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15

Im weiteren Verlauf der Reise kamen sie nur selten zusammen. Manche Tage waren stürmisch, und auch wenn das Wetter sich aufklärte, war es Oliver nicht immer möglich, seine Mutter und die Leute, mit denen sie sich an Bord befreundet hatte, allein zu lassen. Falls er es doch einmal wagte, nahm er ein paar Bücher unter den Arm und sagte, er habe einen stilleren Platz zum Lesen gefunden; wobei er sich allerdings hütete zu gestehen, daß dieser stillere Platz gerade über den Schrauben lag, wo es unaufhörlich schüttelte, vibrierte und stieß. Und selbst wenn er diesen windigen Zufluchtsort erreichte, erschien Jim nicht mit Regelmäßigkeit. Augenscheinlich hatte er noch mehr zu tun, als nach seinem Freund aus der ersten Klasse Ausschau zu halten. Aber wenn Oliver in seiner Einsamkeit auch etwas melancholisch war, so erleichterte sie doch andererseits sein Gewissen. Er war nicht auf Verabredung gekommen, er war in aller Freiheit gekommen, um hier zu lesen; und er wollte nun sein Buch öffnen und es sich auf dem gewählten Platz bequem machen.

Aber er blätterte nicht viele Seiten um. »Jim läßt heute auf sich warten«, dachte er dann. »Vielleicht hat er sich heute morgen nicht rasiert oder trägt mal wieder seine alten Sachen. Er denkt, ich sähe ihn nicht gern in so schäbigem Aufzug; das stimmt auch. Und doch versteht er mich nicht ganz. Es ist doch nicht so, daß ich mich abschrecken lassen würde, wenn es ihm schlecht ginge, selbst wenn es ihm ernstlich und dauernd schlecht ginge. Wie sollte es mich stören, wenn er tatsächlich arm wäre? Würde ich mich denn schämen, in seiner Gesellschaft gesehen zu werden, wenn er einmal nicht gut angezogen ist? Bin ich etwa ein Snob? Ich fürchte mich höchstens davor, daß er sich zu schön macht und kitschig und aufgedonnert wirkt. Das ist mir unbehaglich, genau wie die Tatsache, daß er spielt und den Frauen nachläuft. Und doch sehe ich ein, daß auch das zu ihm gehört. Er wäre nicht er selbst, wenn er nicht frei, hemmungslos und amoralisch wäre, und das ganz bewußt und mit Trotz. Man kann sich Falstaff nicht schlank wünschen. Er denkt, ich sei einsam und brauchte ihn zu meiner Aufheiterung. Aber ich bin nicht einsam. Ich bin gern allein. Ich bringe mir zwei oder drei Bücher mit und lese kaum darin; hier draußen gibt es so viel zum Anschauen und Nachdenken. Und weil er sein Behagen und Vergnügen bei Wein und Liebe findet, glaubt er, ich müßte es ebenso machen. Aber das könnte ich gar nicht. Ich hasse Vergnügungen. Ich hasse, was man ›sich amüsieren‹ nennt. Ich hasse künstliche Anreize. Ich hasse ›Rauschmittel‹. Das alles ist Schwindel. Solange ein Vergnügen währt, ist es nichts als Durcheinander, zu neun Zehnteln stört es mich bloß. Wenn es vorbei ist, bleibt nichts als Leere zurück. Man löscht für einen Augenblick einfach alles aus seinem Geist, woran man wirklich hängt; man verliert den Halt und macht sich zum Narren. Jim würde sagen, daß ich ein unglücklicher, trostloser Bursche bin; eben weil ich mich von dem ganzen Wirrwarr fernhalte, immer an die Dinge denke, die mir am Herzen liegen, immer die drei Lilien im Wappen von Eton im Sinne habe. Wenn aber die Welt wirklich trostlos ist, wozu sollen wir dann so tun, als sei sie heiter und schön? Ich möchte lieber trostlos sein als betrunken, eine andere Wahl gibt es ja nicht.

Vielleicht irrt sich Jim noch in anderer Hinsicht und fürchtet, wenn ich ihn nun seltener sehe und nicht mehr so viel mit ihm verkehre, könnte ich ihn trotz meines Versprechens vergessen und ihn später mal im Stich lassen. Er begreift nicht, daß das nicht einfach ein mündliches Versprechen war, oder eine geschäftliche Abmachung, die man jederzeit zurücknehmen und für ungültig erklären kann. Es ist ein Vermächtnis meines Vaters; ja, mehr als das, es ist eine Forderung der Treue gegen mich selbst und gegen alles, was mir Jim einmal bedeutet hat. Was wäre ohne ihn aus mir geworden? Eine Null, ein Einfaltspinsel, ein Heuchler, ein Weichling; ich hätte mir eingebildet, alles zu wissen, weil ich gute Noten in der Schule hatte, und ein Weltmann zu sein, weil ich einer Schülerverbindung angehörte. Ich könnte ihn aus meinem Leben nicht wegwischen, wenn ich's auch noch so gern wollte; und ich will es gar nicht. In dieser Richtung liegen für mich keine Gefahren mehr; die Versuchung kommt nun von einer ganz andern Seite. Er wird mich nicht verderben, wie Mutter glaubt; sie hingegen könnte mich meiner Pflicht abspenstig machen. Denn ich habe ihm gegenüber eine Pflicht, ja, auch seiner Familie gegenüber, genau so wie ich Vanny verpflichtet bin; ich muß ihnen nicht nur Geld geben, wenn sie es brauchen, sondern ihnen auch auf jede andere Weise helfen. Man denke nur daran, wie Jim sich im Augenblick, wo er mich sieht, zusammenreißt und aufrichtet – ich meine, im Augenblick, wo er einen Menschen sieht, der ihn anerkennt, der es ihm der Mühe wert erscheinen läßt, anständig zu sein. Der Wind trägt ihm den Duft der Lilien zu, und er sagt sich: ›Bei Gott, ein schöner Geruch, eine liebliche Blume!‹ Ja, Süße und Schönheit wachsen nicht aus dem Nichts hervor. Sie wachsen hervor aus Fleisch und Blut, aus Schlamm und Sonnenschein; und wenn ich Jim so, wie er ist, verschmähe, dann kann ich niemals das werden, was ich zu werden wünsche.«

Inzwischen fühlte sich auch der junge Jim Darnley in der zweiten Klasse nicht recht behaglich, als spüre er, daß er sich im Brennpunkt dieser Betrachtungen befand. Wenn er im Bridge mehr verloren hatte, als ihm recht war – während er anfangs darauf gebaut hatte, er müsse auf der langen Reise doch letzten Endes einen hübschen Gewinn einheimsen können – oder wenn der Dunst des Alkohols und des Tabaks sich ihm wirklich einmal zu schwer aufs Hirn legten und er sich darauf zu einem Spaziergang in der frischen Seeluft an Deck begab, dann wandten sich seine Gedanken Oliver zu.

»Wie soll man aus dem Burschen klug werden? Ärgert er sich über mich? Ist er in Sorge um mich? Seit der Nacht in Sandford scheint er was gegen mich zu haben. Wäre er über mein Tun und Treiben unglücklich, wenn er mich nicht gern hätte? Und wenn er mich gern hat, warum ist er dann so bitter und ablehnend und wegwerfend? Ich glaube wirklich, er ist eifersüchtig – eifersüchtig auf Minnie und eifersüchtig auf Bella. Dabei würde ich doch einen jungen Freund wie ihn höher als alle Frauen der Welt stellen, wenn er nur schneidiger wäre und Mut zu seinen Gefühlen hätte. Nicht daß mir meinetwegen viel daran liegt; ich bin nicht liebebedürftig. Ich habe einfach versucht, von Anfang an anständig und nett zu sein, zum Teil auch seines Vaters wegen; und als ich merkte, daß er mir wie ein Hündchen nachlief, an meinen Lippen hing und mich in allem nachahmte, nahm ich das als ganz selbstverständlich hin und lavierte so geschickt wie möglich zwischen Vater und Sohn hin und her. Der Doktor sah gern, daß sein hausbackener Sprößling ein bißchen aufgeheitert wurde und auftaute; aber das ist fast zu gut geglückt, und der Alte mußte es ja wohl etwas bitter finden, wenn sein Sohn ihn bei mir auszustechen schien, und ich ihn bei seinem Sohn. An dem Abend dann, als Oliver darauf bestand, mit mir trotz Wind und Regen die Gesellschaft beim alten Wetherbee zu verlassen, ärgerte sich der Doktor. Er blieb drei Tage an Land; teils aus Großzügigkeit, damit wir uns unterhalten konnten, wie es uns Spaß machte, teils aber – das merkte ich gleich – weil er beleidigt war, daß sein Sohn an seinen eigenen Neigungen nicht mehr Geschmack fand. Und was sagte der Alte später, als Oliver sein Angebot abwies und nicht von zu Hause fort wollte, um mit uns im Mittelländischen Meer zu segeln? Daß wir Menschen manchmal aus einem falschen Grunde das Rechte tun. Er meinte, der Junge habe eine Dummheit gemacht, aber im großen ganzen sei es doch in unserm Interesse besser, daß wir ihn auf diese Art losgeworden wären. Ein junger Mensch in diesem Alter, der beständig mit bei Tisch gesessen oder still in irgend einer Ecke gestanden hätte, wäre uns doch unbehaglich gewesen; fast so wie Damengesellschaft.

Aber nun, wo der Doktor ein für allemal aus dem Spiel ist, brauchen wir zwei jungen Kerle doch nur an uns selbst zu denken. Wir können keines Menschen Gefühle mehr verletzen. Unser Tun und Lassen geht keinen etwas an. Warum macht er nicht mit, nachdem ich ihn doch in jeder Weise dazu aufmuntere? Er kann doch keine Angst mehr vor mir haben – nach allem, was bis jetzt geschehen ist? Vielleicht hat er Angst vor sich selbst, denkt, er dürfe sich eigentlich nichts aus mir machen. Aber wenn man ein bißchen in einen Freund vernarrt ist, so schadet's doch nichts, wenn man es zeigt? Was Unschuldigeres kann's doch gar nicht geben! Armer Kerl! Schon vor der Geburt in die Falle gegangen, in der Gefangenschaft geboren wie die jungen Löwen im Zoo! Einer von diesen gehemmten, gelähmten Narren, die mit verbundenen Augen herumlaufen und ihr kleines Fünkchen Lebensglut in einem Haufen Küchenasche ersticken. Nicht Oliver allein ist so – nicht mal darin ist er einzigartig – sondern diese ganze schreckliche Gesellschaft.

Diese hochachtbaren Amerikaner haben die sonderbarsten Sparren. Habe ich nicht oft den tugendhaften Gatten aus Boston oder Seattle in Paris beobachtet, wie er verzweifelt entschlossen war, endlich das Leben kennenzulernen, komme was da wolle, jetzt oder nie? Seine süße kleine Frau ist müde vom Einkaufen und ist früh schlafen gegangen. Er schaut auf seine Uhr. Erst neun! Eine gute Gelegenheit! Ganz vertraulich fragt er den Hotelportier, was er empfiehlt, Folies Bergères oder Moulin Rouge, und welche geheimen Nachtlokale auf dem Montmartre am, na – am charakteristischsten sind. Sorgfältig schreibt er sich die Namen in sein Notizbuch – mit Bleistift, damit er sie später leicht ausradieren kann. Wenn er dann schließlich das gesehen hat, was er für den Gipfelpunkt der neuesten Verdorbenheit hält, lädt er kühn zwei der Schönen zu Hummern und Champagner ein und versucht ihnen seine amerikanischen Witze in ein entsetzliches Französisch zu übersetzen, während sie ein Gähnen verbergen, sich die Nase pudern und gleichzeitig die Frauen an den andern Tischen einer zersetzenden Kritik unterziehen. Dann, wenn es zum Heimweg geht, begleitet er die beiden Sirenen höflich zum Wagen, steckt ihnen großzügig eine Banknote zu, winkt mit seinem Hut und schreit vergnügt: ›Auf Wiedersehen, liebe Kinder, bye, bye, bis zum nächsten Mal; sehr erfreut, eure Bekanntschaft gemacht zu haben. Meine Frau erwartet mich im Hotel!‹ Im Grunde natürlich ganz schlau, aber warum kommt man mit gewissen Leuten überhaupt zusammen, wenn man mit ihnen bloß halbe Sache machen will? Wenn du nur Champagner trinken und übers Wetter reden willst, so kannst du das auch beim König und der Königin im Bankettsaal des Schlosses tun und dich mit Bücklingen entfernen, ohne einen Pfennig bezahlt zu haben.

Ich lache über diese armen, vorsichtigen, eingeengten Feiglinge, die sich so lange bei den Präliminarien aufhalten auf Kosten ihres Geldbeutels und, verflucht nochmal, ihrer Würde! Aber in Wahrheit versäumen sie nicht viel. Was ist die Liebe anderes als ein periodischer Dezimalbruch? Immer die gleiche Ziffer bei ständig sich verminderndem Wert! Sehr wahr; und doch ist sie ein Stück des Lebens, und es hat keinen Zweck, nach Grundsätzen leben zu wollen, die der Natur widersprechen. Man muß sich blindlings auf das Dasein einlassen, ehe man weiß, was daraus werden soll; wenn man das herausgefunden hat, ist's Zeit, abzugehen. Und trotzdem: das kluge Kind, der müde Philosoph, der nur den Zeh ins Wasser steckt und ihn dann zurückzieht, weil er es zu tief und bitter und gefährlich findet, ersäuft am Schluß wenigstens nicht, ja, vielleicht kann er sogar einem von uns andern noch die Hand zur Hilfe reichen. Man denke an den Doktor! Was für ein wunderbarer Chef! Ich hätte nicht mehr Glück haben können, und wenn ich auf eine Goldmine gestoßen wäre. Der Sohn wird nie so werden. Er ist unglücklich über sein Geld und fürchtet sich, es auszugeben; aber wenigstens ist er eine sichere Sparkasse, eine Art Unfallversicherung. Wenn Cynthia und ich heiraten – in Iffley natürlich: entzückende Szene, weiße Gewänder, schlichter Tee auf dem samtenen Rasen – dann bitte ich ihn, mein Brautführer zu sein. Er wird sich entschuldigen: unabkömmlich wegen eines Rugby-Spieles oder einer Preisarbeit oder einer Verabredung beim Zahnarzt. Aber er wird mir ein Hochzeitsgeschenk machen, das der Mühe wert ist; und er muß das erste Baby aus der Taufe heben – er kann sich ja dabei vertreten lassen – und vielleicht eine ganze Reihe von Babys.

Bobby wird dadurch nicht im geringsten benachteiligt, denn der hat sich schon ganz selbständig einen Platz in Olivers Herzen erobert; der kleine Bastard wird nicht vergessen werden. Sicher nicht, und außerdem ist auch noch Rose da. Was für eine verteufelt gute Idee, daß er warten will, bis sie achtzehn ist, um sie dann zu heiraten! Wie ist er nur darauf gekommen? Mir wäre das gar nicht eingefallen, warum eigentlich nicht? Und er ist ganz der Bursche, der an so etwas festhält, falls ihn nicht vorher noch eine berechnende mütterliche Witwe wegschnappt. Doch durch die Sinne werden sie ihn nicht fangen. Eigentlich macht er sich nichts aus Frauen; es graust ihn vor ihrer klebrigen Zärtlichkeit; davor hat er Angst; das verabscheut er. Er ist ein Dichter ohne Worte; man muß ihn mit Hilfe seiner Phantasie fangen, mit Hilfe seiner edlen Gefühle; und was kann für die Einbildungskraft eines Dichters die prunkende, steife, fremdländische Marguerite oder eine auf Draht gezogene Rose aus New York bedeuten, verglichen mit unserem englischen Maßliebchen? Nichts! Sie sind dagegen nur wertloses Unkraut, und er wird sie nicht pflücken, oder besser: er wird sich nicht pflücken lassen. Beharrlichkeit ist doch was Nützliches, und Bedachtsamkeit ist was sehr Nettes. Man ist doch nie so glücklich, als wenn andere Leute gut sind.«


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