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Solange das Land für Mario noch den Reiz der Neuheit hatte, kamen fast täglich Briefe, die Oliver von den Abenteuern seines Vetters erzählten.

»Warum hat mir niemand gesagt«, schrieb er, »daß Amerika der amüsanteste Fleck der ganzen Welt ist? Ich hätte dann nicht neunzehn lange Jahre fern von meinem rechtmäßigen Heimatland verschwendet. Wolkenkuckucksheim und Liliput sind im Vergleich dazu nichts! Immerfort Humbug und Gelächter! Kein Wunder, daß Pinkie (ein Schulmädel, das ich im Zug kennenlernte) meinte, sie müsse jedesmal, wenn sie nach Hause käme, ihre Mundwinkel ausbügeln; sie täten ihr geradezu weh vor Lachen. Und wie habe ich Pinkie ›kennengelernt‹? Nichts einfacher als das! Ich hatte ihr ein paarmal ins Auge geschaut, während ich mit deinem Onkel sprach. Als er in New Haven ausstieg, ging ich mit ihm auf die Plattform, um mich von ihm zu verabschieden, und als ich zurückkam, stolperte ich über ihren Regenschirm, der den Gang versperrte. ›Verzeihung, das tut mir leid, ganz meine Schuld, hoffentlich habe ich ihn nicht kaput gemacht.‹ – ›O, nein, das würde auch nicht viel ausmachen, denn er ist schon kaput!‹ und dabei lachte sie so vergnügt, als ob ein zerbrochener Regenschirm das Leben sehr erleichtere. Leerer Platz neben ihr! Nette Unterhaltung! Zwei Stunden; aber sie fuhr nach Boston weiter, und in Providence mußte ich ihr Lebewohl sagen und in den Wagen nach Newport umsteigen (wo's lange nicht so lustig war, denn ich saß auf einem Drehsitz, der von allen andern Mitreisenden gleich weit entfernt war; und ein gleichmäßiger Abstand von der Umwelt ist der Tod jeder interessanten Gesellschaft). Sie gab mir ihre Karte: Miß Pinkie Brock, Spruce Avenue, Alston – und ich soll sie am nächsten Samstagabend in den Kinematographen führen. So habe ich also schon eine reizende Freundin im kultivierten Boston.

Und dein Onkel, Jack Bumstead – es war doch ein glücklicher Zufall, daß wir ihn im gleichen Zug entdeckten! Den ganzen Weg nach New Haven hat er mir eine witzige Geschichte nach der andern erzählt – an sich waren sie nicht so besonders komisch, aber er würzte sie mit seiner eigenen amüsanten Ironie. Dabei zwinkerte er so trüb und abwesend mit den Augen (müde Augen hat er), als amüsierte er sich weniger über seine Witze als über die Absurdität, daß er verpflichtet war, über sie zu lachen. Ich glaube, so geht es professionellen Witzbolden immer, wenn sie alt werden und es satt bekommen, Pagliacci zu sein und lauter Stroh im Kopf zu haben. Hoffnungslose und enttäuschte Existenzen im Grunde, womöglich mit längst gebrochenem, nie wieder gekittetem Herzen! Wenn an unserem Haus in Paris der Mann vorbeigeht, der immer ruft: Réparateur de faïence et de porcelaine‹, dann sagt meine Mutter, die sehr praktisch ist, aber immer romantische Ideen bereit hat: ›O, la, la, man kann zerbrochenes Geschirr ebensowenig heilmachen wie ein zerbrochenes Herz.‹ Aber in Amerika scheint jedermann so zu tun, als könnten Geschirr und Herzen niemals in Stücke gehen, und als käme es nur darauf an, Witze zu machen. ›Was?‹, sagte Onkel Jack – denn wir haben ausgemacht, daß ich ihn Onkel Jack nennen soll – ›Sie steigen nicht aus, um sich New Haven anzusehen? Noch nie was von New Haven, Connecticut, gehört? Gott, Gott! Das müssen wir gleich beheben! Berühmtester Ort der Erde, übertrumpft die ganze Welt! Ist im Besitz dreier unüberbietbarer Rekorde, die alle drei dazu beitragen, daß New Haven auf der obersten Kirchturmspitze des Ruhmes erglänzt wie ein goldener Wetterhahn in den Strahlen der aufgehenden Sonne – zwar sieht ein Zeitungsmann wie ich niemals die Sonne aufgehen; aber das ist eben Dichtung, und jeder kann etwas, das er nie gesehen hat, zu Dichtung verarbeiten. Durch welche drei Dinge aber ist New Haven weltberühmt? Durch die älteste Frau, den dicksten Moskito und das größte Irrenhaus der Erde. –‹

Ich meinte, von dem Moskito und der alten Frau hätte ich noch nie gehört, aber sei die große Irrenanstalt nicht in Great Falls?

›Pah, dort sind nur die gewöhnlichen, amtlich bestätigten Irren, die gegen ihren Willen eingesperrt werden. Aber nach New Haven kommen die Verrückten aus freiem Antrieb, behaupten, sehr gern dort zu sein und wären anderswo nicht glücklich. Auch nennen sie den Ort gar nicht Irrenanstalt, sie nennen ihn Yale College.‹

Als ich das hörte, sagte ich sofort: ›Ich merke, Sie sind ein Harvard-Mann‹, und das begeisterte Deinen Onkel sehr; er klopfte mir auf die Schulter, sagte, ich ginge munter wie eine junge Ente ins Wasser, sei noch nicht vierundzwanzig Stunden im Lande und wüßte schon gründlich Bescheid. Man müsse sogleich einen Nachtrag zur Konstitution machen, damit ich, obgleich ich zufällig nicht im Lande geboren sei, doch zum Präsidenten der Vereinigten Staaten erwählt werden könne. Und daraufhin bat er mich also, ihn Onkel Jack zu nennen und an seinem wöchentlich erscheinenden Witzblatt mitzuarbeiten. ›Ja‹, sagte er, ›ich bin ein Harvard-Mann und schäme mich nicht, es Ihnen ganz im geheimen einzugestehen, nachdem Sie es selbst entdeckt haben; aber weiter wollen wir es nicht herumkommen lassen. Es könnte mir das Geschäft verderben, wenn man erführe, daß ich ein verkappter Studierter bin.‹

Ich fragte ihn, warum Du denn nicht nach Harvard gegangen seist, und warum wohl manche Leute Williams für besser hielten.

›Niemand hält Williams für besser‹, sagte er, ›außer meinem blöden Bruder, der früher aus Sparsamkeitsgründen hingeschickt worden ist. Die Billigkeit ist an ihm hängen geblieben; und als mein Vater merkte, daß er sich zu einem muskulösen Theologen ausgewachsen hatte, tat es ihm leid, daß er nicht die Grabsteine seiner Ahnen verkauft und Harry nach Harvard geschickt hatte.‹«

Und in einem andern Brief schrieb Mario:

»Es ist eine Schande, daß Du Großmama und Edith und die kleine Maud noch nie gesehen hast. Ich kann das gar nicht verstehen. Ist Dein Vater nicht eigentlich bei Großmama aufgewachsen? Sie ist so lieb und so leichtfertig! Vielleicht hat man Dich absichtlich vor ihr versteckt, damit Du nicht von ihren weltlichen Ansichten verdorben würdest. Aber Edith würde Dir gefallen. Sie ist nicht nur sehr schön, sondern auch schrecklich gescheit und gebildet und religiös und zieht sich wunderbar an, in einem Stil, den sie mehr oder weniger selbst erfunden hat, und der doch sehr elegant ist: le dernier cri, aber in vereinfachter Form, stylisé und ein klein wenig nonnenhaft und feierlich. Sie ist auch nicht zu alt wie Conchita – ich meine Madame Gorgorini – die natürlich ganz femme faite ist und Dich vielleicht etwas beunruhigt hat; ich mag aber Frauen, die mich beunruhigen. Andrerseits ist Edith auch nicht zu jung oder so ein dummes kleines Ding wie Pinkie. Pinkie würde gar nicht zu Dir passen. An Edith dagegen könntest Du keinen einzigen Fehler entdecken. Sie ist ideal. Und dabei völlig natürlich; man fühlt sich sofort wohl bei ihr, und sie versteht einen vollkommen; und sie ist so klug und gut und einsichtsvoll. Sie hat mir Unterricht in amerikanischen Manieren gegeben. Anscheinend war es eine gaffe, daß ich mich entschuldigte, Dich nicht sofort in Great Falls besucht zu haben. Sie sagte, ich würde dort gar nicht erwartet, und Deine Mutter hätte niemals Logierbesuch; denn sogar bei Leuten, die das gesellschaftliche Leben mitmachen, sei es hier nicht wie in England, wo man bei einem Freund telegraphisch anfragen kann, ob man morgen zum Übernachten kommen darf oder zum nächsten Wochenende oder für ein paar Tage zu den Rennen. Das schicke sich hier nicht. Selbst reiche Leute hätten selten einen so elastischen Haushalt und genügend Dienstboten. Man müsse warten, bis man aufgefordert werde, und man werde nicht oft aufgefordert, außer zum Dinner und zu Abendgesellschaften. So werde ich hier nochmals erzogen. Aber als ich Dir sagte, ich könnte nicht nach Great Falls kommen, hast Du mich gebeten, Dich in Williamstown zu besuchen. Dort bin ich also eingeladen, und sobald ich ein paar Tage frei habe, werde ich kommen. Sei nicht allzu erstaunt, wenn Du mich aus einer Wolke von Staub, Donner und Blitz auftauchen siehst. Ich soll nämlich ein Auto bekommen. Die Mädel hier haben ein kleines, einen ›Torpedo‹, und sie sind überrascht, wie schnell ich damit fahren kann. Sie wollen es aber nicht mit nach New York nehmen, denn dort brauchen sie natürlich einen geschlossenen Wagen; wenn sie also zum Winter aus Newport weggehen, soll ich das Automobil übernehmen. Onkel James sagt, heutzutage sei es fast selbstverständlich, daß jeder Student in Harvard eins hat; und ich solle den Torpedo nur behalten, denn er sei sowieso nicht mehr gut genug für junge Damen im Alter seiner Töchter; nicht einmal auf dem Lande. Ist das nicht Glück? So werde ich Dir also bald eine Fahrstunde geben können, wenn ich mir bis dahin noch nicht den Hals gebrochen habe.«

Endlich kam eine Reihe von Briefen aus Harvard, knappe Nachrichten, die kürzer und kürzer wurden und sich schließlich zu Postkarten verflüchtigten.

»Claverley Hall hat so gut wie gar nichts von einem College an sich; es ist eher wie ein Eisenbahnhotel: ein Mietshaus aus Backstein in einer lehmigen Straße, mit einer Menge von kleinen Wohnungen darin, fast wie in einem Bienenstock. Serienmäßig hergestellte Studentenmöbel, wie sie en gros fabriziert werden: gelbes Holz und grünes Kunstleder! Aber Onkel James meint, es sei das beste Haus in Cambridge, es werde geradezu erwartet, daß man dort wohne. Essen kann man dort aber nicht, denk nur! Sogar zum Frühstück muß man ausgehen. Ich nehme es stehend am Schanktisch mit hochgeschlagenem Kragen, denn es ist schon feucht und kalt hier. Kaffee, Cornflakes mit Sahne, manchmal noch einen Bratapfel! Zuweilen, wenn ich sehr spät dran bin, um halb elf oder elf, treffe ich dabei einen der Professoren, der vor seiner Vorlesung genau dasselbe frühstückt. Habe heute mit ihm gesprochen; er hatte mich vor Jahren schon mal in Windsor gesehen und war ein Freund meines Vaters. Die Welt ist klein. Das beste, was man in Cambridge tun kann, ist nach Boston gehen. Habe schon eine Menge Freunde dort. Die Damen reizend: haben einfach alles gelesen; nette Kleider, gutes Essen! Die Männer langweilig, freundlich und harmlos. Bekomme so viele Einladungen zum Lunch und zum Dinner, daß es mir gar nichts ausmacht, zu Hause kein Essen zu kriegen.«

»Mein Zimmernachbar ist ein netter Mensch, er heißt Boscovitz. Spricht französisch und hat eine Menge Bücher. Man sagt, sein Vater sei früher Jude und Juwelier gewesen, habe sich aber doppelt bekehrt: zum Christen und Gutsbesitzer. Doch die Leute vergessen das nicht, und der junge Boscovitz ist hier nicht beliebt; er muß sich mit seinen Büchern und mit Reiten trösten ...«

»Ich bin mit Boscovitz ausgeritten, auf einem Mietgaul. Habe seine entzückenden Schwestern kennengelernt, drei im ganzen, und war in ihrem Hause zum Tee. Überwältigend, restlos überwältigend! Musikräume, Gobelins, wunderbare Möbel! Mutter eine polnische Gräfin, Mädel wundervoll, und alle ganz verschieden voneinander! Papa abwesend. Einfach vollkommen ...«

»Habe jetzt für dauernd ein Pferd gemietet. Schrieb es Onkel James. Er meint, man erwartet von einem Freshman eigentlich nicht, daß er reitet. Aber da ich nicht Rugby spiele, könnte vielleicht vorläufig – kurz: das Pferd wurde genehmigt ...«

»Es tut mir leid, aber ich kann jetzt nicht nach Williamstown. Muß hier jeden Morgen ein Billet-doux in einen gewissen Briefkasten stecken. Nicht für eine Dame, sondern für Professor Barrett Wendell. Es ist eine ›Tägliche Lektion‹; muß wenigstens eine Seite auf einem bestimmten liniierten Papier sein, aber nicht mehr als zwei Seiten. Bringt einem automatisch bei, wie man gutes Englisch schreibt. Unentbehrliche Übung für Journalisten und für zukünftige Gedankenarbeit zum Besten der Menschheit. Außerdem kommt Edith für vierzehn Tage nach Boston, und ich muß ihr den Hof machen ...«

»Wie herrlich! Williams wird also hier am nächsten Samstag gegen Harvard spielen! Natürlich wirst Du dabei sein. Treffe Dich gleich nach Deiner Ankunft, und wir machen alles aus. Du mußt wenigstens über Sonntag bleiben. Wir können mit Edith lunchen und zum Dinner den alten Mr. Wetherbee überfallen. Als er entdeckte, daß ich ein Freund von Dir bin, wurde er ganz enthusiastisch. Er hält unglaublich viel von Dir und von Deinem Vater. Wie schade, daß Du Deinen Landsitz nicht verlassen und nach Harvard kommen kannst, wo Du Dich – abgesehen von den ›Täglichen Lektionen‹ – prachtvoll unterhalten würdest.«


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