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8

»Ich weiß gar nicht, was mit Oliver los ist«, bemerkte Mrs. Alden, als sie und Fräulein Irma auf der nördlichen Terrasse saßen und sich mit ihren Fächern Kühlung zufächelten. »Nicht ein Wort hat er während des ganzen Lunchs gesprochen. Er ist körperlich so kräftig, wie kann er nur so schrecklich mürrisch und teilnahmslos sein? Ich fürchte, er hat von seinem Vater eine gewisse seelische Labilität und Neigung zur Melancholie geerbt. Diese beiden Schuljahre sind ihm so glänzend bekommen; er war geistig beschäftigt und hatte durch den Sport so viel körperliche Übung; dabei war er immer der erste und bekam alle Preise; eigentlich müßte er jetzt vergnügter und lebhafter sein, mehr wie andere Jungen in seinem Alter. Als meine Brüder in dieselbe Schule gingen – alles war damals in dem alten, hölzernen Schulhaus viel schäbiger – waren sie gar nicht zu bändigen. Sie kamen immer nur nach Hause, um hastig ihr Essen hinunterzuschlingen, dann sausten sie sofort wieder weg zu irgendwelchen harmlosen Schulbubenstreichen, und im Sommer kampierten sie vergnügt im Wald. Aber Oliver weigert sich entschieden, noch einmal in Dr. Browns Kamp in Seater's Pond zu gehen, er findet es dort gottverlassen – was für ein Ausdruck für das Sommerhaus seines eigenen Seelsorgers, wo doch Mr. Brown so liberal, so frisch und großzügig ist, niemand würde ihn überhaupt für einen Geistlichen halten! Statt mit andern Jungen vergnügt drauf los zu leben, versteift sich Oliver darauf, den ganzen Sommer zu Hause zu bleiben und zu lesen. Das mag ihn geistig fördern, aber ist es vernünftig? Seine Onkel haben vielleicht mehr Lärm gemacht und waren nicht so besonnen wie er, aber wenigstens sind sie nicht griesgrämig gewesen. Oliver ist so kritisch und ablehnend gegen alles. Man könnte meinen, er hätte eine schreckliche Enttäuschung hinter sich; ein Arzt würde wahrscheinlich sagen, daß er eine entscheidende Lebensperiode durchmacht – daß er jetzt ein junger Mann wird. Aber das Schlimmste in dieser Beziehung hätte schon vor zwei Jahren vorbei sein müssen. Er ist doch fast siebzehn! Es ist ein Jammer, daß mein teurer Vater uns nicht etwas länger erhalten bleiben konnte! Er wäre jetzt eine große Hilfe. Seit Jahren betrachtete er derartige Fälle als seine Spezialität, und er war so weise, so liebevoll, so wissenschaftlich. Sie können sich nicht vorstellen, wie glänzend er Dr. Alden aus all seinen Schwierigkeiten herausgeholfen und ihn völlig kuriert hat – wenigstens so weit ein Mann in diesem Alter überhaupt kuriert werden konnte.«

»Aber wer«, rief Irma voll unschuldiger Gewißheit, »wer könnte Oliver besser beraten als sein eigener Vater? Wenn Dr. Alden bloß etwas ahnte – würde er dann nicht sofort kommen und uns sagen, was wir machen sollen?«

»Oliver ist ja nicht wirklich krank«, erwiderte Mrs. Alden. »Er ist nur launisch.«

»Ich weiß, er leidet schrecklich unter der Hitze«, fing Irma wieder an. »Er ist müde. Man muß bedenken, wie sehr er noch außerhalb seiner Schulstunden durch all die sportliche Anstrengung und Verantwortung in Atem gehalten war, denn er merkte ja, wie enttäuscht die ganze Schule gewesen wäre, wenn er bei den Wettspielen mit den anderen Schulen nicht den Zweihundertvierzig-Yards-Lauf gewonnen hätte und den Hürdenlauf und –«

»Wie können Sie nur diese albernen Ausdrücke behalten? Mir kommt das alles so kindisch vor!« Und Mrs. Alden wiegte sich halb amüsiert, halb ungeduldig im Schaukelstuhl hin und her.

»Aber daraus besteht nun einmal sein Leben, Mrs. Alden. Ich versuche, daran Anteil zu nehmen und zu verstehen, was ihn glücklich oder unglücklich macht. Ich weiß, was für Mühe er sich beim Trainieren in all den Sportarten gab, in denen er einen Sieg für möglich hielt, obwohl manche ihm neu waren und ihm gar keinen besonderen Spaß machten. Und wie wunderbar, daß er wirklich gesiegt hat, genau, wie er es sich gedacht hatte! Und das alles nicht im geringsten aus Eitelkeit, nicht einmal zum Vergnügen, nur einfach aus Pflichtbewußtsein. ›Wenn ich es kann‹, sagt er sich, ›muß ich es wohl tun.‹

Es hat keinen Zweck, Unterhaltungen für ihn auszudenken; sie unterhalten ihn nicht. Nur wenn wir etwas ganz Herrliches voll sehr hoher Gedanken lesen, scheint Leben in ihn zu kommen; als hörte er eine Botschaft, auf die er schon lange gewartet hat. Nicht Dichtung übt diese Wirkung auf ihn aus; die ist bloß schön; er macht sich nichts aus Schiller oder Shakespeare oder Shelley. Er verlangt nicht nach Schönheit der Worte oder edler Begeisterung, sondern nach Wahrheit, auch wenn sie manchmal niederdrückend ist. Gestern habe ich ihm Schopenhauer vorgelesen – Sie wissen, Schopenhauer ist ein wundervoller Idealist und ein feiner Schriftsteller, nur leider so pessimistisch und schrecklich gegen Frauen – aber wenn ich Oliver aus ihm vorlese, überspringe ich natürlich alle die bösen Mephistostellen, die ich mir vorher angekreuzt habe. Wie ich da nun vorlas, daß alles zauberhaft schön und klar wird, wenn wir unseren Willen ausschalten und die ganze Welt rein als Idee anschauen, ließ mich Oliver innehalten und den ganzen Absatz noch einmal lesen und wollte mich nicht fortfahren lassen, ehe er ihn nicht selbst noch dreimal in diesem beredten Deutsch wiederholt hatte und ihn völlig auswendig konnte.

Er dürstet nach großen Gedanken, Mrs. Alden, seine Seele kann ohne große Gedanken nicht leben. Wir armen, unvollkommenen Menschen und alle unsere zerfahrenen Angelegenheiten sind eine Last für ihn, eine fremde Welt. Nicht daß er im mindesten hochmütig oder unfreundlich ist oder einfache Menschen nicht leiden kann. Im Gegenteil, gerade anmaßende Leute sind ihm zuwider. Da wollte er doch neulich Tom Piper, den Apothekerssohn, zum Lunch bitten, nicht weil er sich besonders viel aus ihm macht, sondern einfach aus Freundlichkeit. Und als sich herausstellte, daß es nicht ging, weil die Pipers Ladenbesitzer sind, haben Sie da nicht gemerkt, wie rot und ärgerlich er wurde, wenn er auch nichts sagte? Nein, es ist ein rechtes Kreuz für den armen Oliver, daß die Menschen ihn mit ihrer Zuneigung verfolgen. Ich weiß sehr gut, wie ich ihn manchmal dadurch plage, daß ich zu gefühlvoll oder zu deutsch bin, wie er es nennt.

Nun kam gerade vorhin Tom Piper herauf und fragte nach Oliver, um ihn zu einem Picknick einzuladen, und als ich ihm gesagt hatte, Oliver wäre nicht da, wahrscheinlich läge er in seinem Kanu unter den Bäumen am oberen Mühlenteich, da fuhr es mir unwillkürlich ganz offen heraus, Tom sollte Oliver lieber nicht zu dem Picknick auffordern. Oliver wäre sehr müde, ganz erschöpft von der Hitze und der angestrengten Arbeit, und es wäre besser für ihn, völlige Ruhe zu haben. Ich wüßte aber, daß er bei einer Einladung wohl meinen würde, er müsse sie annehmen, um nicht für launisch oder unfreundlich gehalten zu werden. Ich merkte, daß Tom Piper, der ein netter, bescheidener Bursche zu sein scheint, schrecklich enttäuscht war, da er nun umsonst den ganzen Weg gemacht und sein Fahrrad mühsam den Berg herauf geschoben hatte; es ist klar, daß er Oliver anbetet. Aber er dankte mir dann doch etwas zögernd dafür, daß ich ihm die Wahrheit gesagt hatte, und meinte, er wolle Oliver wirklich nicht stören oder sich ihm aufdrängen, nur hätte er gehofft, sie könnten manchmal während der Ferien zusammen Kanu fahren, denn in der Schulzeit wäre Oliver immer zu beschäftigt, um viel mit ihnen allen zusammen zu sein. Es ist sonderbar: Oliver brauchte eigentlich mehr Freunde und mehr Wärme; und doch bedeuten ihm die Freunde, die er sich erwirbt, mit allen ihren Aufmerksamkeiten fast nur einen Zuwachs an Verpflichtungen. Vielleicht müßte er einmal eine ganz durchgreifende Veränderung haben. Wie schade, daß wir Dr. Alden nicht um Rat fragen können.«

»Es wäre ja nicht unmöglich, ihn zu fragen«, sagte Mrs. Alden, etwas beeindruckt von dem Ernst, mit dem die gute Irma die Sache ansah. »Er ist wegen der Arbeiten an seiner Jacht gerade in Boston – das Ding ist vollkommen neu, trotzdem braucht es schon kostspielige Reparaturen. Das hat ihm die ganze Sommerreise verdorben; bloß weil er so töricht darauf bestanden hat, eine neue Jacht zu bauen, obwohl der ›Hesperus‹ bisher völlig gut genug war; warum eigentlich jetzt nicht mehr? Weil Dr. Alden von schlechten, minderwertigen Leuten beherrscht wird; es hat ja keinen Zweck, ihn zu warnen. Er weiß, daß er ausgenutzt wird, und er macht sich darüber lustig. Es amüsiert ihn, wie alle diese Schmarotzer auf der Jacht von seinem Gelde profitieren, und er ist ihnen noch beinahe dankbar, daß sie ihn überhaupt mit dabei sein lassen. Gott weiß, ob das neue Boot seetüchtig ist – es soll so ein Luxusschiff sein, etwas ganz Ungewöhnliches – am Ende geht es eines Tages mit Mann und Maus auf hoher See unter. Aber das ist nun mal seine schwache Seite. Ich fürchte nur, wenn ich ihn bitte, zu kommen und nach Oliver zu sehen, und er ebenfalls findet, daß der Junge lediglich schlechter Laune und zu schnell gewachsen ist und ihm nichts Richtiges fehlt, dann wird er mir vorwerfen, ich machte viel Lärm um nichts und störte ihn in seiner Freiheit.«

»Aber ich habe es doch so oft gehört, wie er gerade an Ihnen rühmte, daß Sie unnötige Aufregungen vermieden und ihn niemals in seiner Freiheit störten.«

»Schreiben Sie ihm, wenn Sie wollen – ich habe nichts dagegen – und berichten Sie ihm, warum wir, vielleicht ohne Grund, in Sorge sind. Dann wird sich Dr. Alden nicht verpflichtet fühlen, zu kommen oder irgend etwas zu unternehmen, wenn er keine Lust dazu hat.«

Peter Alden schrieb nicht gern Briefe. Allzu oft mußte man die Gefühle erfinden, die man ausdrücken sollte, und die konventionellen Anfangs- und Schlußwendungen waren ihm lästig, er kam sich blöd vor, wenn er sie gebrauchte. Wenn irgend möglich, antwortete er telegraphisch; und so empfing Irma am nächsten Tage eine lange Depesche, in der er den Vorschlag machte, daß sie und Oliver zu ihm nach Boston kommen möchten. Ein paar Tage lang, während die neuen Maschinen ausprobiert wurden, mit ihm in der Massachusetts Bai zu kreuzen, würde Oliver gut tun.


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