwünschten Übergangsjahren, daß man wegen vermeintlich unerhörter Dinge dauernd errötet und etwas, das in Wirklichkeit allen passiert, für ein entsetzliches Privatgeheimnis hält. Aber unser Geschwätz in der Kadettenmesse war zu weit gegangen, wir hatten alle Zurückhaltung verloren, und das kam daher, daß der jüngste Leutnant, der kaum älter war als wir andern, sich einfach nicht als Gentleman benahm, sondern sich als wilder Radikaler aufspielte, sich für verflucht gescheit hielt und Freiheit für die Marine verlangte. Anstatt uns also von Anfang an das Maul zu verbieten, lachte er über unsere gemeinen Worte und drückte ein Auge zu bei unseren Dummheiten; dabei benützte er sogar mit Freuden die Gelegenheit, ein paar moderne Ideen aufzuschnappen, die, weiß Gott, fortschrittlicher waren als seine eigenen, und bildete sich noch etwas drauf ein, die »Rede- und Gewissensfreiheit« zu unterstützen.

Ziemlich schnell bekam der Kommander Wind davon. Nun müssen Sie wissen, wie die Dinge bei uns liegen. Das englische Gesetz ist ein richtiger Schwindel. Es verbietet dir bei entsetzlichen Strafen, die Großmutter deiner verstorbenen Frau zu heiraten, aber es besteht darauf, dich straffrei ausgehen zu lassen, wenn du dich nur mit Worten mißliebig gemacht hast – ganz gleich, wieviel Schaden aus deinen Worten entsteht! In Wirklichkeit aber gibt es für dich keinen Freispruch, solange es eine Gesellschaft gibt. Ein Mann, der die Seele eines andern schädigt, greift in dessen Leben genau so ein, als wenn er ihn aufs Auge gehauen hätte; im ersteren Fall schmerzt der blaue Fleck zunächst weniger, aber er hält sich länger. Ich sage Ihnen: die Freiheit der Presse und die Straßenredner im Hyde-Park – nicht die im Parlament – werden noch Englands Ruin; und wenn ich England sage, meine ich zugleich auch Amerika und Frankreich und die ganze verdammte Bande. Es mag noch ein bißchen mit dem Untergang dauern, und vielleicht erleben wir ihn nicht mehr, denn schließlich sind wir Engländer ein praktisches Volk. Wenn wir also einen Mann gesetzlich nicht für etwas bestrafen können, was er gesagt hat, bestrafen wir ihn einfach für etwas, was er gar nicht getan hat. Es ist gehupft wie gesprungen, und es liegt eine Art plumper Gerechtigkeit darin, obwohl jeder einzelne Schritt dabei eine Lüge und das ganze Verfahren bloß Theater ist.

Natürlich konnte in unserem Fall das Kriegsgericht nicht mehr zurück, nachdem es einen so erstklassigen Skandal aufgestöbert hatte. Es konnte nicht einfach eingestehen: Der Fehler liegt bei uns! Die Bonzen mußten ihre wachsame Autorität dadurch bekunden, daß sie ein paar schwere Strafen austeilten. So bekamen fünf von uns Kadetten und der Leutnant den Abschied. Einige Richter, das muß ich zugeben, hatten völliges Verständnis für den Fall, und der Spruch erfolgte nicht einstimmig. Und weil die Mutter von einem der Jungen sich mit der Schande nicht abfand und reich genug war, durch Rechtsanwälte Klage führen und Revision einlegen zu lassen, wurde der Prozeß drei oder vier Jahre später tatsächlich wieder aufgenommen und das Urteil widerrufen. Aber ich war aus der Marine heraus und damals in Yukan, und für mich war's zu spät.«

»Aber nein«, rief Oliver mit dem ganzen Eifer des Klassenprimus für genaue Logik und Gesetzmäßigkeit, »wenn Sie doch freigesprochen waren, warum ließen Sie sich dann bei der Marine nicht wieder einstellen und machten einfach weiter, wie wenn nichts geschehen wäre?«

»Weil eben etwas geschehen war, und zwar das einzige, was wirklich zählt. Ich war ein Gezeichneter. Ich war gebrandmarkt. Ein Freispruch bedeutet vor der Welt nichts. Einzig die Tatsache, daß man unter Anklage gestanden hat, fällt ins Gewicht. Was ein anderer über einen denkt oder sogar von einem weiß, spielt keine Rolle, solange der öffentliche Ruf nicht bedroht ist und man als moralisch normaler Mensch gilt; aber der beste Freund wird einen fallen lassen, wenn er merkt, daß man in schlechtem Geruche steht. Außerdem war ich nachher zu alt und mittlerweile selbst ans Befehlen gewöhnt. Die Kadettenmesse mit all den grünen Bürschchen und den dummen Regeln wäre mir zur Hölle geworden – da hätte ich mich fast wohler auf dem Mannschaftsdeck gefühlt – und die vorgesetzten Offiziere hätten mich schief angesehen, weil ihnen meine größere Erfahrung nicht gepaßt hätte. Nein, mit der Marine war ich fertig. Jetzt mache ich mir nicht mehr viel aus der Sache, aber zuerst war es schrecklich und auch verdammt unfair meinem armen Vater gegenüber, der jedes erdenkliche Opfer für mich gebracht hatte und sehr knapp dran war. Ich wagte nicht, nach Hause zu kommen, sondern schrieb, daß ich ins Ausland wollte. Ich ging zunächst als Steward auf einen kanadischen Passagierdampfer und nahm dann jede Arbeit an, die ich kriegen konnte. Meine Mutter habe ich aber heimlich doch getroffen. Zwischen uns gab es keine Geheimnisse. Und wenn ich ein verurteilter Mörder gewesen wäre, hätte sie deshalb nur fester zu mir gehalten. Sie hatte von sich aus einen alten Groll gegen die Gesellschaft, und ihr Junge stand ihrem Herzen am nächsten, ganz gleich, was er tat. Sie ließ die Schande ganz gelassen über sich ergehen, als wollte sie mit Achselzucken sagen: ›Die Kerle! Sie sind nicht besser als du und ich, aber sie spielen sich auf, weil sie reicher sind.‹ Aus ihrer eigenen Jugend kannte sie das harte Leben der Armen, die sich vorsichtig wie Tiere einen Weg zwischen Gefängnis und Armenhaus suchen müssen und niemals wissen, was morgen aus ihnen wird. Die Moral vereinfacht sich von diesem Standpunkt aus ungeheuer. Sie besteht darin, daß man den Henker betrügt und sein Schäfchen ins Trockene bringt.«

Oliver schwieg. Er dachte an ein Kasperltheater. Herrschte dort nicht dieselbe Moral? – Aus den Reden Lord Jims fuhr ihm ein so scharfer Wind entgegen, daß es ihm zunächst den Atem benahm. Die Strömung, die diese Wortflut tief in seinem Innern erregte, vermochte sich nicht sofort an der Oberfläche zu zeigen.

Jim, seinerseits, der nunmehr gesagt hatte, was ihm am Herzen lag, schüttete, als keine Fragen mehr kamen, den Rest seines Whisky-Soda herunter, steckte seine Pfeife ein und meinte, er wolle mal nach unten gehen und nach dem Doktor schauen.

Wenn er vielleicht auch fand, daß er den Henker noch nicht endgültig betrogen hatte, sondern die Schlinge gleichsam noch um den Hals trug, so war es ihm doch geglückt, ein erstklassiges Schäfchen ins Trockene zu bringen; und er mußte heimlich darüber schmunzeln, wie gut bis jetzt alles geklappt hatte. Hier stand er, überließ sich unter dem Einfluß einer balsamischen Nacht und eines vorzüglichen Abendessens dem Genuß, endlos über sich selbst zu reden, durchlebte wieder einmal seine romantische Vergangenheit und bewies sich und andern bis aufs I-Tüpfelchen, daß er ein Mann, ein Gentleman war, dem die Welt unrecht getan hatte. Und das alles ohne eine einzige Lüge, denn es ging nicht an, diesen Leuten hier etwas vorzuschwindeln. Lügen haßten sie mehr als irgend etwas anderes. Nun aber hieß es neue Möglichkeiten in Betracht ziehen. Untiefen konnten vor ihm liegen, vielleicht aber auch ein sicherer Ankerplatz. Er durfte sein Schiff in unerforschten Gewässern nicht mit Volldampf voraus fahren lassen. Des Doktors Gesundheitszustand war bedenklich, und jeden Augenblick konnte dieser junge Oliver Eigentümer der Jacht werden, oder er konnte im Herzen des Doktors Jims Platz einnehmen. Es war zweierlei: Kapitän einer Luxusjacht und fast eine Art Adoptivsohn eines Millionärs zu sein – oder plötzlich ohne Stellung und Gönner dazustehen, vielleicht als Navigationsoffizier irgend eines Rennbootes oder zweiter Maat eines Frachtdampfers! Da war's schon besser, der alte Mann machte es noch eine Weile, wenigstens so lange, bis der Junge die richtige Liebe zur See gefaßt hatte.

Oliver hatte seinen Vater vollständig vergessen, denn dessen Abwesenheit kam ihm ebenso normal vor wie sonst die Anwesenheit seiner Mutter. Peters Gewohnheit, sich auch daheim abzusondern und sich auf sein Zimmer zurückzuziehen, ließ sein heutiges Verschwinden vollkommen natürlich erscheinen. Warum sollte Jim deswegen besorgt sein? Vielleicht war er es in Wirklichkeit gar nicht und wollte sich nur ein bißchen die Beine vertreten.

Oliver stand ebenfalls auf. Ja, es war eine wunderbare Sommernacht: Sterne, Hafenlichter, die sich im Wasser spiegelten, und das planvolle Aufblitzen des Blinkfeuers, das für Oliver bedeutsamer schien als alle Wunder der ihn umgebenden Natur, da es den Entschluß des zivilisierten Menschen kundgab, so ungefährlich wie möglich zu leben. Was für ein Tor dieser Nietzsche doch eigentlich war! Dichtung, Philosophie und Kanzelreden berührten absichtlich die Dinge nur an einem Punkt, logen absichtlich, um Eindruck zu machen.

Die einfache Wahrheit! Welche Befreiung, welche Erlösung! Wie leicht konnte ein Mann seine Rechnung mit der Welt ins reine bringen, wenn er den Mut hatte, ihr ins Gesicht zu sehen. »Lord Jims Mutter« – und nun begannen Olivers verdrängte Gefühle sich zu melden – »Lord Jims Mutter tritt für ihren Jungen gegen die ganze Welt ein, während meine Mutter – nie zuvor erkannte ich das so klar – stets für die Welt und gegen ihren Jungen eintritt. Ich mag keine Lügen, und die zugunsten der Moral sind mir nicht lieber als die zu ihren Ungunsten. Sie verfälschen die Moral, sie machen sie zur Heuchelei. Nicht die offenen furchtlosen Menschen wie Lord Jim sind unmoralisch, sondern die sogenannten ›moralischen‹ Leute, die Feiglinge und Lügner. Ich werde ihre Fälschungen nicht mitmachen. Sie werden mich nicht mehr ängstigen. Nein: zuerst die Wahrheit zugeben und dann so gut wie möglich mit ihr fertig werden – das ist Männerart.«

Oliver war so in seine ethischen Betrachtungen versunken, daß er zusammenschrak, als er plötzlich hinter sich eine Stimme hörte.

»Bewundern Sie die Landschaft?« sagte Jim. »Sie ist bei Nacht nicht so düster wie bei Tage an diesem verfluchten Cap Cod. Mit Ihrem Vater ist alles in Ordnung. Wissen Sie, seine Schlafmittel wirken nicht immer richtig, und es kann vorkommen, daß er unruhig wird, ohne ganz wach und Herr seiner Bewegungen zu sein. Dann muß ich ihm beruhigend zureden wie einem Baby und muß versuchen, die Alpträume zu verscheuchen, die ihn quälen, denn er ist dann wie ein Hypnotisierter; er faßt auf, was man ihm sagt, und da er meine Stimme kennt, kann ich seine Gedanken auf etwas Angenehmeres lenken, auch dafür sorgen, daß er alles tut, was notwendig ist. Nur später erinnert er sich an nichts, was während seiner Trance vorgefallen ist. Aber heute liegt er ganz friedlich da. Hat genau die richtige Mischung erwischt. Das ist ja auch unbedingt das beste für ihn, nachdem er sich bei der Hitze so lange an Land aufgehalten hat. Boston wirkt sowieso immer höllisch schlecht auf seine Nerven. Er war eben kein so zäher Kerl wie ich und konnte den Schlag, den er in seiner Jugend bekam, nicht so gut aushalten. Es warf ihn richtig um, wie damals das mit dem Mord passierte und er alles aufgeben mußte. Kein Wunder, daß so ein anständiger, sensitiver Mensch wie er dabei für sein ganzes Leben Schaden genommen hat.«

Schon der Anfang dieser Enthüllungen hatte Olivers Denken einen schweren, lähmenden Stoß versetzt, und nur halb bewußt nahm er die Fortsetzung in sich auf.

»Sie meinen«, sagte er langsam, »Sie meinen, weil mein Großvater auf so schreckliche Weise ermordet wurde?«

»Das auch. Doch daß der alte Herr totgeschlagen wurde, war schließlich ebensowenig die Schuld Ihres Vaters, wie es Ihre Schuld ist. Das war schon eine alte Geschichte. Aber zu dunkler Nachtzeit mit eigener Hand einen Mann in der Kirche des Colleges umbringen, auch wenn's nur so etwas wie ein Unfall war – das kann einem schon lebenslänglich nachgehen, und man sieht später Gespenster.«

»Mein Vater hat jemanden getötet

»Ja, natürlich? Haben Sie das nicht gewußt? Damals, als er die Universität verlassen und mit einem Erzieher auf Reisen gehen mußte? Deswegen war er doch so viele Jahre im Orient und fühlte sich jedesmal unbehaglich, wenn er nach Hause kam.«

Das Gefühl der Lähmung in Olivers Hirn begann einer Art von Alptraum zu weichen. Er sah Ringe, die sich kreisend in größeren Ringen drehten; beständig wurden sie dunkler und tiefer, und wer konnte wissen, wo die Schwärze und Höllentiefe enden mochte? Dennoch war dieser Abgrund nur in seinem Kopfe. Deutlich und unverrückt konnte er durch den Wirbel seiner Gedanken hindurch die flachen Schattenlinien von Meer und Himmel, die Hafenlichter und die pünktlich aufblitzende Laterne des Leuchtturms sehen, die sämtlich bewiesen, daß sich in der Ordnung der Natur nichts geändert hatte. Zum Glück verbarg die Nacht die Blässe seines Gesichts; doch war er am ganzen Körper kalt und mußte all seinen Mut und seine Selbstbeherrschung ins Feld rufen, um nicht merklich zu zittern. Schrittweise brach sich seine Vernunft wieder Bahn, und er begann die neuen Tatsachen zu einem vagen Bild zusammenzufügen. Im Brennpunkt des Ganzen aber stand wie ein rotglühendes Ungeheuer, das man zuerst bei den Hörnern packen und abtun mußte, nicht der hochtrabende Ausdruck ›Mord‹, sondern jene andere üble Sache.

»Sagten Sie wirklich«, fragte er mit Anstrengung, »daß mein Vater Rauschmittel nimmt?«

»Allerdings! Haben Sie das auch nicht gewußt? Die müssen ja blind sein bei Ihnen daheim, wenn sie so was nicht merken. Alle Ärzte gebrauchen mehr oder weniger diese Mittel, es ist ja so leicht für sie. Ihr Vater nimmt, wenn er's gerade nötig hat, irgend ein Schlafmittel oder eine Einspritzung. Das ist weiter nichts Unrechtes; er ist ja Mediziner. Er experimentiert einfach mit sich selbst, dagegen kann man eigentlich nichts einwenden.«

»Aber Sie sagen, er fällt in eine Betäubung und ist ganz hilflos in Ihren Händen, als ob er sinnlos betrunken oder hypnotisiert wäre oder noch Schlimmeres. Und Sie lachen darüber!«

Der arme Oliver hatte zu Hause die Bibliotheken von zwei Ärzten, von denen einer Psychiater gewesen war, zur Verfügung. Es gab wenig, was er nicht dem Namen nach kannte; aber mit welchem Entsetzen entdeckte er jetzt, daß diese häßlichen medizinischen Abstraktionen in der wirklichen Welt umherschlichen! Eine große Irrenanstalt lag fast vor seiner Tür, aber er hatte sie nie betreten.

»Lachen? Warum denn nicht? Soll ich etwa weinen? In dieser Welt muß man die Menschen nehmen, wie sie sind. Ich gebe zu, manchmal ist die Sache ein bißchen unangenehm für mich, denn er verläßt sich ganz darauf, daß ich alles in Ordnung bringe und ihm jede Belästigung fernhalte, wenn er nicht gestört werden will. Ich tue mein Bestes; ich wäre ein Hund, wenn ich mich anders benähme. Bei Gott, wenn er mein eigener Vater wäre, könnte er mich nicht besser oder nobler behandeln, als er es vom ersten Augenblick an tat. Er hat eine gewisse Vorliebe für mich, glaube ich, und es paßt ihm, jemanden an Bord zu haben, der ihm Kamerad sein und statt seiner nach dem Rechten sehen kann. Für mich ist es der größte Glücksfall der Welt, einen Gentleman als Arbeitgeber zu haben, anständige Bezahlung, anständiges Essen, anständige Geschenke und – was mehr bedeutet – Vertrauen und freie Hand, alles so zu machen, wie ich's für richtig halte! Es ist, als ob die Jacht mein eigenes Schiff wäre. Ich heuere die Besatzung, den Steward und den Schiffsjungen an – nur den Koch nicht, denn Ihr Vater würde um alles in der Welt nicht seinen indischen Curry aufgeben – ich bestimme den Kurs, den wir nehmen, und regle alles bis auf die kleinste Kleinigkeit. Natürlich kenne ich allmählich seinen Geschmack. Und ich erspare ihm manchen Pfennig, denn er hat keinen Begriff von Geld, kümmert sich nicht darum, wo's hingeht, und läßt sich von jedermann betrügen. Man könnte meinen, ich hätte was zu verbergen, aber ich verberge gar nichts. Nach unserer allerersten Fahrt von Vancouver aus, als er gesehen hatte, wie ich im Sturm mit dem kleinen Schoner umging und mir daraufhin die Stellung anbot, machte ich in jeder Hinsicht reinen Tisch und zeigte ihm die Nummern der Times, mit dem wortgetreuen Bericht über die Verhandlung beim Kriegsgericht, den ich immer bei mir getragen hatte. Er warf einen Blick auf die Zeitungen und schob sie mit einer Handbewegung zur Seite. Wahrscheinlich hatte er seinerzeit das Ganze gelesen und erinnerte sich noch daran. ›Ich frage den Teufel, was Sie getan haben‹, sagte er. ›Für mich kommt's nur darauf an, was Sie künftig tun werden; in Ihrem Alter folgt noch nicht mit Notwendigkeit eins aus dem andern, wie bei uns alten Kerlen. Ich will abwarten, bis Sie mir einen schlechten Streich spielen, und dann erst anfangen, Ihnen was vorzuwerfen.‹ Das sagte er. War das nicht nobel einem jungen Menschen gegenüber, der gegen einen schlechten Ruf ankämpfen mußte? Und es ist wunderbar, wie fein wir uns in diesen vier Jahren vertragen haben.«

Oliver hatte nicht zugehört, obwohl sein Gehör die Worte aufnahm und er sich später an sie erinnerte. Im Augenblick stand er ganz unter dem Eindruck des Schreckens, suchte blind nach einer Zuflucht, wo es doch kein Entrinnen gab.

Jim ahnte aus seinem Schweigen, was vor sich ging.

»Ich fürchte«, sagte er, »daß ich Sie erschreckt habe. Das tut mir leid.«

Olivers Stolz wies den Verdacht zurück, daß seine Nerven versagt haben könnten. Er konnte wohl hinterrücks überfallen werden und auf unerwartete Tatsachen stoßen, aber niemals sollte ihm der Mut fehlen, den Dingen ins Gesicht zu sehen. Hatten nicht seit Generationen seine Vorfahren ihre Lenden gegürtet, um mit dem Herrn zu ringen, hatten sie nicht alle Freuden verachtet und einzig der Gerechtigkeit angehangen, wohl wissend, daß diese Gerechtigkeit in ihnen und durch sie siegen werde? Hier war die Gelegenheit, zu zeigen, daß er Geist von ihrem Geiste war.

Er sagte ziemlich gepreßt: »Ich bin froh, daß ich von dieser Sache erfahren habe. Es ist besser, die Wahrheit zu wissen. Trotzdem hätten Sie es mir ja nicht gerade zu erzählen brauchen. Das war ein Vertrauensbruch von Ihnen.«

»Sieh mal an«, dachte Jim und hätte beinahe durch die Zähne gepfiffen. »Hat man je so einen Moralprediger gesehen? Wir sind also sehr etepetete, wie? Macht nichts; na, es wird besser sein, den kleinen Pharisäer bei guter Laune zu erhalten, als Streit mit ihm anzufangen. Nur sehr wenig in dieser Welt ist es wert, daß man sich seinetwegen mit andern Leuten überwirft, und ganz gewiß gehören dazu nicht die moralischen Anwandlungen eines sechzehnjährigen Jungen. Mag er seine jugendfrischen Grundsätze wie Maiblümchen im Knopfloch tragen, bis sie von selbst rausfallen.«

Jim Darnley war einer jener gutmütigen, fatalistischen Menschen, die kein starkes Empfinden für Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit haben. Er konnte zusammenzucken wie ein geschlagener Hund und doch zurückkommen und sich streicheln lassen. Er ließ es sich gefallen, daß man ihn schalt, wenn man ihn nur weiter gern hatte. Die Mächte dieser Welt waren für ihn wie eine heftige Mutter, die ihr Kind zwar manchmal zum Weinen bringt, es aber nicht zwingt, ihren Rockzipfel aufzugeben oder den Glauben an die Küsse und Bonbons, die auch einmal wieder an die Reihe kommen werden.

Oliver hingegen war einfach wütend – wütend darüber, daß er so schwer getroffen war, wütend auf Lord Jim, weil der den Schlag geführt hatte, und wütend auf sich selbst, weil er in einem solchen Narrenparadies gelebt und alle diese Dinge nicht schon früher gewußt hatte. Doch Zorn war an und für sich ein dummes Gefühl, und er mochte nicht zugeben, daß es ihn überwältigen konnte; gerechte Empörung über ein grundsätzliches Unrecht war etwas anderes. Nun lag in diesem Fall das Unrecht zweifellos bei seinem Vater, und über ihn konnte er zwar Scham und Ärger empfinden, aber keinen Zorn. Nirgends also ein Grund für gerechte Empörung, nur für Sorge und Nachsicht! Kein Grund, Jim zu tadeln oder sich selbst zu tadeln! Doch wie unerträglich verkehrt war das Ganze, diese ganze verderbte Welt, aus der es kein Entrinnen gab, und in der solche Dinge geschahen!

»Möchten Sie gern mal runtergehen und selbst schauen, wie es Ihrem Vater geht? Ich glaube nicht, daß er gerade heute abend erwartet hat, daß Sie kommen und ihm gute Nacht sagen, und doch ließe es sich ganz natürlich machen. Er wird wohl nicht aufwachen, und Sie werden sehen, daß kein Grund zur Sorge besteht.«

Ja, das wollte Oliver sehr gern tun. Alles, was einer Tat ähnlich sah, schien die Lage zu erleichtern; er konnte sich dann einbilden, er unternähme etwas, um die Sache in Ordnung zu bringen. Und Lord Jim benahm sich immerhin sehr rücksichtsvoll, sehr herzlich, er war wirklich eine Stütze, an der man sich aufrichten konnte; wie freundlich half er ihm jetzt diese ungewohnte Kabinentreppe im Dunkeln herunter, ohne auch nur einen Schatten von Groll darüber, daß er ungerecht beschuldigt worden war – ja, ungerecht, sagte Oliver mit seltsamer Befriedigung zu sich selbst. Und dabei mußte er wider Willen über die Vorstellung lächeln, daß ihn sein Vater vielleicht gerade heute nicht an seinem Bett zum Gutenachtsagen erwartet hätte; als ob sie zu Hause je zu einander ans Bett kämen! Das war für ihre Begriffe einzig die Sache berufsmäßiger Krankenschwestern, wenn es nötig wurde. Zu Hause dachte man ebensowenig daran, das Zimmer eines andern Familienmitgliedes zu betreten, wie dessen Briefe zu öffnen. Lord Jim war wahrscheinlich in einem Haushalt aufgewachsen, wo es so recht drunter und drüber ging, wo keiner etwas ausschließlich für sich allein besaß, sondern die Socken und Krawatten des andern mitbenutzte, wo man zu viert im Zimmer und zu zweit im Bett schlief (scheußlich geradezu!) oder sogar in einem großen gemeinsamen Schlafraum wie in einem Kinderheim oder in einem zweitklassigen Krankenhaus oder wie Kadetten auf einem Schulschiff; und hier konnte sich Oliver wiederum eines Lächelns nicht erwehren. Dieses verborgene Lächeln, das mitten zwischen seinen unglücklichen Gedanken hervorbrach, hatte die Wolken, die sein Inneres verhängten, schon halb zerteilt, als sie an die Kabine seines Vaters kamen.

Das Licht war gedämpft, aber ausreichend für Augen, die aus dem Dunkeln kamen, und sein Schein wurde durch vielfache Reflexe auf lackierten Wänden und Porzellanfiguren überall hingetragen. Da lag Olivers Vater mit hochgebettetem Kopf, sehr mager und ganz bronzefarben von dem langgewohnten Aufenthalt in Sonne und Meerluft; sein kahler Kopf und seine dünnen Hände wirkten dunkel und schwärzlich gegen das weiße Kissen und das weiße Nachtgewand, auf dem seine langen Finger symmetrisch ausgebreitet ruhten. Er schien seine Augen nicht im Schlaf, sondern in der Absicht geschlossen zu haben, daß ein tieferes Leben ungestört hinter ihnen fortströmen könne, und auf seinen Lippen schwebte ein schwaches, vieldeutiges Lächeln, nicht unähnlich dem der beiden Buddhas, welche die Achterkajüte schmückten. Oliver hatte Unruhe erwartet und fand ein Bild des Friedens. Er hatte sich stark gemacht, um die Verwüstungen des Lasters zu ertragen oder ihnen, wenn möglich, abzuhelfen und fühlte sich nun fast zurechtgewiesen von dem Geiste einer sonderbaren Heiligkeit, so, als könne das Leben letztlich doch dem unaufhörlichen Sterben entrinnen und in erhabene Sammlung übergehen.

Zweifellos war Peter Aldens Schlafzustand nur eine armselige Parodie des Nirwana, bewirkt von schwarzen Künsten und verurteilt zur Vergänglichkeit; ein kundiger Beobachter, der dies Schauspiel bei Tageslicht betrachtet hätte, würde es schrullenhaft und billig gefunden haben. Was war Peter denn anders als einer der vielen schlauen, reichen, überzähligen, entgleisten Amerikaner seiner Generation, der ein Mann von Welt geworden war und nun in dieser Welt auf dem Trockenen saß? Sowohl er als sein buddhistisches Heiligtum mit all dem alten Gerümpel darin wären einem Kenner bloß exzentrisch und wunderlich erschienen – eine spielerische Zuflucht der Schwäche, ein Lusthäuschen zum Verbrennen von Weihrauchstäbchen, die verfeinerte Nachahmung einer Opiumhöhle; und ein Weihrauchstäbchen hatte tatsächlich an diesem Tage in einer der chinesischen Schalen gebrannt, nur hatte die ausgezeichnete kunstvolle Ventilation der neuen Jacht den Rauch und größtenteils auch den Geruch schon weggeblasen.

Der junge Oliver nun war kein Kenner, besaß nicht einmal die Veranlagung, je einer zu werden; er bemerkte nur die Dinge, die sein eigenes sittliches Leben betrafen. Wer aber bewundernswerte Kunstwerke nur von Photographien und Übersetzungen her kennt und daher von der unnachahmlichen eingeborenen Kraft der Originale keinen Begriff hat, der kann wohl beim Anblick solcher Nachahmungen einen frischen Quell von Verständnis und Begeisterung in sich emporströmen fühlen. So ging auch unserm werdenden Transzendentalphilosophen die Möglichkeit einer neuen Dimension seelischen Lebens auf, während er seinen schlummernden Vater betrachtete. Rauschgift, sagte Oliver sich, war das Allerschlimmste, was es gab. Rauschgift war die eigentliche Verneinung jeglichen Mutes, jeglicher Entschlußkraft, war Verrat an der Verantwortlichkeit. Rauschgift war ein feiges Mittel zur Flucht; es brachte einen dazu, wie der Vogel Strauß den Kopf zu verstecken und absichtlich nicht zu wissen, nicht zu handeln, nicht zu denken. Und doch trat in enger Verbindung mit dem elenden Rauschgift hier eine fremdartige Gelassenheit in Erscheinung, eine kühle Herausforderung der ganzen Welt, ein lächelnder und schöner Tod innerhalb des Lebens, ein Leben in einem bereitwillig empfangenen Tode. Ein uralter, unsterblicher Glaube tat sich kund, den die moderne Welt törichterweise verneinte: die rätselhafte, unbesiegbare Vorliebe des Geistes für die Unendlichkeit. Konnte es möglich sein, daß das Leben, so wie die Welt es verstand, das eigentliche Rauschgift war, eine häßliche, tierische, lasterhafte Trunkenheit? War der Gehorsam gegen Konvention, Sitte und öffentliche Meinung vielleicht nur eine epidemische Sklaverei, ein grausamer Aberglaube, während es Erleuchtung und Heil bedeutete, mit geschlossenen Augen in einer schwimmenden Einsiedelei wie in Noahs Arche inmitten der Sintflut zu ruhen?

»Hallo«, mischte sich Jim auf einmal prosaisch ein, »da hat er ja seine Kleider alle durcheinander geworfen und vergessen, seine Taschen auszuleeren oder dem Jungen zu läuten. Muß sich verteufelt schwach gefühlt haben.« Und er begann mit der ganzen Sicherheit und Machtbefugnis eines alten Kammerdieners des Doktors Kleidungsstücke zu durchsuchen und Uhr, Brieftasche und Kleingeld, Schlüssel und Papiere an ihren bestimmten Platz auf dem Toilettentisch oder dem Schreibpult zu legen. Dann faltete er die Kleider schnell und geschickt zusammen und ordnete sie auf dem Diwan, der Peter Aldens Lager gegenüberstand.

»Doktor«, sagte er dem alten Herrn leise ins Ohr, indem er seine Hand auf dessen Schulter legte, »Oliver und ich, wir sind gekommen, um nachzusehen, ob Sie noch was brauchen, bevor wir schlafen gehen. Gute Nacht.«

Es erfolgte keine Antwort, aber eine schwache Bewegung, eine leichte Veränderung der Lage bewies, daß die Worte in irgend einer Tiefe des Bewußtseins oder Unbewußtseins nicht unbemerkt geblieben waren. Jim geleitete Oliver zur Türe hinaus, flüsterte ihm ein Wort zu und blieb selbst drinnen. Es gab noch einen der niedrigeren Pflegerdienste zu erfüllen, bei denen Zeuge zu sein für einen Dritten peinlich ist.

Guter Gott, dachte Oliver, da wurde hier sein Vater bedient, gehegt und gepflegt, seine Schwäche wurde berücksichtigt, seinem Geschmack nachgegeben, seine Meinung geehrt, sein Alter behütet und dafür Sorge getragen, daß es auf angenehme Weise fern von der Welt dahinfloß! Dieser Fremde, der sich nicht schämte, als Diener zu fungieren, hatte die Gefühle und Vorrechte eines Sohnes, nicht eines Sohnes, wie Söhne in Wirklichkeit waren, sondern wie sie sein sollten, während er selbst – hier aber tauchte Jim wieder bei Oliver auf, drehte für ihn das Licht in der Kabine an und sagte ihm, er solle sich am andern Morgen seinen Tee ans Bett kommen lassen, sobald er ihn haben wolle – als ob Oliver je auch nur daran gedacht hätte, seinen Tee im Bett zu nehmen! Jim frühstückte in der Offizierskabine mit dem Maat und dem Ingenieur. Man mußte doch ein Auge auf die Besatzung haben und freundlich mit seinen Kameraden sein.

Als er sich zum Gehen wandte, hielt Oliver ihn an.

»Ich hätte nicht sagen sollen, daß es ein Vertrauensbruch sei, mir die Sache mit Vater zu erzählen. Sie glaubten wohl, ich wüßte es. Auf alle Fälle war es nur recht von Ihnen, mit mir davon zu sprechen. Und ich bedaure auch, daß ich gesagt habe, er sei Ihnen hilflos ausgeliefert. Es ist nicht Ihre Schuld; und ich glaube, niemand könnte besorgter um ihn sein.«

Wenn in der Schule von Great Falls zwei Jungen sich nach einem Streit versöhnten, bestand die allgemein anerkannte Zeremonie darin, daß man einander mehrere Sekunden lang heftig die Hand schüttelte; damit sollte jede Gehässigkeit abgetan sein. Oliver meinte eine sehr anständige Entschuldigung vorgebracht zu haben, war daher ganz stolz auf sich selbst und streckte seine Hand in der vorgeschriebenen Weise aus. Jim aber, unkundig der Sitten des Landes, unterließ es, sie zu schütteln, nahm sie statt dessen freundschaftlich in seine beiden Hände, hielt sie einen Augenblick fest und sagte: »Schon gut; das hatte ich schon ganz vergessen.« Darauf begann er Oliver auf die Schulter zu klopfen, ganz als ob der brave kleine Junge getröstet werden müßte, und nicht er, der schneidige Seemann. Und obwohl Olivers Erwartung und Stolz enttäuscht waren, fühlte er sich tatsächlich getröstet. Es sah so aus, als ob aller Stolz hier unzulänglich und unnötig wäre; hier kam etwas viel Ursprünglicheres, viel Aufrichtigeres zum Vorschein. Zum ersten Mal erwies ihm wieder einmal jemand eine Liebkosung, seit Fräulein vor zwölf Jahren aufgehört hatte, seine nackten Beine zu streicheln. Zum ersten Mal erlebte er es, wie jemand alle mühseligen Skrupel und jeden unechten Schein angesichts der Tatsachen des Lebens fallen ließ und sich einfach auf den Boden der menschlichen Natur stellte. Die Welt kam Oliver weiter, bewohnbarer und freundlicher vor, und das im gleichen Augenblick, wo in seiner Familie die Schattenseite des Lebens quälend ihre Tiefen enthüllte. Ach, Olivers innerster Erfahrung nach waren diese Tiefen schon immer schmerzvoll gewesen! Es erleichterte einen, das zuzugeben und festzustellen, daß es wahrscheinlich bei jedermann das gleiche war. Warum sollte man so tun, als ob die eigenen Verwandten besonders vollkommen wären? Warum sollten sie auch vollkommener als andere Leute sein? Warum sollte man so tun, als wäre man selber vollkommen? Seine Mutter wollte nie mit ihm in die St. Barnabas-Kirche gehen, trotz der schönen Musik dort, denn sie sagte, es sei erniedrigend, sich selbst als elenden Sünder zu bezeichnen. Dieser Ausdruck mochte altmodisch sein, aber blieb nicht die Sache an sich wahr? Würde ein solches Bekenntnis die Atmosphäre nicht reinigen?

Alle Luken waren weit geöffnet. Oliver drehte das elektrische Licht aus, das zu laut für seine Stimmung war. Vielleicht verstand er jetzt eher den Sinn der beiden Buddhas in ihren vergoldeten Schreinen, aber trotzdem haßte er ihren Anblick, ihre hängenden dicken Bäuche und blinzelnden Augen. Besser war die sanfte, dunkle Nacht, besser waren die leichten Wellen, die geduldig mit hell tröpfelndem Klang das überhängende Heck umspülten. Die weite Ausdehnung und unermüdliche Eintönigkeit der Natur war gleichermaßen beruhigend und befreiend; auch sie brachte Erleuchtung und übte auf gesundere Weise als alle Menschenreligion eine Gewalt aus, in deren Schutz man sich hinlegen und schlafen konnte; sie setzte keinen neuen Traum an die Stelle eines früheren. Sie war kein Rauschgift.


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