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Zweiter Teil.
Der Knabe


1

Das Kind war pünktlich auf der Welt erschienen. Es hatte den Eintritt in das Leben, diese erste, schwere und heikle Pflicht des Menschen, nicht nur ohne Zaudern, sondern sogar mit Auszeichnung vollzogen, denn dies in jeder Hinsicht höchst befriedigende Geschöpf war ein Knabe.

Lange vor der Geburt hatte sein kleiner Organismus die weiche, schläfrige Lockung zum Weiblichen zurückgewiesen. Es wäre für das letzte Paar von Chromosomen so einfach gewesen, sich ebenso wie die übrigen zu verdoppeln und jede Zelle des werdenden Körpers vollendet, wohlausgeglichen, friedlich und weiblich zu bilden. Statt dessen entschied sich ein tapferes Partikelchen dafür, allein zu bleiben: ungepaart, unbefriedigt, ruhelos und mannhaft; und es gelang ihm, jedem körperlichen und seelischen Atom des werdenden Mann-Kindes diese labile, abenteuernde Haltung aufzuzwingen. Männlich sein heißt: das schwierigere Wagestück gewählt haben, bei dem man vielleicht schmerzloser davonkommt, aber sich weiter aus der heimatlichen Geborgenheit entfernt und weniger tief in einem Urgrund und einem Sittengesetz wurzelt. Es heißt: Verpflichtung zu stetem Mut, zu steter Unbekümmertheit um die Zukunft. Und wenn alle Gefahren ohne Katastrophe überwunden werden sollen, so muß der Mann größere Spannkraft, aber weniger Feinnervigkeit und Leidensfähigkeit als die Frau besitzen. Doch kommt es zuweilen nicht zu diesem Ausgleich. Geheime Einflüsse können die männliche Struktur kreuzen und durchsetzen und gleichsam ein Heimweh nach Fraulichkeit auslösen, Sehnsucht nach jener sanften, mütterlichen, trostreichen Lebensfülle, wie sie dem guten Weibe eigen ist.

An und für sich wäre nichts Tadelnswertes daran gewesen, wenn sich der ungeborene Oliver entschlossen hätte, ein Mädchen zu werden. Dies Ergebnis wäre ebenso selbstverständlich, normal und nützlich gewesen wie das andere – und doch irgendwie enttäuschend. Denn dann wäre der Welt unser Oliver Alden vorenthalten geblieben, dieser in seiner Milde wie in seiner Strenge gleich ausgezeichnete Charakter, der immer die dunklere und härtere Pflicht wählte. Auch würde das junge Geschöpf sein Leben damit begonnen haben – und wie unrecht wäre das gewesen! – die Hoffnungen seiner Mutter zunichte zu machen. Denn obgleich Mrs. Alden stets behauptete, die Frauen seien den Männern geistig ebenbürtig und sittlich sogar überlegen, würde sie doch gefühlsmäßig ein kleines Mädchen nur als Kind zweiten Ranges angesehen haben. Und wie schlecht hätte daher eine Tochter zu ihrem festen Entschluß gepaßt, daß alles in ihrem neuen Leben – ausgenommen etwa der Gatte – unbedingt erstklassig sein sollte! Nein, die Vorsehung belohnte sie für ihr hohes Streben.

Das Kind war ein prächtiger Junge von gutem Gewicht und ebenmäßiger Körperbildung, mit heller Haut, großen grauen Augen und einem Flaum blonder Haare. Als er zum ersten Mal Bekanntschaft mit dem freien Raum machte, stieß er mit Armen und Beinen um sich, kräftig, prüfend und schweigsam. Er schien zu allem bereit, bange vor gar nichts und willig, das Leben an sich herankommen zu lassen. Vom ersten Atemzug an war die Seele dieses Kindes philosophisch gestimmt, wenn das auch mit Worten weder jetzt noch später zum Ausdruck kam; denn der Wortschatz, den ihm seine Erziehung mitgab, blieb dafür unzureichend. Doch in seinen Handlungen, seinen Entschlüssen und in der verborgenen Kraft seiner Seele war sein Glaube von Anbeginn in ihm wirksam. Er nahm wahr, daß es Gutes und Böses gab, und daß es Pflicht war, durch beides mitten hindurchzugehen, um irgendwie jenseits aller Wirren zu landen. (So wenigstens wage ich sein Lebensgefühl in Worte zu fassen – in Worte freilich, die ihn später nicht befriedigt hätten; aber im Anfangsstadium seines Daseins darf ich noch annehmen, ihn besser zu verstehen, als er sich selbst verstehen konnte.)

Die Weisheit dieser dämmerhaften Lebenserkenntnisse wurde ihm unverzüglich bestätigt durch das Walten der Ärzte, Pflegerinnen, Eltern und Hausfreunde. Sie alle waren ihm behilflich, des Guten teilhaftig zu werden, dem Bösen zu entrinnen und jenseits von beidem sich seinem Schlummer voll wogender Möglichkeiten ungestört zu überlassen. Die sanfte Letitia Lamb war eine der ersten, die ihn in die Arme schlossen; sie bewunderte seine Vollständigkeit und seufzte dabei ein wenig über das zarte, tragische Geheimnis des Lebens. Eine erfahrene Pflegerin vom Typ einer Ärztin nahm ihn sogleich in ihre Obhut. Sie funktionierte so pünktlich wie eine alte zuverlässige Uhr mit eisernen Zeigern, die man in eine weiße Schürze und ein weißes Häubchen gesteckt hat. Das Bad, die Flasche, der Wäschewechsel, die Art, wie sie ihn energisch in seinem Bettchen verstaute oder im Kinderwagen anschnallte – alles schien seit vorchristlichen Zeiten festzustehen! Jede Willkür war hier durch Erfahrung, Pflicht und Wissenschaft ausgeschaltet. So reagierte denn auch des Musterkindes Lebenskraft – wenigstens die körperliche – vorbildlich auf alles, was man ihm programmäßig bot. Das Kind fand selten einen Grund zum Weinen – nie einen zum Lachen!

Ungeachtet dieser eifrigen und vortrefflichen Obrigkeit nahm der Kleine seine erste Erziehung ausschließlich selbst in die Hand. Er erforschte, wo Gut und Böse sich aufhielten, und wie sie einander ablösten. Als sehr nützlich zu diesem hohen Zweck erwies es sich, mit Armen und Beinen zu zappeln und mit großen Augen dem Licht zu folgen. Es stellte sich dabei heraus, daß Gut und Böse in einem bestimmten Umkreis auftraten, nämlich in dem, was die Pflegerin seine Haut nannte, oder tiefer drinnen, in seinem »Bäuchlein«. Doch gab es auch einiges Gute und Böse, das nach außen entschlüpfte oder von außen herankam, zum Beispiel die Flasche, wenn er sie nicht mehr oder noch nicht im Munde hatte. All dies eindrucksvolle Gute und Böse, das die Pflegerin »Sachen« nannte, erstreckte sich sehr weit hinaus und hatte ein gewaltig kompliziertes Eigenleben, das Oliver selbst später als »die Welt« bezeichnete. Doch damit nicht genug: es gab noch eine Menge von anderem Guten und Bösen, und dies konnte man nicht mit den Augen sehen, man konnte ihm auch nicht nachrennen und es mit der Hand festhalten, wenn es Neigung zeigte, zu entweichen. Das war er selbst, sein Geist oder seine Seele. Hier ließ sich das eigene Gute und Böse auf die unterhaltendste und angenehmste Art aufbewahren. Niemand anders konnte es da erwischen, und vorausgesetzt, daß das Böse sich nicht zu aufdringlich breit machte (wie zum Beispiel, wenn man von einer erwünschten Beschäftigung weggeschleppt wurde zu einer unerwünschten), war es höchst erfreulich, diese eigene Privatwelt zu besitzen und mit sich selbst über sie Zwiesprache zu halten.

Mit jedem Tage gewann der Unterschied zwischen seiner Person und dem, was ihm begegnete, an Schärfe. Lebendig, wirklich und berechtigt war nur sein eigener Wille, die innere Triebfeder seines Wesens, Zentrum und Maßstab für alles Seltsame, was außen vor sich ging. Manchmal konnte die Welt unterwürfig scheinen, willig sich beherrschen zu lassen – doch sofort wurde sie wieder verdrießlich, tat, was sie nicht tun sollte, und bezeigte sich grausam, fremdartig und unentrinnbar aufdringlich. Ja, ihre unerklärliche Verkehrtheit drang manchmal bis zu des Kindes eigenster Sphäre vor und nahm sein Ich in Besitz: wenn nämlich seinen Händen oder Füßen nichts richtig gelingen wollte, oder wenn es ihn im Hals würgte, oder wenn er niesen mußte. Jeder derartige Zusammenstoß mit sich selbst war höchst schmachvoll und entmutigend. Und manchmal geschah sogar noch Schlimmeres. Das Verhängnis oder der feindliche Zufall konnte auch in sein geheimes, unsichtbares Selbst eindringen. Hier wenigstens hätte Oliver doch Herr im Hause sein sollen – aber nein, selbst hier ging dann alles verkehrt oder verlor seinen Reiz.

Das waren seine ganz persönlichen, geheimen Nöte; aber sie kamen nicht oft und waren nicht schwer. Sie ließen sich verabschieden, wenn man wirklich wach war und irgend etwas Wichtiges unternahm, zum Beispiel seinen Eimer mit Sand füllte. Der kleine Oliver blieb von fast allen kindlichen Leiden verschont: er war niemals wirklich hungrig oder zornig, hatte niemals ernstliche Krankheiten oder ernstliche Schmerzen. Aber wenn er sich nur überhaupt weh tat, war er schon tief beleidigt; denn sein Gefühl war dann ebenfalls verletzt. Es hätte ihm einfach nichts geschehen dürfen; warum war ihm dann etwas geschehen?

Selbst als er alt genug wurde, um zu verstehen, daß in solchen Fällen manchmal er selbst Schuld war, manchmal die andern, manchmal aber niemand, sondern einfach der Zufall – selbst dann söhnte er sich mit keiner dieser Quellen des Bösen aus, sondern speicherte seinen Groll und seine Niedergeschlagenheit in sich auf. Sogar wenn alles gut ging, konnte er nicht wirklich froh sein. Es war so oft schief gegangen, es würde wohl auch bald wieder schief gehen! Warum sollte man also eine fröhliche Miene zur Schau stellen? – Alles begütigende Zureden, alle Aufforderungen, einzusehen, wie schön die Welt sei, und wie lustig es wäre, dies oder das zu unternehmen, konnten dann das tiefe Mißvergnügen seines kleinen Herzens nicht vermindern oder begütigen, obwohl er ruhig zuhörte, aufmerksam aufschaute und spielte, was man ihm vorschlug. Es war ein stolzes Mißvergnügen, das jegliches Unrecht mit Entschiedenheit verdammte und zurückwies: doch obwohl fast alles, was es gab, gelegentlich unrecht sein konnte, war sein inneres Orakel, das die Verdammungsurteile fällte, stets ganz sicher, im Recht zu sein, und ließ sich nicht im mindesten erschüttern. An diesem Korallenriff, das nur knapp über den Meeresspiegel hinausragte, aber unsichtbar auf Felsgrund ruhte, mußten sich die stärksten Wellen brechen. Und die Kraft dieses jungen Mikrokosmos vermochte nicht nur die Wogen in eine Schaumgirlande zu verwandeln, die seine eigenen Konturen nachzeichnete, sondern er umgab sich auch noch innerhalb dieses Walles mit einem Gürtel von stillen, schützenden Lagunen. Nun mochte die Brandung der hartnäckigen Außenwelt den ganzen Tag anstürmen – sie tat keinen Schaden, sondern tönte aus der Entfernung nur gedämpft wie eine prophetische Stimme durch undurchdringliche Nacht.

Miß Tirkettle – so hieß die Pflegerin – eignete sich wunderbar zur Betreuung des Kleinen, bevor er laufen oder sprechen konnte – und er lernte das Laufen lange vor dem Sprechen, denn für ihn war Handeln der einfachere, schnellere Weg, um über sich hinauszugelangen und neuen Boden zu gewinnen. Doch auch das war nicht so leicht; denn die Wahl einer Beschäftigung hatte ihre Schwierigkeiten. Andere Kinder zum Spielen waren nicht da. Die nächsten Nachbarn gehörten nicht zu Mrs. Aldens Verkehr; sie vermutete deshalb, daß deren Kinder in Sprache und Manieren nicht wohlerzogen genug, sondern wild und schmutzig wären.

Zwar gab es Fuzzy-Wuzzy, den Hund des Gärtners. Letitia Lamb hatte ihm diesen hübschen Namen verliehen – und doch rannte Fuzzy-Wuzzy immer von ihr weg und der anregenderen Gesellschaft anderer Hunde nach; denn – so erklärte Mrs. Alden – Letitia Lamb war arm und konnte dem Hund wohl einen hübschen Namen, aber keine Biskuits geben. Aber warum gab dann die Pflegerin – die offenbar nicht arm war, da sie stets Biskuits in ihrem Schrank hatte – Fuzzy-Wuzzy nicht ein paar davon, damit er dablieb? Weil es, erwiderte Mrs. Alden (indem sie, wie so oft, die Basis ihrer Argumente wechselte), überhaupt nicht gut für Hunde war, etwas zwischen den Mahlzeiten zu bekommen. Fuzzy-Wuzzy erhielt jedoch, soweit Oliver feststellen konnte, überhaupt keine regelmäßigen Mahlzeiten, sondern fraß nur Knochen, Ratten und Abfälle, die er im Hinterhof erbeutete. Und wenn man niemals feste Mahlzeiten bekam, wie konnte es dann schädlich sein, zwischendurch etwas zu kriegen?

Aber in bezug auf die Biskuits blieben Mrs. Alden und die Pflegerin hart wie Stein. Sie konnten das schreckliche Wort nicht aussprechen, aber sie sahen einander bedeutsam an. Der Hund hatte Flöhe! Er mußte strengstens aufgefordert werden sich wegzuscheren; mochte er sich dann in anderer Umgebung kratzen: in der schlechten Gesellschaft ähnlicher elender Köter oder der großen, lärmenden Gärtnerskinder, die zu einfältig waren, um zu begreifen, daß Fuzzy-Wuzzy der passende Name für ihn war, und ihn immer Yep nannten.

In Ermangelung eines Hundes hüpfte oder flatterte hier und da ein Spatz oder ein Schmetterling über den wunderbar geebneten, gepflegten und kurzgeschorenen Rasen, auf dem man Oliver manchmal aus seinem Kinderwagen nahm und frei umherkrabbeln oder auch sitzen ließ, nachdem eine Decke als Schutz gegen die Feuchtigkeit ausgebreitet worden war. Spatz und Schmetterling verlockten ihn, wacklige Schrittchen zu machen und sich vornüber taumelnd in überstürzte kleine Laufversuche einzulassen, aber immer entwischten ihm die unartigen Dinger und ließen ihn plötzlich platt auf der Erde sitzend in einer schmählichen Lage zurück.

Miß Tirkettle war wissenschaftlich ausgebildet, sie wußte keine Lieder, Geschichten oder Gebete, und wenn Mrs. Alden je welche gewußt hatte, fand sie es abgeschmackt und unzeitgemäß, sie wieder hervorzuholen. Sie hatten sich in geisterhaft flüchtige Erinnerungen an die Zeit ihrer Mutter verloren und waren durch die männliche, medizinische Atmosphäre im Hause ihres Vaters und in ihrem eigenen restlos verscheucht worden. Sie war zu dem Ergebnis gekommen, es sei sinnlos und gefährlich, einen zarten Geist mit irreführenden, leeren Erregungen aufzureizen. Dichtung, Mythologie, Religion und entlegene Historie hatten ja mit dem Leben nichts zu tun. Später, wenn Oliver älter war, mochte er ihrethalben bei Gelegenheit auf Lieder oder Geschichten, Gebete in Büchern oder theatralische Kirchenzeremonien stoßen; dann konnte er sich sein eigenes Urteil bilden, falls ihn diese Sachen überhaupt interessierten. Seine Erziehung durfte aber nicht damit beginnen, daß man ihn mit Unsinn vollstopfte. Sie sollte die unmittelbare Vorbereitung auf ein vorschriftsmäßig richtiges Leben in der modernen Welt sein.

Alles das setzte Mrs. Alden ihrem Gatten sehr entschieden auseinander. »Ich bin keineswegs deiner Meinung«, fügte sie hinzu, »daß Miß Tirkettle zu alt ist und man das Bübchen jetzt einem dummen jungen Ding von Kindermädchen überlassen sollte, das ihm Gespenstergeschichten erzählen würde. Nächstens willst du womöglich noch jemanden haben, der den Kleinen Gebete lehrt! Warum soll man das arme Kind abrichten, wie ein Papagei sinnlose Worte herzusagen, und es mit unechten religiösen Erregungen erfüllen? Vielleicht, damit es eines Tages besser verstehen kann, warum man im Mittelalter Leute auf dem Scheiterhaufen verbrannte? – Die Wissenschaft hat nachgewiesen, wie wesentlich diese ersten Lebensjahre sind, und wie solche ungesunden frühen Eindrücke dem Geist eine falsche Richtung geben und den Charakter schwächen. Das Kind wird genug anzukämpfen haben gegen die erbliche Belastung seines Nervensystems. Wenigstens wollen wir es da nicht auch noch zum Aberglauben erziehen!«

»Nein, nein«, erwiderte Peter geduldig, denn er war daran gewöhnt, daß seine Frau ihm Worte in den Mund legte, die er nie gesprochen hatte, und Gefühle unterschob, die ihm ganz fern lagen. »Gebete und Geistergeschichten hatte ich dabei nicht im Sinn; nicht einmal Märchen. Und gerade ich für meine Person bin durchaus nicht für ein gewöhnliches Kindermädchen – ganz im Gegenteil! Ich möchte nur, daß er reines, gutes Englisch lernt, damit ihm die greuliche Sprechweise, die er hier noch hören wird, bloß absurd und komisch vorkommt. Sie wird ihn dann nicht beeinflussen, und er wird sie nicht nachahmen. Ist es dir je aufgefallen, wie wenig uns die Sprache der Dienstboten beeinflußt, obwohl wir sie unser Leben lang täglich hören? Das kommt davon, daß wir sie als einen besonderen Dialekt empfinden, der mit unserer eigenen Sprache nichts zu tun hat. Ich finde zwar, daß es wichtiger ist, die Gefühle eines Gentlemans zu haben als seine Redeweise; aber beides ist doch eng miteinander verknüpft! Nein, ich möchte, daß eine Dame Oliver betreut, ich will eine gute Erzieherin für ihn, die mit ihm spielt, und von der er gute Manieren und taktvolle Haltung lernen kann, nicht nur durch Vorschriften, sondern durch die Wirkung ihrer ganzen Persönlichkeit, sodaß er auf Unarten in dieser Richtung gar nicht erst verfällt. Ich denke an ein frisches, lebhaftes Geschöpf, das seine Fähigkeiten weckt, ihn in Trab bringt und ihm hilft, seine Baukastenschlösser so hoch zu bauen, daß er lacht, wenn sie umfallen. Und warum sollten Moses im Binsenkorb oder die Arche Noah oder Jonas oder David und Goliath für das kindliche Gefühl auch nur um einen Deut religiöser sein als Gulliver oder Sindbad der Seefahrer? Sie sind es bestimmt nicht, sie werden seine Phantasie nur angenehm beschäftigen und ihn daran gewöhnen, geistig zu genießen, was in dieser Welt genießbar ist – und das ist ohnehin mächtig wenig!«

»Zwecklos«, antwortete Mrs. Alden mit einem Gesichtsausdruck, der die Verhandlungen abschließen sollte. »Ich habe es ja versucht, ihm aus dem Märchenbuch der ›Mutter Gans‹ vorzulesen, das Letitia ihm geschenkt hat. Er wollte nicht zuhören, wollte die Bilder nicht besehen und war unruhig; er wollte vom Stuhl heruntergenommen werden und hinter seinem Ball herlaufen. Seine körperlichen Anlagen scheinen seine besten zu sein.«

»Zum Glück hat er deine Konstitution; darin hat es das Schicksal gut mit ihm gemeint.« Peter sagte das mit einer kleinen Verbeugung. Es bereitete ihm Vergnügen, seiner Frau mit einer Art spielerischer Galanterie Komplimente zu machen. Damit tröstete er sich innerlich darüber hinweg, daß er sie nicht wirklich liebte. Und doch bewunderte er sie in gewisser Weise aufrichtig. Sie hätte Juno, sie hätte Ceres sein können, wäre sie nicht Harriet Bumstead aus Great Falls, Connecticut, gewesen.

An diesem warmen Septemberabend saßen sie in der westlichen Vorhalle und bewunderten den Nachglanz des Sonnenuntergangs zwischen den riesigen weißen Holzsäulen, die geschwungen und ohne Basis aufragten wie die des Parthenons. Hier war es ihm gestattet zu rauchen, und er zündete sich noch eine Zigarette an, bevor er weitersprach. Ihn beschäftigte ein Plan, über den er lange nachgedacht hatte, ohne daß er den Mut gehabt hätte, davon zu reden. Warum sollte Harriet seinen Vorschlag eigentlich mißbilligen (aber das würde sie tun, er fühlte es gleichsam bis in die Knochen) – wo er doch offenbar in ihrem eigenen Interesse lag und auch im Interesse des Kindes und Letitia Lambs, ihrer ältesten und besten Freundin?

»Du sprichst von Letitia. Wie wäre es, wenn du sie bätest, zu Oliver zu kommen? Sie ist nicht zu jung, sie ist nicht abergläubisch, und sie ist eine Dame. Wir könnten sie auffordern, bei uns zu wohnen, und ihr ein nettes kleines Gehalt zahlen, damit sie einen Pfennig für ihre alten Tage zurücklegen kann. Sie hat den Jungen lieb und er sie. In den Anfangsgründen könnte sie ihn leicht unterrichten, bis wir eine gute Schule für ihn gefunden haben.«

»Wie wenig Verständnis ihr Männer doch habt«, entgegnete Mrs. Alden mit gutmütiger Überlegenheit. »Wie dürfte ich von Letitia Lamb verlangen, daß sie ihr Lebenswerk und ihre jährlichen Auslandsreisen aufgeben soll? Du weißt doch: in diesem Jahr begleitet sie wieder die Toot-Mädels; welch ein Genuß für sie, daß sie die beiden wirklich nach Griechenland und sogar nach Kreta führen darf, um diese wunderbaren Ausgrabungen zu sehen! Und wie sollte es ihr im Traum einfallen, mit ihren Vorträgen über die Plastik der Renaissance aufzuhören, mit denen sie doch solchen Erfolg hatte, zumal sie gerade entdeckt hat, daß die Plastik ein viel besserer Gegenstand für Vorträge ist als die Malerei, weil bei Lichtbildern von Gemälden die Farbe verlorengeht und viele Einzelheiten das Publikum verwirren, während Photographien von Statuen vollkommen ausreichend, ja sogar ergreifend sind, und man mehr von ihnen hat, als wenn man sich in langweiligen Museen oder in dunkeln kalten Kirchen die Sachen im Vorübergehen oberflächlich ansieht. Du hast keine Ahnung, wie ernsthaft sie arbeitet – sie ruiniert geradezu ihre Augen – und wie sie in der Kunstgeschichte tatsächlich ihr ganzes Lebensglück findet. Die Tränen kommen ihr dabei. Ihre Lichtbildvorträge sind für eine Stadt wie Great Falls sehr gut besucht. Im letzten Jahr hatte sie fast hundert Dollar Reingewinn. Wie kannst du da von ihr erwarten, daß sie sich bei derartigen Erfolgen und bei einer derartigen Berufung zu einer gewöhnlichen Erzieherin erniedrigt? Dein Vorschlag wäre eine Beleidigung für sie. Du vergißt, daß sie meine allerbeste Freundin ist.«

Peter Alden merkte nun selbst, daß er sich tatsächlich etwas unverständig gezeigt hatte. Wenn aber die Mysterien einer lebenslänglichen Freundschaft Letitia Lambs Hilfe unmöglich machten – was für eine andere Erzieherin ließ sich dann wohl finden?

»Ich wünschte nur«, fuhr Mrs. Alden fort, »wir hätten einen passenden Kindergarten in der Nachbarschaft! Der von Miß Bibbs ist nicht gut genug und zu weit entfernt. Ich müßte das Kind jeden Morgen mit Nannie im Wagen hinschicken. Das heißt, daß Patrick kutschieren müßte; und am Nachmittag wären die beiden wieder unterwegs, um den Kleinen abzuholen. Also, die Zeit von zwei Dienstboten wäre beinahe ganz damit besetzt, einen kleinen Jungen zur Schule hin und zurück zu bringen. Ich könnte es nicht ertragen, daß solch ein Unsinn in meinem Hause vor sich ginge! Es wäre einfach unmoralisch. Außerdem wäre das Pferd immer vollkommen erledigt, wenn es zweimal die lange Steigung mit dem schweren Wagen machen müßte. Was für einen Zweck hat es überhaupt, einen Wagen zu halten, wenn ich selbst niemals darin ausfahren kann? – Du wirst sagen: ›Schaff noch ein Pferd an!‹ Du bist eben leichtsinnig und gedankenlos in Geldsachen, Letitia wollte mir nicht einmal sagen, wieviel du ihr zu Weihnachten geschickt hast, es war sicherlich viel zu viel. Aber gut: angenommen, ich kaufe ein zweites Pferd! Dann wird sich Patrick beklagen, daß er zu viel Arbeit hat, und wird noch einen Burschen zur Hilfe im Stall verlangen. Endlose Unruhe und Verschwendung! Kinder sind ein schreckliches Problem!«

So standen die Dinge, als ein unerwartetes Ereignis Olivers Zukunft die gottgewollte Wendung gab.


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