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6

Das goldene Zeitalter Dumpys konnte leider nicht ewig währen. Olivers Beine wurden länger; er begann sich für Geschwindigkeit zu begeistern und bevorzugte sein Fahrrad; ein wenig auch aus Gründen der persönlichen Würde. Er kam sich jetzt viel zu groß für das niedrige, dicke, faule kleine Biest vor; es war, als ritte man auf einem Spielzeugelefanten mit Rädern. Früh war der Dämon des Selbstbewußtseins in Oliver gefahren und sollte nie mehr von ihm weichen. Dumpy war ein netter alter Kerl, aber deswegen durfte er seinen Herrn doch nicht lächerlich machen! Man war in erster Linie für sich selbst verantwortlich und mußte immer das wählen, was das beste für einen war, selbst auf die Gefahr hin, über alte Gefühle und alte Freunde hinauszuwachsen. So nahm Oliver unbewußt – wenn auch Fräulein wahrscheinlich einige Anspielungen in dieser Richtung gemacht hatte – die Lebensregeln Goethes vorweg und opferte sein Herz der Entwicklung seines Selbst. Dumpy seinerseits wurde im richtigen Augenblick lahm, fast als stimme er dem Opfer zu, und mußte schließlich erschossen werden; Mrs. Alden, die niemals vom Tode sprach, sagte Oliver nur, man habe es für Dumpy richtiger gefunden, nicht länger bei ihnen zu bleiben.

Trotz der Kälte und Entfremdung zwischen Peter Alden und seiner Frau, trotz seiner völligen Gleichgültigkeit und ihres tiefen Mißtrauens stimmten beide Gatten doch in vielen Dingen der Lebensführung überein, vor allem soweit sie Olivers Erziehung betrafen. Den Anfangsunterricht sollte der Knabe zu Hause erhalten, ähnlich wie ein junger Prinz, nur ohne Gefolge. So konnte er eine wirklich gute Grundlage für seine späteren Studien erwerben – was in einer modernen Schule unmöglich war – und sich Sprache und Manieren eines Gentleman aneignen. Aber später würde man ihn dann in eine Schule schicken müssen; nicht des Unterrichts wegen, sondern aus moralischen und gesellschaftlichen Gründen. Der gesellschaftliche Grund konnte keinesfalls Snobismus sein; denn es gab in Amerika ja keine älteren und nur wenige reichere Familien als die Aldens, und auch die Bumsteads gehörten ihrer eigenen Einschätzung nach zur führenden Schicht. Im Gegenteil, in gesellschaftlicher Hinsicht sollte der Schulbesuch gerade dazu dienen, das Bewußtsein und den Glanz dieser ungeheuren Überlegenheit über andere Leute möglichst weitgehend zu mildern. Oliver mußte unbedingt lernen, demokratisch zu leben und zu denken; er sollte die Eigenart des amerikanischen Lebens erfassen und sein Vaterland nicht etwa von der Warte seiner persönlichen Anschauungen herab betrachten wie ein hochmütiger Ausländer, sondern schon während seiner Knabenzeit, wo die Kritik sich noch nicht regte, möglichst eng mit ihm verwachsen. Er sollte sich in seiner Heimat zu Hause fühlen, sollte frühzeitig die Lebensweise und die Ideen seiner Generation aus eigenem Antrieb teilen; sonst würde er später nicht fähig sein, sie zu ihrem Wohle zu beeinflussen. Nach Ansicht seiner Mutter war Oliver überhaupt nur dazu da, im Leben der Nation mitzuwirken – natürlich an führender Stelle.

Sein Vater war sich über die Zwecke des Daseins weniger im klaren, weder in bezug auf Oliver, noch auf die Menschheit im ganzen; aber auch ihm erschien es unerläßlich, daß jeder, dessen Schicksal es war, in Amerika zu leben, sich die Schutzfarbe aneignete, mit deren Hilfe er überall durchkam und vor Schiffbruch oder auch nur vor wirklicher Not bewahrt blieb. Freilich hatte sich Peter Alden selber in seiner Heimat so gut wie in der übrigen Welt stets vogelfrei gefühlt, trotz seines Humors, mit dem er eine Menge Sünden, eigene wie fremde, schonend zudeckte, und trotz seiner ursprünglichen Zugehörigkeit zu einem bevorzugten Kreise Alteingesessener. Denn gerade dieser auserwählte einheimische Kreis war allzu eng und altmodisch gewesen, und indem er ihm entglitt, hatte er auch den Anschluß an die nationalen Ereignisse und nationalen Gefühle versäumt. Nicht daß er oder sein Land durch diese Trennung viel verloren hätten, dachte er in ironischer Bescheidenheit, doch da Oliver auch der Sohn seiner Mutter war, konnte man von ihm vielleicht mehr Rückgrat, größere Begabung, streitbareres Gerechtigkeitsgefühl und ein dickeres Fell erwarten als von seinem Vater.

Eines Tages würde Oliver also zur Schule geschickt werden; aber dieser Tag wurde zum Besten seiner Studien so lange wie möglich hinausgeschoben. Er war ein auffallend guter Schüler, wenn auch etwas zu gelassen, so, als hätte er alles früher schon einmal gehört; doch faßte er gleichmäßig auf und bewies ein vorzügliches Gedächtnis. Irma, ganz Liebe und Eifer, goß ohne Mühe ihren gesamten Wissensvorrat von deutscher und englischer Literatur, Geschichte und sogar antiker klassischer Dichtung in ihn hinein. Handelte es sich aber um Naturwissenschaften und Mathematik, so hatte es die kleine Dame recht schwer, einen Vorsprung vor ihrem Zögling zu behalten, und wenigstens zum Schein das Wissen zu beherrschen, das sie ihm beibringen sollte; und wirklich ließ man mit der Zeit jede Maske fallen: er nahm ganz systematisch die Führung an sich, während sie einfach zum Schrittmacher und zum freundlichen Kameraden seiner Entdeckungsreisen wurde.

Oliver fand bald heraus, daß, wie er es später auszudrücken pflegte, der Pfad des Erkennens eine Sonnen- und eine Schattenseite hatte. Das Studium der Naturwissenschaften lag auf der Sonnenseite; hier war alles Forschen herzerfreuend, und Leidenschaften und Vorurteile fanden keinen Raum. Das gleiche galt von der Mathematik, die ihm zwar nicht ganz so sonnig wie Geographie, Astronomie oder Naturgeschichte vorkam, aber doch unberührt blieb vom trüben Dunst menschlicher Subjektivität. Man wurde hier ehrlich von seinem Problem herausgefordert und konnte sich ehrlich auf seinem Wege durcharbeiten, bis man zu einer ehrlichen Lösung oder zu einer ehrlichen Schwierigkeit gelangte. Nur diese außermenschlichen Probleme waren dem menschlichen Geiste angemessen. Sie allein kamen ihm klar und freundlich entgegen und lohnten die Mühe des Forschenden.

Unglücklicherweise aber mußte man sich auch mit den Gegenständen befassen, die es unmittelbar mit dem Menschen zu tun hatten; und hier – in Geschichte, Sprachen, Literatur, ganz zu schweigen von der Religion – schien alles willkürlich und verkehrt. Gewisse theatralisch veranlagte Leute mochten vielleicht Gefallen daran finden, zum Vergnügen Geschichten zu erzählen, es paßte eben zu ihnen; er, Oliver, hatte niemals viel übrig gehabt für Erzählungen und Dichtungen und Sachen, die angeblich humoristisch waren. Er hatte sich weniger als andere Kinder gelangweilt, wenn er allein war, und sich weniger als andere gefreut, wenn er unterhalten wurde. Aber Geschichten erzählen und sie als Wahrheit ausgeben – das war unerhörter Frevel! Die Darstellungen und Theorien, die menschlicher Phantasie und menschlichem Denken entstammten, gaben ihm keine Visionen, keine Anregung der Einbildungskraft, worin doch in Wirklichkeit ihr Wert für den liegt, der sich mit ihnen befaßt; sie sagten ihm nichts, weil sie nicht Wirklichkeit, sondern Erfindung waren. Aber noch weniger fiel es ihm ein, sie etwa irrtümlich für Wahrheit zu halten. Im Gegenteil, er haßte sie instinktiv dafür, daß sie in das Gebiet der Wahrheit einbrachen; sie waren Fälschungen, waren bösartig, gerade weil sie sich eines mehr oder weniger realen Gegenstandes bemächtigten und die Dreistigkeit hatten, ihn zu karikieren, zu verkleinern und mit dem Narrengewand einer subjektiven Auffassung anzuputzen. Doch war auch dieser Gegenstand an und für sich schon eine traurige Angelegenheit: ein Durcheinander von barbarischen und unwissenden Völkern, die um ein elendes Dasein kämpften und sich gegenseitig dies Dasein doppelt zur Qual machten. Die menschliche Welt war dem menschlichen Geiste so schrecklich zu ertragen, daß man, um ihr ein halbwegs anständiges und interessantes Ansehen zu geben, die eine Hälfte aller Tatsachen völlig ignorieren, die andere Hälfte aber mit einer falschen Fassade versehen mußte. Daher die ganze Schlangenbrut der erdichteten Geschichten! Die schmeichlerische Gefälligkeit, mit der sie Poesie und Eleganz verschwendeten, konnte sie in Olivers Augen nicht entsühnen; sie blieben bloßer Firlefanz, und alle derartigen Schönfärbereien gehörten der Schattenseite des Wissens an.

Diese puritanische Verachtung menschlicher Schwäche und menschlichen Genies arbeitete und wirkte schon frühzeitig in dem Knaben Oliver. Sie war die Ursache, daß er seine Sprach- und Geschichtsstudien oberflächlich und mit wachsender innerer Teilnahmlosigkeit betrieb. Er merkte sich mit Leichtigkeit die Tatsachen in den Büchern, die Bedeutungen der Vokabeln und die Regeln der Grammatik; aber seine Art, diese Gegenstände zu meistern, hatte etwas Hämisches, so, als nähme er es übel, daß er dergleichen überhaupt seinem Gedächtnis einprägen mußte.

Zuflucht vor dieser Absurdität suchte und fand er nicht nur in jenen andern, reineren Studien, die der Sonnenseite der Welt angehörten, sondern vor allem in körperlichen Übungen, die überhaupt während seines ganzen kurzen Lebens sein bevorzugtes Allheilmittel und seinen Rettungsanker bilden sollten. Ein tüchtiger Körper machte noch keinen tüchtigen Geist, er konnte sogar eine gewisse geistige Schläfrigkeit begünstigen; doch würde er den Geist wenigstens gesund erhalten. In einer Welt, wo so wenig sicher war, konnte es ein Trost sein, sich seiner Nerven, seiner Muskeln, seiner Verdauung sicher zu fühlen. Zudem brachte die Bewegung im Freien Oliver in eine echte Gemeinschaft mit der Natur, wie er sie in der Religion oder in der Dichtung niemals fand; sie gab ihm das Gefühl vertrauensvoller Verbundenheit, das der Mensch Dingen entgegenbringt, die größer sind als er selbst; das Gefühl einer Urweisheit, die nicht Gedanke war, sondern Anpassung, Einklang und Wucht. Jene behutsam tastende Kraft, deren Walten die Bäume, die Flüsse und die Wiesen hervorgebracht hatte, die Wolken zusammenballte und auflöste, schien dann Olivers innerstes Wesen in ihren Maschen festzuhalten und ihn für einen Augenblick in das heiterste, vollkommenste und doch abhängigste aller Geschöpfe zu verwandeln. Und er konnte diese Abhängigkeit und dieses flüchtige Kraftgefühl freudig hinnehmen, da er gleichzeitig das ungeheuere Versprechen tausend anderer Vollkommenheiten fühlte, die im Mutterleibe der Natur schlummerten, dort, wohin das starke Leben dieses Augenblicks sogleich wieder zurückkehren mußte.

Dennoch brachte diese Entrücktheit, diese Privatreligion, der die Worte fehlten, bald aus sich selbst bestimmte Konventionen hervor, die nun ihrerseits einen Zwang auf ihn ausübten. Es kam zum Beispiel jetzt nicht mehr in Betracht, daß er einen Tag ohne zwei Stunden kräftiger Bewegung im Freien verbrachte. Das wäre so unschicklich und schmachvoll gewesen wie den ganzen Morgen aus Faulheit im Bett liegen zu bleiben, oder sich nicht zu waschen oder unsaubere Wäsche zu tragen. Es hätte körperliche Ruhelosigkeit und Mißbehagen innerhalb der vier Wände des Hauses und im eigenen Innern widerwärtigste Reizbarkeit nach sich gezogen. Indessen war es bei dem unsicheren, veränderlichen Wetter Neu-Englands nur gelegentlich möglich, mit Fräulein Tennis zu spielen, und in der kargen Vorstadtlandschaft nur selten verlockend, aus gesundheitlichen Gründen wie ein alter Mann stundenlang spazierenzugehen. Auch war die Kälte oft nicht gleichmäßig genug zum Schlittschuhlaufen oder Rodeln. Allerdings gab es einen sandigen Golfplatz, aber der war zu weit weg und ohne Reiz; und das Land ringsum war zu hügelig, als daß man in ungehinderter Freiheit darin herumradeln konnte.

»Wäre es da nicht am richtigsten, Dumpy einen Nachfolger zu geben?«, dachte Dr. Alden, als ihm alle diese Schwierigkeiten durch die vereinte Beredsamkeit seiner Familienmitglieder unterbreitet wurden. Wollte nicht Mr. Charley Deboyse, mit dem er manchmal im Somerset Klub einen Whisky trank und sich die neuesten Geschichten erzählte, seine Poloponys verkaufen, von denen einige, gerade wie ihr Herr, nicht mehr scharf und flink genug für einen so schneidigen Sport waren? und wäre nicht eines dieser Ponys, ein gut geschultes, leichtfüßiges, doch nicht allzu feuriges Tier für Oliver besonders gut geeignet?

»Polo!« rief Mrs. Alden aus. »O!« und ihr Ton zeugte von äußerster Seelenqual und Mißbilligung. Polo war ein extravagantes, gefährliches, ausländisches Spiel für hoffnungslos faule, reiche Leute, die sich bemühten, schick zu sein. Außerdem trank Mr. Charley Deboyse, und sie wünschte nicht, daß Oliver ein Pferd besäße, das ihm gehört hatte oder ehemals ein Polopony gewesen war.

Gegen den Reitsport an sich hatte sie jedoch nichts einzuwenden. Und schließlich sollte Oliver ja weder selbst Polo spielen, noch trinken oder Mr. Charley Deboyse überhaupt nur je zu Gesicht bekommen. So erklärte sie sich, als der erste Schreck vorüber war, großmütig bereit, ihre Einwände und Befürchtungen fahren zu lassen; nur machte sie zur Bedingung, daß Polo in Verbindung mit dem neuen Pony niemals erwähnt werden dürfe, und daß es nicht ausschließlich Olivers Pony sein solle, sondern einfach ein Pferd mehr im Stall, das man sowohl reiten als auch vor einen leichten Wagen spannen konnte. Ein Ponygefährt, das sah sie ein, würde eine wirkliche Annehmlichkeit bedeuten. Es würde Patrick entlasten und ihm mehr Zeit für nützliche Arbeit lassen; denn bei gutem Wetter könnte sie damit selbst zur Stadt fahren, statt das schwere Coupé oder die anspruchsvolle Victoriachaise zu benutzen, die beide einen Kutscher brauchten. Haßte Mrs. Alden schon überhaupt die Anwesenheit von Personal, so bereitete ihr die Gattung der Kutscher doch stets noch besondere Pein; und am meisten litt sie bei dem Gedanken an die Sorte der schmutzigen, faulen, rauchenden, bummelnden, bestimmt liederlich und wüst veranlagten, sozialistischen Droschkenkutscher, die ihr Leben mit müßigem Warten an den Droschkenständen der Städte vergeudeten. Was konnte man von der Moral dieser Männer erwarten, deren Geschäft darin bestand, die meiste Zeit nichts zu tun!

Es würde viel netter sein, ohne Patrick zum Einkäufen oder auf die Post zu fahren; und wenn sie Irma mitnahm, brauchte sie nicht einmal an den Läden auszusteigen; sie würde die gesunde Morgenluft atmen und gleichzeitig so vieles erledigen, was in einem großen Haushalt wie dem ihren erforderlich war. Diese Morgenfahrt zur Stadt, zu der es nicht einmal täglich kam, würde einem gut gefütterten Pferd, das an harte Arbeit gewöhnt war, nicht annähernd genug Bewegung machen (sie gab damit zu, daß, rein vom Standpunkt der Ponys aus betrachtet, Polo möglicherweise nicht so übel sei). Oliver könnte daher das Pony nachmittags sehr gut noch zu einem kurzen Ritt benutzen. Doch war es von größter Wichtigkeit, daß der Junge sich nicht angewöhnte, zu meinen, alles auf der Welt sei ausschließlich für ihn und sein Vergnügen da. Egoismus und Genußsucht waren eine so große Gefahr für junge Leute, besonders für ein einziges Kind, und noch dazu bei dem Beispiel eines Vaters, der so abseits vom Leben stand und dabei doch keineswegs so leidend war, daß er wirklich niemals etwas für andere Menschen hätte tun können, wenn er gewollt hätte. Sie hingegen hatte in ihrer Jugend die Last einer großen Verantwortung getragen, hatte in jeder Weise für ihren Vater und ihre jüngeren Brüder sorgen müssen und war heute dem Schicksal dankbar dafür; denn sie hätte sonst vielleicht nicht gelernt, so völlig sozial und selbstlos die reichste Befriedigung ihres Lebens im Dienste an andern zu finden. Wenn man also Oliver jetzt Gelegenheit zum Reiten gab, so mußte man ihm dabei die Erkenntnis vermitteln, daß dies nicht zum bloßen Vergnügen oder aus Standesrücksichten geschähe, sondern einzig um seiner Gesundheit willen, damit er später fähig wäre, sein Lebenswerk vorbildlich zu vollbringen und in der Welt einen starken Einfluß zum Guten auszuüben.

Der junge Oliver nahm das neue Pony – es war ein schönes Tier – mit einer kurzen Aufwallung von Freude entgegen, aber schweigend, als bedeute es einen gewissen Zuwachs an Würde und Verantwortlichkeit. Es lag ihm ob, zu beweisen, daß er nur das empfing, was er auch zu besitzen verdiente. Alles forderte ihn immerfort heraus, gleichsam auf höheren und höheren Stelzen einherzuschreiten, und zwang ihn, eine heikle und im Grunde nutzlose Aufgabe zum Erfolg zu führen. Natürlich gewährte es Befriedigung, wenn man seine Sache gut machte, und er fürchtete sich auch gar nicht davor; er wußte, er konnte es leisten. Er war stolz auf das Pony und auf sich selbst, da er es so leicht zu reiten verstand, ja, er war beinahe dankbar; doch blieb diese Regung unbestimmbar und galt weniger seinem Vater, als vielmehr dem Schicksal oder Gott, und gleichzeitig fühlte er eine nicht unangenehme Ernüchterung, die ihn weiser machte. Der Gedanke, privilegiert zu sein, hatte etwas leicht Melancholisches. Man mußte die Vorrechte annehmen, denn sie brachten die Möglichkeit größerer Leistungen mit sich; Glück aber und reine Freude hätten sich eher eingestellt, wenn man keine Vorrechte gehabt und sich in der unbekannten Menge verloren hätte.

Wenn eine Schar Vögel in großem, schwingendem Wanderzuge dahinflog, hatten nur die Vögel in der Mitte ein unbekümmertes Los; der Anführer war nicht beneidenswert. Er mußte damit rechnen, daß man ihn fragte, warum er diese Richtung wähle oder jene Wendung mache, und warum er denn die übrigen dazu berede und antreibe, ihm wie hypnotisiert zu folgen. Was für eine Antwort würde der Vogel finden? Führer mußten sein, oder es hätte keine Größe im Leben gegeben; aber es lag etwas Tragisches, etwas Verhängnisvolles darin, zum Führer auserwählt zu sein. Konnte man von dem anführenden Vogel sagen, er lebe für andere? Zwang er nicht vielmehr sich selbst ihnen auf und belud dabei sein freies Leben mit einer schweren Verantwortung? War es der Fehler der andern, wenn sie ihn zum Führer nahmen und ihm blind folgten, wohin immer ihn seine ungestüme Bereitschaft trieb? Und wenn er sie in die Irre führte – wandelte sich dann nicht in Schuld, was ursprünglich Unschuld und Tapferkeit gewesen war?

Jene andern nun, um derentwillen scheinbar die seltsame Last des Daseins getragen werden mußte, waren für Oliver zunächst seine Mutter, das Fräulein und die gelegentlich erscheinende Miß Letitia Lamb oder sein Vater, der meist weit fort war. Alle diese ausgezeichneten, völlig erwachsenen Menschen galten als seine Lehrer, Beschützer und offiziellen Gönner; aber keiner von ihnen brauchte seinen Beistand; und seine Studien oder körperlichen Übungen dienten keineswegs zu ihrem Besten. Sie schienen im Gegenteil alle zu glauben, daß sie ihrerseits ihn beständig und selbstlos förderten und für sein Wohl lebten. Eine Rückzahlung all dieser Fürsorge wurde erst später von ihm erwartet, und zwar an die Welt im allgemeinen.

Die Andern, das bedeutete dann also den ganzen brodelnden Kessel voll zänkischer menschlicher Wesen und ihrer künftigen Nachkommenschaft. Wie sollte er, der arme Oliver, herausfinden, womit er diesen ungeborenen Massen helfen konnte? Sollte er sich bei der Lösung der Frage, was den andern dienlich sei, auf das prophetische Verständnis seiner Mutter und des unitarischen Geistlichen verlassen? Und würde alles das, was diese beiden als segensreich für ihn erklärten, den andern mehr Spaß machen als ihm? Er fühlte es bis ins innerste Mark seines jungen, im Wachstum begriffenen Körpers, daß man ihn überbürdete, daß etwas entsetzlich Unnötiges und Unrechtes in den Einrichtungen dieser Welt lag! Es wurde ihm oft gesagt, er sei besonders begünstigt vom Geschick und daher doppelt verantwortlich. Gut, wie sollte er diese Verantwortung abtragen? Sollte er etwa die andern auf seine eigene Ebene emporzuheben suchen, auf daß sie ebenso verantwortlich und ebenso unglücklich würden wie er?

Alle Predigten über dieses Thema, hinter denen er die tiefe Hilflosigkeit der Prediger, ihre satte Ahnungslosigkeit und ihre verwegene Aufschneiderei wohl entdeckte, drangen an sein Ohr, so wie der Regen an die Fensterscheiben schlägt. Mit dem Wetter durfte man nicht streiten; man mußte vergnügt bleiben und trotzdem ausgehen und sich Bewegung machen; man mußte stark werden, duldsam, unbezwingbar im eigenen Innern, und Winde und Menschen stürmen lassen.

Seine wahren Berater sprachen ohne Worte zu ihm. Es waren die Wälder, durch die er einsam dahinritt, indem er es seinem Pferd überließ, den Pfad durch das wirre, buschige Unterholz zu finden, und nur versuchte, den Zweigen und hängenden Ästen auszuweichen oder sie mit der Reitpeitsche beiseitezuschieben. Nicht einer der Bäume hier lebte für die andern; kein einziges krabbelndes Lebewesen zog den ihm eingeborenen Trieb, es sich im Leben möglichst wohl sein zu lassen, in Frage. Bestand nicht das einzige Gute, das man in dieser Welt tun konnte, einfach darin, daß man sich selbst so makellos, kraftvoll und vollkommen wie möglich erhielt und auch die andern auf ihre eigene Art leben ließ? Er wollte sie nicht zertreten, er wollte sie nicht quälen, er wollte ihnen, wenn ihre Not offenbar war, sogar gern aus der Schlinge helfen, und er würde mit ihnen gut Freund sein können, ohne seine eigene Reinheit zu verletzen. Er war zu jeder Hilfe bereit, aber jenes ganze blind schwärmende Gewimmel des Daseins unterstützen oder antreiben, das konnte er nicht. War man einmal im Rennen, so mußte man seine Chancen ausnützen, und keiner konnte schneller laufen, als die eigenen Beine es erlaubten. Auch konnte nicht jeder gewinnen. Er würde gewinnen, denn er konnte es eben; doch es war seltsam, wie wenig Freude er im Vorgeschmack des Sieges fand. Im Walde waren sogar die höchsten Bäume, die sich siegreich zum Licht und zur Luft emporgekämpft hatten, verkrümmt und verbogen, ihre mageren Kronen waren kahl und halb verdorrt. Sollte es ihm auch so ergehen? Nein, er konnte aus dem Wald heraus ins Freie gelangen. Und wie er nun wirklich wieder auf die Landstraße zurückkehrte, klopfte er seinem Pony den starken, gebogenen Hals oder die glatten Flanken, und der beschwingte Schritt und die bebenden Nüstern des Tieres gaben ihm verständnisvolle Antwort auf seine Liebkosungen. Was für freundliche und mannigfache Bundesgenossen konnte doch ein wahrhaft klarer und beherrschender Wille in der Welt finden und gegen die unvermeidlichen Feinde ins Feld führen! Sich diesen Feinden ergeben oder einen Kompromiß mit ihnen schließen, hieß nicht nur die eigene Seele beflecken, sondern auch neue, tiefere Konflikte schaffen und dem Zerfall entgegeneilen. Was gingen einen die Feinde an! Reiter und Pferd in ihrer natürlichen, vertrauten Verbundenheit konnten vergessen, wer Herr war, wer Diener, konnten die Feinde verachten und den Tod verachten.

Noch andere Freuden, noch andere Arten wortloser Gemeinschaft gab es in dieser Jugend. Er hatte reiten gelernt, nun mußte er auch schwimmen und rudern lernen. Und wer eignete sich besser, ihn in diesen sommerlichen Sport einzuführen, als Mr. Denis Murphy, der das Bootshaus am Mühlenteich befaß. Murphys große Tage waren zwar vorüber, aber er hatte sie immerhin einmal gehabt, und für die Eingeweihten blieb er eine hervorragende Persönlichkeit. Vor fünfzehn Jahren war er Weltmeister im Rudern gewesen. Mag ein solcher Ruhm seinem Träger auch nur einen bescheidenen Platz in der menschlichen Gesellschaft erobern – er verliert doch niemals völlig seinen Nachglanz in der Phantasie der zeitgenössischen Sportsleute, und so war es auch Peter Alden nicht entgangen, daß der gealterte Held in der Nachbarschaft lebte. Kam Peter im Boot von seiner Jacht herein, so legte er an Murphys Landungsplatz an; seit Jahren hatte er mit dem Bootsmann Prognosen über das Wetter und die Wahlaussichten ausgetauscht; und manche kleine Rechnung war bezahlt und manche Zigarre überreicht worden, um Mr. Murphys Geneigtheit im voraus zu gewinnen. Als der Doktor schließlich in Vorschlag brachte, Mr. Murphy möge den jungen Oliver mit hinaus aufs Wasser nehmen und ihm ein paar Winke über die Kunst des Ruderns erteilen, hätte sich der alte Bootsmann durch keine andere noch so wichtige Arbeit von diesem Unterricht abhalten lassen. Oliver hatte im Bootshaus bald seinen festen Platz für Boots- und Schwimmsachen und endlich auch sein eigenes leichtes Ruderboot.

Viele Sommernachmittage verbrachte der Junge unter Mr. Murphys Leitung, denn es handelte sich allmählich nicht mehr darum, daß er einfach rudern und schwimmen lernte, sondern darum, daß er diese Künste fachmännisch beherrschte; und sogar ein wenig Boxen war mit einbegriffen. Mr. Murphy war stolz auf seinen jungen Schüler, und Oliver bemühte sich nicht nur eifrig, seine Sache gut zu machen – was für ihn selbstverständlich war – sondern er fühlte darüber hinaus zu dem einfachen Mann ein Zutrauen, wie es ihm Menschen seiner eigenen Klasse nicht einflößten. Körperliche Geschicklichkeit war etwas Eindeutiges; die Beweise dafür waren greifbar, und so waren auch die Mächte, mit denen man zu rechnen hatte, sichtbar und bestimmbar; selbst die eigene Überheblichkeit oder Ängstlichkeit wurde durch den Erfolg von selbst berichtigt. Die Einordnung erfolgte hier nur nach der Leistung, nicht nach eigenen oder fremden Meinungen. Das war eine Erlösung! Zu Hause drehte sich alles darum, daß man um Meinungen stritt und bitter die Überlegenheit seiner eigenen Meinung fühlte. Mr. Murphy aber schien gar keine Meinungen zu haben. Wenn man ihn fragte, was er über dies oder jenes denke, so grinste er einfach und ging zu etwas anderem über. Doch konnte er einem sagen, wie etwas gemacht oder ausgeführt wurde, und warum dies oder jenes vorkam – das heißt natürlich: innerhalb seines Bootsmannsbereichs. Er war der erste Meister, dem Oliver begegnete.

Oft machten der Mann und der Knabe zusammen lange Fahrten. Man war nicht darauf angewiesen, vom Landungssteg aus zu baden, man konnte rudernd oder sogar segelnd hinaufgelangen bis zum nördlichen Ende des Mühlenteiches, der großen künstlichen Verbreiterung des Flusses oberhalb von Great Falls, die durch die Mühlendämme entstanden war; und dort, in der waldigen Abgeschiedenheit und Stille einer geschützten Bucht, hatte die Schwimmstunde besonderen Reiz. Mr. Murphy war in Irland geboren, wo er auch seine Jugend verbracht hatte; er fühlte, daß sein Schüler ein junger Gentleman war, nannte ihn manchmal sogar ›Sir‹ und unterließ instinktiv alles unwichtige Geschwätz in Gegenwart des Knaben. Vielleicht empfand auch er etwas von dem Walten höherer Mächte an diesem Ort, der in seiner grünen, gläsernen Kühle ein Heiligtum der Jugend zu sein schien.

Oliver war allmählich zu einem hübschen Jungen herangewachsen, mit schlankem Körper und empfindsamem Geist, still, aufmerksam und tapfer. Er war sorgsam bedacht, so zu schwimmen und zu rudern, wie es Mr. Murphys fachmännischen Anweisungen entsprach, auch wenn die Ruder manchmal schwer wurden und das Wasser ihm kalt vorkam. Doch die so achtsam erlernten Künste schienen irgendwie traurige Künste zu sein; sie rührten nicht an die verhüllten, dumpfen Kräfte seines eigentlichen Wesens, die unbewegt ruhten, als warteten sie auf etwas ganz anderes, das sie aufwirbeln sollte. Des Knaben Schweigsamkeit, doppelt ergreifend bei seinem pflichtgemäßen Eifer und seiner offenkundigen Leistung, rief auch in dem guten Manne Schweigen hervor, und es war, als hätte Chiron, der Kentaur, in Gegenwart des jungen Achill sein Schnauben unterdrückt. Nachher sagte Denis Murphy dann wohl zu seiner Frau: »Der Junge von Dr. Alden ist so ein Heimlicher, der wird nicht alt werden. Solche sind nicht für diese Welt geschaffen. Ein Jammer, daß er wie ein Heide aufwächst.«


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