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10

Als er ins Theater kam, hatte die Vorstellung schon längst begonnen, und er stand einen Augenblick verlegen im Halbdunkel der Loge, denn er konnte niemanden richtig erkennen und wußte nicht, was er machen sollte. Aber die nächstsitzende der schattenhaften Gestalten, die in duftende Nebel gehüllt schien, streckte einen langen weißen Arm nach ihm aus, und eine freundliche, unbehandschuhte Hand zog ihn auf einen leeren Sessel nieder.

»Wir dürfen nicht reden«, sagte Ediths Stimme flüsternd. »Hier ist es fast wie in der Kirche. Wir wußten schon, daß du gut angekommen bist. Papa hat telephoniert. Dies ist meine Tante, Miß Stuyvesant, und das ist Maud.«

Oliver gewöhnte sich allmählich an das Zwielicht, fühlte sich wieder sicherer und begrüßte unauffällig auch die beiden andern Damen.

»Schade, daß Sie die Rheintöchter versäumt haben«, flüsterte Miß Stuyvesant. Bis zum Kinn in Schwarz gehüllt, sah sie wie ein weiblicher Pfarrer aus; ihr Teint war welk und ihr Lächeln bittersüß. Aber bei näherer Betrachtung merkte man, daß ihr zum Teil ergrautes Haar sehr kunstvoll frisiert war, daß ihre schwarze Korsage aus der feinsten Spitze bestand, daß das Unterkleid tief ausgeschnitten war, und daß um ihren Hals eine merkwürdige Kette, eigentlich ein Rosenkranz, aus Halbedelsteinen lag, mit einem kleinen emaillierten Kruzifix daran, das sie zierlich über dem Herzen befestigt hatte. Diese Dame trug zur Erklärung von Ediths eigentümlicher Frömmigkeit bei, aber welche Erklärung gab es für Miß Stuyvesant selbst? Oliver hatte eigentlich erwartet, daß religiöse Damen das Theater mißbilligten, genau wie Amulette, Fetische und jegliche Götzendienerei; hier aber fand er eine Form betonter Religiosität, die das Kreuz bis in den ersten Rang der Oper trug.

»Mach dir keine Sorge wegen der Rheintöchter«, sagte spöttisch eine dritte, ganz andere Stimme. »Sie werden nächste Woche in der ›Götterdämmerung‹ noch einmal herumschwimmen. Und vielleicht sind Rheintöchter eine alte Leier für dich. Hast du nicht eine als Erzieherin gehabt?«

»Woher weißt du denn das?«

»Ein kleiner Vogel: ›Hei! Siegfried‹!«

»Pst«, sagte Edith, »wir dürfen nicht sprechen. In der nächsten Loge sehen sie schon zu uns herüber.«

Diese Maud wirkte selbst ein wenig vogelhaft, schien naseweis und ruhelos zu sein. Sie hatte ein zurückweichendes Kinn, große, lebhafte, etwas vorstehende Augen und dichtes krausgebranntes Haar; (Mario nannte diese Frisur la beauté des laides). Wie anders als Rose Darnleys wirklich wundervolles Haar, das sich in breiten Wellen anschmiegte und nicht künstlich gekraust zu werden brauchte!

Oliver fürchtete, Maud würde ihm nicht gefallen.

Das alles spielte sich aber nur am Rande des Bildes ab. Der Brennpunkt war Edith. Ihre Stimme, ihre ganze Art, das überwältigende Gefühl ihrer Gegenwart und ihres Einflusses wirkten heute so stark auf ihn wie je. Bei ihr fühlte man sich frei und wohl. Ihre Verständigkeit, ihr Takt und ihre Sympathie erzeugten ein Gefühl der Sicherheit, eben jene Harmonie, die für Oliver Glück bedeutete. Edith erhob ihn in eine leichtere Welt, eine verfeinerte Welt, die alles Niedrige noch unbedingter ausschloß und doch einen weiteren Ausblick und größere Lebenskenntnis zuließ. Im Gegensatz zu den Damen in Great Falls war Edith vollkommen unaffektiert – oder sie affektierte wenigstens nichts weiter als vollkommenste Natürlichkeit. Sie besaß keine »Gesellschaftsallüren«. Jetzt, nachdem Oliver seine Tante Caroline kennengelernt hatte, sah er Ediths Eigenschaften in einem neuen Licht. Natürlichkeit, Freimut, Offenheit waren der Großmutter angeboren, und die Enkelin hatte durch ihre gute Erziehung gelernt, ebenso spontan wie die Großmutter zu sein oder wenigstens zu scheinen. Und doch bestand ein Unterschied. Tante Caroline würde, wenn ihr gerade danach zumute war, über jemanden fluchen können, ohne sich zu überlegen, ob das auch christlich oder damenhaft sei; aber Edith würde sofort fühlen, daß es keins von beidem war, und würde sich beherrschen. Und das stellte schließlich die höhere Form der Tugend dar, mochte es auch weniger amüsant sein.

Heute abend schien nun zwar Ediths Persönlichkeit die gleiche wie immer, doch ihr Aussehen war für Oliver etwas völlig Neues. Er hatte sie nie anders als in Straßenkleidung gesehen. Nun kam sie ihm wie eine Vision schlichtester Schönheit vor. Ohne im geringsten herausfordernd zu wirken, glich sie der schaumgeborenen Venus. Ein Abendmantel, ganz aus Schwanenpelz oder irgend einem weißen Fell oder Gefieder, lag zurückgeschlagen auf den Lehnen ihres Sitzes. Anmutig aufgerichtet saß sie die meiste Zeit fast reglos da, jede Linie ihrer Gestalt war so klar modelliert wie bei einer Statue und nur mit dem zartesten Lebensfeuer getönt. Ihr schweres braunes Haar legte sich à la Cléo de Mérode in klassischen Wellen um ihren zarten Kopf, ihr langer, schlanker Hals senkte sich zu einem Busen herab, von dem erstaunlich viel enthüllt war, dessen reine Form aber jeden Tadel entkräften mußte. Sie trug wenige große Juwelen, die in Form von Schnallen, Bändern oder Broschen ihr dünnes Gewand zusammenrafften, und hielt ein langgestieltes Perlmutteropernglas wie eine Lilie in der Hand. Zuweilen öffnete sie auch einen großen Fächer aus weißen Federn, nicht um sich zu fächeln – das tat man nun nicht mehr – sondern um sich von dem überfüllten Zuschauerraum abzuschließen und noch vollkommener in der Poesie und Musik des Dramas versinken zu können. Ihre Farben, ihre Formen und ihre Bewegungen schienen einem traumhaften, übermenschlichen Wesen anzugehören.

Es gab im ›Rheingold‹ keine Zwischenakte, erst am Ende der Vorstellung wurde es wieder hell, und nun konnten die Zuhörer sich rühren, einander bemerken und begrüßen. Miß Stuyvesant wirkte jetzt noch älter und entschieden verrunzelt; Maud sah eher hübscher aus als vorher, so lebendig und jugendlich; sie hatte eine klare, natürliche Gesichtsfarbe, schöne Zähne und ein offenes Lächeln; was aber Edith betraf, so verlor sie in dem hellen Licht durchaus nicht. Im Gegenteil: als Oliver ihr in den Abendmantel half, bestätigten sich ihre Reize auch in der Nähe und machten ihn beklommen. Aber warum sollte eine Frau nicht schön und anbetungswürdig sein? War das nicht ihr Amt? Besser also, man packte den Stier gleich bei den Hörnern.

»Ich habe nicht geahnt«, sagte er ruhig, »daß du so schön bist.«

Sie sah ihn einen Augenblick an, um zu erforschen, wie das gemeint sei. Nein, er war weder unverschämt, noch wollte er sie necken oder einen Flirt beginnen. Er hatte einfach eine Tatsache festgestellt. Olivers Bewunderung mochte tief gehen, aber sie war philosophisch. Es lag nichts Aggressives in ihr. Edith lächelte ihm freundlich zu, warf den Kopf ein klein wenig zurück und schritt vor ihm her ins Foyer.

Mit diesen ersten Eindrücken schien Oliver ziemlich leicht fertig zu werden. Er paßte sich schnell an Ediths Lebensumstände an. Opern, Abendkleider und kirchenstrenge Tanten konnten ohne weiteres akzeptiert werden; das alles gefiel ihm ganz gut. Es füllte wie ein fortwährendes harmloses Spiel die leeren Stellen des Lebens recht nett aus. Edith ihrerseits würde bald anfangen, sich seinem Geiste und seinen Ansichten anzupassen, bis sich ein vollkommenes Einverständnis zwischen ihnen hergestellt hätte. Er beschloß, morgen nachmittag eine lange Spazierfahrt mit ihr zu machen, bei der sie sich richtig aussprechen konnten.

Am nächsten Morgen, als er zu dem vermeintlichen Familienfrühstück herunterkam, entdeckte er, daß es diese abscheuliche Einrichtung hier im Hause nicht gab; aber da er einmal aufgestanden war, schlug das bewundernswürdige Stubenmädchen vor, er möge im Frühstückszimmer, das zugleich ein kleiner Wintergarten war, irgend etwas genießen. Dort, in strahlendem Sonnenschein, vertiefte er sich also vollkommen glücklich in seine Rühreier und seine Zeitung. Sollte er diesen schönen Morgen noch durch einen Spaziergang verschönen, vielleicht in die Richtung der Battery, und auf der Schiffahrtsagentur nachfragen, ob Jim Darnley in New York sei? Keine schlechte Idee; er holte sich gerade in der Halle Hut und Handschuhe – den Mantel ließ er verächtlich zurück – als Maud mit morgenfrischem Lächeln wie eine kleine Lawine die Treppe herunterflog.

»Was? Du bist schon so früh auf? Weißt du, ich komme immer noch nicht über das schreckliche Gefühl weg, daß ich eigentlich zur Schule müßte. Geht's dir auch so? Außerdem habe ich furchtbar viel zu tun. Ich führe den Haushalt und muß die Einkäufe für die ganze Familie machen. Großmama steht gar nicht auf, und Edith ist mit Höherem beschäftigt; wir müßten alle verhungern oder in Lumpen gehen, wenn meine arme Wenigkeit nicht wäre. – Aber du willst doch in New York nicht allein ausgehen? Du wirst dich verlaufen.«

»Ich ginge lieber mit dir, wenn du erlaubst. Oder nein, warte einen Augenblick! Ich werde meinen Wagen holen und dich hinfahren, wohin du willst. Das wird dir eine Menge Zeit sparen.« Er war froh über diese Gelegenheit, Maud eine kleine Fahrt anbieten zu können. Er konnte sie nicht bitten, später mit Edith und ihm auszufahren, das hätte die ganze Sache verdorben; auch war der Rücksitz für ein Mädchen nicht geeignet, man steckte dort wie in einem Loch und bekam allen Staub ab.

»Was! Mit einem Verehrer einkaufen gehen? Nein, da wärst du mir schrecklich im Wege. Und das Auto auch. Autos dürfen vor den Läden nicht stehen gelassen werden, und stell dir vor, wie aufregend es für mich wäre, wenn ich wüßte, du hättest an der nächsten Ecke geparkt und müßtest warten, warten und nichts als warten. Wir können aber etwas anderes tun. Wenn du einen großen Spaziergang machen willst, dann gehe ich zuerst in das Geschäft, zu dem wir den längsten Weg haben, und du kannst dich dort von mir trennen und dann durch den Park laufen oder ins Metropolitanmuseum gehen und deine Bildung vervollkommnen.«

Als sie in der Fifth Avenue waren und die Wintersonne ihnen angenehm den Rücken wärmte, fing Maud zu plaudern an, als ob sie ganz harmlos laut denke und alles unwiderstehlich amüsant fände:

»Was konnte nur Großmama gestern stundenlang mit dir zu reden haben? Sie war daran schuld, daß du die Rheintöchter versäumt hast, die dir nach Tante Miriams Meinung so gut gefallen müßten. Natürlich wollte Großmama mit dir über den Herzensbrecher sprechen! Er ist für uns alle das große Problem unseres Lebens geworden. Für dich nicht auch? Und Großmama wollte die Wahrheit aus dir herauskriegen für den Fall, daß er ihr doch nicht die ganze Geschichte erzählt hat. Du würdest doch deinen Freund nicht verraten, nicht wahr? Na, schau nicht so erschrocken! Es ist gar nicht möglich, daß du ihn verraten hast; er hat schon von selbst alles gebeichtet. Wir versuchen das vor Edith zu verheimlichen, um ihre Gefühle zu schonen. Sie denkt nämlich, er sei nur wegen seiner Mutter vom College weggegangen. Aber warum er jetzt, wo seine Mutter tot ist, nicht zurückkommt, das ist ein Geheimnis für Edith, doch weiß sie natürlich, daß alles auf der Welt ein Geheimnis ist, sobald wir wirklich in die Tiefen hinabsteigen. Wir müssen Glauben haben. Und sie fühlt, daß es für Mario vielleicht wirklich besser ist, wenn er jetzt eine Zeitlang unter der Leitung seines wundervollen früheren Lehrers, der lateinische Hymnen dichtet, in Oxford studiert. In Harvard ist man so gottlos!

Ich dagegen kenne den wirklichen Grund. Ich hörte zu, wie Mario Großmama am Morgen seiner Abreise alles erzählte, als er um halb acht zu ihr kam, um sich zu verabschieden. War das nicht rührend von ihm? Denke aber nicht, ich hätte am Schlüsselloch gehorcht. Nur liegt mein Zimmer zufällig gerade über dem von Großmama, und da ist ein Abzugsrohr oder so etwas, was mit dem Kamin zusammenhängt; und weil sie ein bißchen schlecht hört und man sehr deutlich mit ihr reden muß, verstehe ich jedes Wort, was gesprochen wird, auch wenn es mich nicht im mindesten interessiert. Aber an diesem Morgen war es so spannend wie ein Theaterstück:

Bridget kommt herein, zieht die Vorhänge auf und bringt ihr eine Tasse heiße Milch. ›Mädchen‹, schreit Großmama, ›schau doch auf die Uhr. Wie kannst du es wagen, mich eine halbe Stunde zu früh zu wecken und meinen Schönheitsschlaf zu stören?‹

›Verzeihen Sie, Madam, aber Mr. Mario ist unten. Er sagt, er reise heute morgen nach Europa ab und habe Ihnen etwas Wichtiges zu sagen.‹

›Bring mir meine Waschsachen‹, sagt darauf Großmama schnell, denn sie nimmt jeden Morgen im Bett eine Katzenwäsche vor und läßt sich ein frisches Häubchen und ein feines Negligé geben, und dann hält sie einen Morgenempfang ab und liest ihre Briefe, während das Feuer prasselt und die Sonne hereinscheint. So wollte sie auch jetzt Mario nicht hereinlassen, ehe alle diese Zeremonien erledigt waren und sie sich so nett wie möglich hergerichtet hatte. Sie war immer schrecklich kokett, die Großmama, und der Herzensbrecher ist in Wirklichkeit für sie nicht einfach ein hereingeschneiter Enkel oder ein krähendes Baby, sondern ein allerletzter, herrlicher Verehrer. Und er spielt seine Rolle wunderbar – das muß ich zugeben – und flirtet mit ihr genau so, wie er's mit jeder Frau tut, mag sie jung oder alt sein, außer mit mir, denn ich gehe nicht darauf ein.

Also, nun kommt Mario herein.

›Was ist denn los?‹

›Meine Mutter ... lies selbst‹, und das übrige konnte ich nicht gut hören, aber ich bin sicher, es gab Küsse und Umarmungen. Sehr unschicklich, nicht wahr? Aber sie haben eben beide solch warmes Herz. Und als sie ihren Gefühlen über dieses traurige Ereignis freien Lauf gelassen hatten, fing Mario mit der andern Geschichte an – die wahrscheinlich zur Hälfte geschwindelt war – warum und weshalb er nicht ins College zurückkönne. Andererseits auch wieder sehr aufrichtig, das überhaupt zur Sprache zu bringen, wo er es doch leicht hätte verschweigen können! Das muß ich zum Lobe des Herzensbrechers sagen: er segelt nicht unter falscher Flagge. Er wollte auch nicht den Namen des Mädchens oder sonst irgend was von ihr verraten, sondern betonte nur, die ganze Sache sei ein Zufall gewesen. Und als sie so weit waren, mußte er fort, sonst hätte er den Dampfer versäumt. Ich war gerade in der Halle, als er vorbei kam. Er ließ zwei Briefe zurück, einen für Papa und einen für Edith – für mich natürlich keinen – aber ich benahm mich wie ein Engel und sagte, es täte mir so leid, daß seine Mutter so krank sei, und ich hoffte, er werde sie schon auf dem Wege der Besserung antreffen und bald zu uns zurückkommen. Und ich hielt ihn auch gar nicht auf – denn ich mache mich nicht gern lästig – sondern winkte ihm von der Tür aus noch nach wie eine gute Schwester. Findest du nicht, daß ich einen liebenswürdigen, selbstlosen Charakter habe? Es fällt mir wirklich viel leichter, freundlich zu sein als boshaft.

Du hättest uns an jenem Abend beim Dinner sehen sollen! Papa und Edith hatten den ganzen Tag damit zu tun gehabt, ihre beiden Briefe zu verdauen, und waren heldenhaft ruhig. ›Das hätten wir von Mario nicht erwartet‹, bemerkte Papa mit Leichenbittermiene. ›Betrübliche Enttäuschung!‹ Onkel Harold habe eben nicht mit der nötigen Überlegung geheiratet. Man könne nie die Folgen ermessen, wenn man Ausländer in die Familie aufnähme. Jugendstreiche seien ja ganz schön und gut, aber ein junger Mann solle nichts tun, was seine Karriere ruinieren und einen Skandal hervorrufen könne. Zuletzt sagte Papa aber doch, er wolle weiterhin alles, was in seinen Kräften liege, für seinen Neffen tun und das Beste hoffen.

›Aber was kann der arme Junge dafür, daß seine Mutter im Sterben liegt?‹ protestierte Edith und wurde ganz rot. Ich glaube, sie hatte geweint. ›Soll er da gleichgültig bleiben? Möchtet ihr, daß er seine herrliche Mutter allein sterben läßt, dreitausend Meilen entfernt von ihrem einzigen Kind? Und selbst wenn er ein Jahr in Harvard verliert oder statt dessen nach Oxford geht – was schadet das? Es ist vielleicht gut für ihn. Denkt doch daran, wie jung er noch ist, erst zwanzig, und wie ihn das alles festigen und ernüchtern wird.‹

Papa machte ›Hm‹ und ›Ha‹, Großmama trank ein wenig mehr Claret als gewöhnlich, und ich sagte kein Wort. War das nicht heroisch von uns? Alles nur, um der lieben Edith die Schlechtigkeit der Welt fernzuhalten.«

Das war zuviel für Oliver. Er ging langsamer, blieb fast stehen und zwang seine gesprächige Kusine, sich nach ihm umzusehen. »Was meinst du damit? Weiß Edith denn nicht, daß Mario immer seine kleinen Affären hat? Natürlich muß sie das wissen. Und warum soll man aus diesem Vorfall, an dem er nur wenig Schuld hatte, ein Geheimnis machen, wenn sich daraus einzig erklärt, warum er Harvard für immer verläßt?«

»Edith weiß wohl, daß er früher vielleicht von schamlosen, berechnenden Frauen auf Abwege geführt worden ist, als er noch mit seiner Mutter in diesen Mittelmeerländern lebte, wo die Kirche so verweltlicht ist, und er noch zu jung war, um der Versuchung zu widerstehen. Das war aber, ehe er sie kannte, und das gehört nun alles der Vergangenheit an. Er hat zuletzt unter ihrem Einfluß gelebt. Sie ist seine Beatri-ce geworden – wir sprechen das jetzt nämlich alle italienisch aus. Sie hat ihn in höhere Sphären geführt; und es wäre zu entsetzlich, ihr anzudeuten, daß er, wenn sie nicht in seiner Nähe ist, am Ende immer noch zu seinen alten Streichen fähig wäre. Alle solche Gedanken verbannt sie als ihrer unwürdig, denn sie würden sich nicht mit ihrem Glauben an ihn und an sich selbst vereinbaren lassen. Bitte, keine kleinen Schlafzimmerepisoden auf dem Weg zum Paradies! Vielleicht ist er auch jetzt erst im Purgatorio; aber selbst dann wäre es ein Rückfall. Ich fürchte, das würde Edith in die schreckliche Versuchung führen zu verzweifeln und zu meinen, daß wir schon an jenem andern Ort sind, wo die Menschen › senza speme vivono in desio‹. – Mein Gott, was für eine Menge Italienisch wir jetzt immer reden!«

»Ja. Auch deine Großmutter wirft fortwährend mit Italienisch um sich.«

»Sie hat alles das aufgefrischt, was früher die jungen Damen in ihren Gesangstunden lernten, als sie Opernarien trällerten. Es ist rührend. Wir haben alle eine Wiedergeburt erlebt, besonders Edith, und sogar ich habe endlos viel Neues entdeckt, schon beim bloßen Zuschauen von den Kulissen aus; denn ich zähle bei der ganzen Vorstellung überhaupt nicht mit. Ich bin nur Statistin.«

»Edith kann doch nicht daran denken, ihn zu heiraten, nicht wahr? Denn ich fürchte, er –«

»Dazu ist sie zu vernünftig. Sie bildet sich gern ein, daß sie damit einen heldenmütigen Verzicht leistet; aber wie du ja auch gerade andeuten wolltest: die Trauben sind sauer. Nein, sie behält den Kopf oben. Das Wirken, zu dem man in der Welt bestimmt ist, bleibt schließlich doch lohnend. Und man muß seine Gesundheit und seine Kraft bewahren, damit man stets sein Bestes geben kann. Edith findet, daß ihr die Delsarteübungen sehr helfen. Sie legt sich zwanzig Minuten lang flach auf den Boden, dann kann sie mit einer Stunde weniger Schlaf auskommen, ohne sich müde zu fühlen oder müde auszusehen. Dadurch gewinnt sie am Tag zehn Minuten für ihre soziale Arbeit. Dampfbäder und Gesichtsmassage helfen auch; das ist gegen Nervosität soviel besser als Aspirin oder gar noch gefährlichere Mittel. Und dann muß man auch an seine Kleider denken, denn es macht andern Menschen Freude, wenn man sich gut anzieht, besonders wenn man schön ist. Edith empfindet es tief, was für eine große Verantwortung die Schönheit mit sich bringt. Ein reizloses Mädchen wie ich braucht sich nicht solche Mühe zu geben; an dem ist nicht viel zu verderben und nicht viel zu verbessern. Aber wenn man so schön ist wie Edith, so verpflichtet das einen, sein Licht nicht unter den Scheffel zu stellen.«

»Na, das tut sie ja auch nicht«, sagte Oliver lachend. »Wenigstens nicht am Abend.«

»Aha, hat der gute Junge vom Lande das auch schon gemerkt? Ich hoffe, wir chokieren dich nicht. Edith meint, daß es notwendig ist, in jeder Hinsicht den andern voranzugehen, selbst in Dingen, die etwa unwichtig erscheinen wie Mode und Eleganz. Es erhöht das Prestige einer streng kirchlichen Frau, wenn sie zugleich gesellschaftlich tonangebend ist; sonst könnten die Leute denken, sie wolle sich mit ihrer Frömmigkeit nur für ihre Mißerfolge schadlos halten. Wenn sie dagegen auch in der Welt glänzt, ist ihre Weltabgewandtheit über allen Verdacht erhaben. Außerdem erhöht persönliches Prestige den allgemeinen Einfluß; und nur der Einfluß, den man in den höheren Kreisen gewinnt, reicht in die Weite. Die Arbeit unter den Armen und den Sterbenden hört mit jeder Wunde, die man verbindet, wieder auf, aber die Arbeit unter den Reichen, Jungen und Mächtigen vervielfältigt sich und gelangt schließlich an mannigfachen andern Stellen wieder zu den Armen zurück. Wenn Edith dich zum Beispiel der Kirche zuführen könnte, wieviel besser wäre das für die ganze Welt, als wenn sie ein paar alte, geistesschwache Frauen bekehrte!«

»Wirklich, will sie mich bekehren? Ist sie so berechnend und jesuitisch?«

»Sie sagt, du hättest einen edlen Charakter und die größten Möglichkeiten. Aber natürlich betätigt sie sich auch unter den armen Leuten. Sie ist bei der Schwesternschaft der Heiligen Elisabeth, die die Hospitäler und Gefängnisse besucht, und dann bei der neuen Missionskirche in Staten Island; der junge Pfarrer dort wirkt so durchgeistigt und wird vielleicht noch einmal ein großes Kirchenlicht. Und trotz alledem! Sie weiß, es hat keinen Zweck, sich was vorzumachen: wir können unsere Sorgen übertäuben, aber es kann kein wahres Glück in dieser Welt geben.«

»Und du, Maud, glaubst du, daß es eins gibt? Wie sollte es aussehen? Wo, meinst du, willst du es finden?«

»Ich? Was kümmerst du dich um mich? Ich zähle gar nicht – aber jetzt muß ich in dieses Geschäft. Leb wohl bis zum Lunch. Denke daran: um halb zwei Uhr!«


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