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4

Als sie im Pfarrhaus ankamen, war noch Licht im Studierzimmer, und der Pfarrer selbst öffnete ihnen die Tür. »Ihr kommt spät. Aber ihr braucht euch deswegen nicht zu entschuldigen. Ich gehe sowieso noch nicht zu Bett. Ihr habt wohl im Mondschein philosophiert. Junge Freunde sind wie Liebespaare, nur daß sie keine einseitigen, ermüdenden Gespräche über die Liebe führen, sondern über alle Dinge zwischen Himmel und Erde reden, als wäre die Welt gerade entdeckt und warte nur darauf, erobert zu werden. Ihr habt ganz recht! Ein junger Hund muß sich um und um drehen und den Grasfleck, auf den er sich niederlegen will, erst richtig niedertreten. Und wie sehr hängt später der gealterte Geist an seinem bequemen, gewohnten Hundekörbchen! Gute Nacht, schlaft nur morgen früh, solange ihr wollt. Wir haben keine bestimmte Frühstücksstunde.«

Jim ging plaudernd voran, die Treppe hinauf und in sein Zimmer, in der Annahme, daß Oliver mitkäme. Der aber blieb an der Tür stehen und sagte ihm Gute Nacht.

»Bleib doch bei mir, solange ich mich ausziehe, dann kannst du das Licht ausmachen, wenn ich fertig bin. Ich kann's von dem verflixten Bett aus nicht erreichen.«

»Heute nicht, ich gehe gleich schlafen.«

»Hast du dich geärgert? Bist du mir böse?«

»Nein. Nur müde. Aber bitte, nimm mich nie wieder mit, wenn du dich mit einer Frau triffst.«

Als Jim allein war, pfiff er leise vor sich hin – mit Bedacht, nicht so laut, daß man ihn jenseits der dünnen Wand hören konnte. Seine Fäuste waren in der Selbstverteidigung schlagfertig genug, aber wenn er innerlich angegriffen wurde, war es seine Art zurückzuweichen, listig und versöhnlich zu sein. Da er sehr empfänglich für Schmeichelei und auf die Gunst anderer angewiesen war, erregte er äußerst ungern Anstoß. »Was war jetzt eigentlich verkehrt?« fragte er sich kritisch, als er sein Licht selbst ausgedreht hatte und ins Bett schlüpfte. »Wir sind nicht zu einer Frau, sondern zum Dinner nach Sandford gegangen. Das Dinner braucht nun einmal eine Köchin, die es kocht, die Köchin braucht eine Herrin, die Herrin braucht Liebe, ein junger Mann braucht Vergnügen. Das ist eine Verknüpfung natürlicher Ursachen und Wirkungen und keine Machenschaft von mir. Wahrscheinlich ist Minnie schuld, weil sie ihn unter ihren langen Wimpern hervor so angeäugt hat. Kein Mann ist ihr zu jung und kein Mann ist ihr zu alt. Sie schätzt jeden mit einem einzigen Blick ab. Nein, mein gutes Mädel, bei dem hat's nun mal keinen Zweck, zu äugeln und zu angeln. Der ist wie eine glatte, junge Forelle, den wirst du niemals fangen!

Dann haben wir ihn wohl auch allzu lange warten lassen; aber was konnte ich machen, wenn Minnie in dieser Stimmung war? Ich glaube, er roch den Braten und fühlte sich übergangen; ja, bei Gott, er war neidisch. Na, mein Junge, da wacht der alte Adam also endlich in dir auf und erhebt ein mordsmäßiges Geheul? Meinen Glückwunsch! Aber zum Teufel, du sollst deinen Weg zum Tempel der Venus allein finden! Ich bin kein Kuppler oder Kammerherr, der für Seine Königliche Hoheit geheime Zusammenkünfte arrangiert. Ich brauche keine Warnung, die Finger davon zu lassen. So ein tugendhafter Bursche macht sich zu Hause oder beim Singen in der Kirche ganz reizend, aber ich will verdammt sein, wenn ich zu einem richtigen Spaß einen Kameraden brauchen kann, der ein Feigling ist. Ich kenne die Sorte. So'n Stümper will nichts davon wissen, daß man paarweise jagt; ich fürchte, er wird das Wild nie erwischen. So einer schnüffelt jahrelang um ein Stück alten Käse herum und beißt niemals an, bis er schließlich, wenn er siebenunddreißig ist, aus Zufall doch mal danach schnappt; dann schlägt die Falle zu und bricht ihm den Hals. So ist es ja auch dem Doktor ergangen, und der Sohn wird genau wie der Vater – nur noch schlimmer, denn er ist schon von Geburt an müde. Was könnte der Doktor alles für mich tun, wenn er nicht verheiratet wäre ...!«

Jim gähnte, reckte und streckte sich schwelgerisch und ließ seine undeutlichen Visionen von allem, was nicht hatte sein sollen, in angenehme Träume übergehen.

Auf der andern Seite der Wand gingen quälendere Betrachtungen in weniger holde Träume über. Oliver war froh, daß die beiden Zimmer keine Verbindungstür hatten; er brauchte jetzt ungestörtes Alleinsein. Er zog sich im Mondschein aus; und angesichts der ungewohnten, unwirklichen Formen, die alle Dinge in dieser Beleuchtung annahmen, als seien sie Gegenstände auf einem kubistischen Bild, fiel der entsetzliche Alpdruck der Tatsachen von ihm ab, sodaß er sich gleichsam aus der Entfernung über sie lustig machen konnte. Warum eigentlich schmerzte ihn das Herz bei diesem sinnlosen Zusammentreffen von Ereignissen, da doch sein Körper gesund war und nichts seine Zukunft bedrohte? Hatte er nicht stets gefühlt, daß die menschliche Seite des Universums die böse Seite war, und daß nur die große außermenschliche Welt – Sterne, Meer und Wälder – die Harmonie besaß, die sich die Seele wünschte? Ach, könnte er nur lernen, alles Menschliche von einem außermenschlichen Standpunkt aus zu überschauen; dann würde es auch vielleicht begreiflich und harmlos werden! Das Mondlicht war ein gutes, ganz unirdisches Medium zur Betrachtung der Erde.

Als er sich halb entkleidet aus seinem kleinen Dachfenster beugte – wie alt, wackelig und winzig waren die kleinen bleigefaßten Scheiben! – konnte er sehen, wie die großen Massen der Bäume mit ihren schwarzen Schatten den halben Kirchturm bedeckten, diesen breiten, niedrigen zinnengekrönten Turm, der schon seit Jahrhunderten auf dem Hügel am Fluß stand, starr inmitten der idyllischen Weichheit ringsum, kriegerisch und entschlossen inmitten der freundlichen Nichtigkeit des Friedens. Er erinnerte sich des alten Verses, aus dem Browning ein Gedicht gemacht hatte: »Junker Roland kam zum dunklen Turm.« ... War da nicht noch ein anderer Ritter namens Oliver vorgekommen? Was war aus dem geworden? War er nicht jung gestorben? Vielleicht war auch dieser Sir Oliver von Geburt an ein Mann des Geistes gewesen, der nicht in diese Welt gehörte, der nur singen konnte, wenn ihm danach ums Herz war, ohne Künste und Ränke.

Wie schnell hatten sich die Worte des Pfarrers über Jim bestätigt! Ja, er blieb ein Mann des Körpers, ein Mann des Fleisches, dem nur an Essen und Frauen, an Geld und an einem bequemen Bett etwas lag; es lag ihm in Wahrheit auch nichts an Olivers Vater, obwohl er sich liebevoll genug benahm – Jim war eben eine zärtliche Natur – er rechnete vielmehr auf den Tod des Doktors, damit er bald sein Legat einstecken könnte. Es lag ihm auch nichts an der See oder an dem herrlichen ›Schwarzen Schwan‹, der war ihm nur ein Stück Geld; er sehnte sich danach, ihn auf Nimmerwiedersehen zu verkaufen und sich dann auf irgend eine zweifelhafte, dunkle Unternehmung an Land einzulassen. »Er macht sich nicht einmal etwas aus dieser gräßlichen Frau«, fuhr Oliver in seinem immer heftiger werdenden Selbstgespräch fort, »er findet sie nur bequem, weil sie eine gute Köchin ist, ein bißchen Geld hat und ihn nichts kostet; sie aber liebt ihn verzweiflungsvoll auf treue mütterliche und auch auf andere Art. Und er braucht sie ja nicht einmal als seine gesetzliche Frau anzuerkennen, denn sie wird sich stets mit den Brosamen seiner Zuneigung zufrieden geben – nicht Brosamen, sollte man sagen, sondern Staub und Asche. Dagegen liegt ihm wohl wirklich ein klein wenig an seiner Mutter, an Rose, an Bobby, denn die stehen ihm bis jetzt noch nicht im Wege; sie sind in gewissem Sinn seine Genossen, ähnlich wie Mrs. Bowler; ich aber bin nicht sein Genosse. Es kommt ihm überhaupt nicht in den Sinn, auch nur das geringste für mich zu fühlen. Ich bin nur jemand, vor dem er seine Reden halten kann, ein Spiegel, in dem er sein geschmeicheltes Bild erblickt, und der vielleicht ein bißchen heller und besser geschliffen ist als der Schiffsjunge oder der zweite Maat, wenn auch nicht ganz so empfänglich und anpassungsfähig wie der neue Maat. O, er ist natürlich von mir entzückt und strengt sich mächtig an, mir zu gefallen, ebenso wie meinem Vater. Was gäbe es auch besseres als einen sentimentalen reichen Freund, dem man sein Herz ausschütten kann, der bestimmt den Mund hält und Geld zur Verfügung stellt, soviel man will? Und was macht es für einen Unterschied, ob dieser unschätzbare Freund jung oder alt ist, klug oder lächerlich? O, als Spießgeselle, als Schmarotzer geht mir Jim nie verloren – letzten Endes hat Mutter in bezug auf ihn recht behalten – aber als Freund? Ist er überhaupt wahrer Freundschaft fähig? Er ist auf seine Art ehrlich, tüchtig und treu; er genießt es, mit Glanz und Gloria die Jacht zu befehligen und ein guter Kerl zu sein. Aber das alles ist bei ihm gewissermaßen rein äußerlich, ebenso als täte er Dienst bei der Marine oder verbrächte eine Urlaubsnacht mit einem bequemen Kameraden, der die Getränke bezahlt. Im Grunde denkt er die ganze Zeit an etwas anderes, nämlich an Minnie und Bobby. Ja, als echter Engländer denkt er an sein Heim – ›Gott segne unser trautes Heim‹! Es kommt nicht auf diese Mrs. Bowler oder diesen Bobby an, aber ich sehe ihn geradezu, wie er später, wohlbeleibt und etwas gedunsen, am Sonntag mit Weib und Kind zur Kirche geht. Und ich sehe mich selber, wie ich auf ihn zeige und sage: Da geht Mr. James Darnley. Er war einmal Kapitän auf meines Vaters Jacht, und ich sende ihm noch immer zu Weihnachten einen Scheck, wie einem armen Verwandten, den man niemals besucht. Lord Jim aber ist längst gestorben.«

Als Oliver endlich den Kopf auf das Kissen legte, riß die Kette seiner Gedanken nicht ab. Seine Betrachtungen gingen nur in eine andere Tonart über, wurden weitschweifiger und unbeherrschter; die ganze hilflose Resignation seiner Seele ergoß sich in sie. Kurz, er hörte auf zu denken und begann zu träumen. War er auch in seinen wachen Stunden durch eine ganze Skala von kritischen Urteilen und sittlichen Bedenken gezügelt und gehemmt, so war doch sein Geist im Grund schöpferisch, unbefangen, rein und empfänglich für jeden Lichtstrahl. Im Schlaf wurde seine Phantasie dramatisch; das bewies, daß der Same seiner Eindrücke tief in einen fruchtbaren Boden sank.

So träumte er, als er nach den Erlebnissen dieses Tages die Augen schloß, daß er wieder das Licht im Fenster des Pfarrers erblickte, und da er sich draußen einsam fand, kletterte er verstohlen und in großer Kümmernis hinauf und klopfte an die Scheibe. Zu seiner Verwunderung trug er einen kleinen schwarzen Rock, dessen Ärmel ihm viel zu kurz waren, und den vorn nur noch ein einziger Knopf zusammenhielt, während er darunter gar nichts anhatte. Seltsam, daß er in Schwarz war, wo doch seine Mutter Trauerkleidung nicht leiden konnte! Und dann saß er im Studierzimmer auf der Kante eines Stuhles, hielt seinen schwarzen Hut zwischen den Knien und gab sich entsetzliche Mühe zu erklären, daß sein Vater gestorben sei und all sein Geld Jim hinterlassen habe. Würde Mr. Darnley ihn wohl gütigst als Chorknaben annehmen und ihn seine schönen Predigten mitstenographieren lassen? Er habe nämlich auf der Schule in einem Extrakurs Stenographie gelernt. Aber Mr. Darnley sagte, es täte ihm leid, Oliver schriebe zwar vielleicht gut und deutlich, aber für die Kirche sei das nicht das Richtige, denn da er nur schreiben könne, was er fühle, so sei es leicht möglich, daß er einmal ein I-Tüpfelchen auslasse, und dann würde der Pfarrer sofort auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

So ging denn Oliver sehr traurig am Fluß entlang, und als er zum ›Königswappen‹ kam, da war das Gasthaus zu einer baufälligen kleinen Schenke mit nur einem Zimmer geworden; und diese stand windschief inmitten einer schwarzen Heide auf der Bühne des Covent-Garden-Theaters. Ringsum war's pechfinster, es tobte ein schreckliches Gewitter. Jetzt wußte er, warum er Schwarz trug: er spielte das unglückliche Mädchen, das als Knabe verkleidet während des Sturmes an die Gasthaustür klopft. Also klopfte er, und Mrs. Bowler, in der Rolle der Maddalena, ließ ihn sehr freundlich herein und führte ihn zur Bar. »Armer junger Herr«, murmelte sie, »Sie zittern ja am ganzen Körper. Ich will Ihnen was zu trinken geben, um Ihr junges Herzchen aufzuwärmen. Auf dem Sofa können Sie nicht sitzen, es ist besetzt, aber Sie können Ihren Kopf auf das kühle Metall der Bar legen; dann schadet es gar nichts, wenn Sie noch so viel weinen, denn alle Tränen laufen säuberlich in die kleinen Löcher in der Mitte.«

Und wirklich war das Sofa, wie vorher die Tische im Billardzimmer, besetzt, und zwar von etwas Langem und Dickem, das in Tücher gehüllt war. Doch Oliver konnte seinen Kopf nicht auf das Metall legen, denn es waren schmutzige Flecken darauf, ähnlich wie die schaumigen Streifen, die eine Welle auf dem Strand hinterläßt, wenn sie gurgelnd zurückläuft; und der Geruch des abgestandenen Bieres machte ihm übel. Außerdem lag obenauf ein nasser Schilling, und wie konnte er den Kopf auf einen nassen Schilling legen?

»Guter Gott«, rief Mrs. Bowler, »von wem in aller Welt stammt dieser Schilling?« Und Jim, im Kostüm des Sparafucile, sagte, er wäre wohl von dem Herzog, der immer käme, um mit ihr zu liebeln. Er hätte den Schilling als Trinkgeld zurückgelassen. »Ein Trinkgeld für die Wirtin! Das ist eine Beleidigung!« sagte Mrs. Bowler und fuhr dann ganz ruhig fort: »Den können wir aber jetzt nicht in die Kasse tun, denn Bowler hat für heute schon abgerechnet; die Polizeistunde ist vorbei, und man würde uns schnappen.« So steckte sie den Schilling ein und wischte den Schanktisch mit ihrer Schürze ab; nun hatte Oliver eine Stelle, wohin er sein Haupt legen konnte. Er fühlte sich genau wie damals, als er beim Zahnarzt Lachgas bekommen hatte, und verstand jedes Wort, was gesprochen wurde, obwohl die andern sagten, er sei bewußtlos.

»Jetzt sind sie beide betäubt, jetzt kannst du es tun«, sagte Mrs. Bowler, »nimm ihn und wirf ihn in die Schleuse, wie du es mit meinem ersten Mann getan hast.« Aber Jim machte ein mürrisches Gesicht, wurde sehr rot und brummte: »Ich hab ihn nicht hineingeworfen. Wir hatten eine Rauferei auf dem Treidelpfad, und er fiel hinunter, weil er betrunken war.« »Ja«, versetzte sie, »und weil du ihm einen Stoß gegeben hast; natürlich konntest du ihm dann nicht mehr nachspringen und ihn retten, denn jeder weiß, daß du nicht schwimmen kannst. Aber du hättest ihm wenigstens den Rettungsring hinunterwerfen sollen, der seit Jahren nutzlos dahängt und auf eine Gelegenheit wartet; aber du ranntest durch die Felder weg, so schnell du konntest, in der Hoffnung, daß dich diese Nacht niemand in Sandford gesehen hätte. Jetzt kannst du ebensogut den andern alten Kerl hier hinter ihm herschmeißen. Was sollen wir sonst mit der Leiche anfangen?«

Die Lichter gingen aus, und Jim trug den großen, schweren Sack stolpernd an den Rand der Schleuse von Sandford; aber Oliver wußte, daß nicht seines Vaters Leiche in dem Sack steckte, sondern jemand anders, der noch lebte. Da kam sein Vater plötzlich aus der Schenke wie Lazarus aus dem Grabe, er hatte seine schwarze Brille auf, ein weißes Chorhemd an und ein Gebetbuch in der Hand. Und hinter ihm stand ein kleiner Mann mit schwarzem Haar und einer Glatze, der ihm etwas ins Ohr flüsterte und entsetzlich böse und drohend aussah. Und der Doktor fragte, wo denn der Tote sei, den sie auf See hätten bestatten wollen. »Schon längst unten auf dem Grunde«, sagte der wütende kleine Mann, den Oliver als den Ingenieur erkannte. »Der Käptn schmiß ihn mit Blei in den Taschen verteufelt schnell über Bord.« Da warf Olivers Vater das Chorhemd ab und ließ das Gebetbuch ins Wasser fallen. »Um so besser«, sagte er, »dann kann ich wieder gehen und noch etwas länger schlafen.«

Mrs. Bowler und Jim hielten sich in den Kulissen verborgen und flüsterten sich zu: »Wir haben uns geirrt.« Und Jim trat verstohlen vor, öffnete den Sack, enthüllte die Gestalt, die darin war, und wartete auf den nächsten Blitz. Und als der kam, wurde es offenbar, daß Oliver in dem Sack steckte. »Macht nichts«, sagte Mrs. Bowler freundlich, »was liegt schon daran, ob wir den Sohn oder den Vater erwischen? Die Jacht haben wir jetzt sowieso.« Aber Jim reckte mit einem wilden Schrei seine Arme verzweiflungsvoll zum Himmel empor, und statt nun zu singen › La Maledizione‹, rief er: »Ich hab ja Olivers Geld verloren.«

»Sei kein Narr«, schrie Mrs. Bowler und schüttelte ihn am Arm. »Du Esel, weißt du denn nicht, daß das alles nur eine Oper ist? Oliver ist nicht wirklich vergiftet. Ich tat nur etwas Bitter in seinen Shandy-Gaff, weil du gesagt hast, wenn man ihn nicht ein bißchen damit mischte, wäre er zu süß. In Wirklichkeit fehlt Oliver gar nichts, er wird sofort wieder zu sich kommen und das letzte reizende Duett singen.«

»Das Duett singen?« sagte Jim höhnisch, »das ist doch eine Damenrolle, und er ist nur ein Statist, nur ein x-beliebiger verwahrloster Straßenlümmel, den ich in der Gosse aufgelesen habe, damit er sich für ein Trinkgeld in den Sack stecken läßt, denn dazu geben sich die Primadonnen nicht her und sie sind auch im allgemeinen nicht gerade federleicht. Überhaupt sagt der Doktor, daß das Duett in England und in Amerika gar nicht gesungen wird, denn nachdem › La donna è mobile‹ vorbei ist, ziehen sowieso alle Zuhörer die Mäntel an und drängen eilig hinaus, um ihren Wagen zu finden.«

Oliver bemühte sich heftig, den Kopf zu heben und die beiden zu bitten, nicht so schreckliche Dinge zu reden, denn er könne alles hören. Aber es gelang ihm nicht, sich zu rühren oder auch nur eine einzige Silbe hervorzubringen.

Jetzt kam Bobby heulend angerannt, hielt den ›Schwarzen Schwan‹ umgekehrt in der Hand und stieß schluchzend hervor, es sei nichts zu machen, er könne das Schiffchen nicht in der Schleuse segeln lassen; das ganze Wasser sei voll von Toten, die in Säcken darin umhertrieben. »Unsinn«, sagte Jim, »wie kannst du denn sehen, daß es Tote sind, wenn sie in Säcken stecken, noch dazu in dieser dunklen Nacht, wo kein Mond scheint? Es müssen Ballen sein, die bei der Papiermühle vom Dock gefallen und in die Schleuse hineingetrieben sind.«

»Ja«, fügte Mrs. Bowler deutlich hörbar hinzu, »zumal schwere Ballen ganz bestimmt stromaufwärts schwimmen.« Aber Jim hörte das nicht, denn er ging eilig fort und sagte nur noch, eine Jacht sei ein teures Spielzeug, und er hätte sie Bobby niemals geschenkt, wenn es ihm gelungen wäre, sie zu verkaufen und das Geld in eine Goldmine zu stecken.

Nun trat Mrs. Bowler, freundlicher als je, an Oliver heran, nahm ihn bei der Hand und bat ihn, ins Hinterzimmer zu kommen.

»Ich war ja entsetzt, als ich merkte, daß Sie das da im Sack waren, Mr. Oliver. Solch ein schmucker junger Herr, und so edelmütig und gut! Wirklich eine Schande! Wie konnte ich mich so irren! Es sollte doch bloß der Doktor sein; und, offen gestanden, wäre mir das Herz auch nicht gebrochen, wenn es Jim selber gewesen wäre. Er ist jetzt nicht mehr wie damals, als junger Matrose in Ihrem Alter. Damals war's nur menschlich, daß ich für ihn viel übrig hatte, und mit Ihnen ginge es mir jetzt ebenso, wenn Sie nicht gar so stolz und ernst wären. Na, Sie haben wohl noch nichts mit Frauen zu tun gehabt. Natürlich ist ein junger Herr in Ihren Jahren noch ein bißchen scheu, ich finde das auch sehr kleidsam. Aber ewig kann es ja nicht so weitergehen, nicht wahr?«

Und damit küßte sie ihn.

Aber er mochte ihren Kuß noch weniger als den Jims. Ihr Kuß war noch falscher, länger, widerlicher und schwerer abzuwehren. Jim war wenigstens dabei ganz ursprünglich gewesen, hatte sich von ehrlicher Freude hinreißen lassen, hatte nur Olivers Geld umarmt und mit einem brüderlichen Kuß das Versprechen quittiert, daß er niemals enterbt werden sollte, daß man ihm vielmehr aus jeder Klemme stets heraushelfen würde. Mrs. Bowlers Kuß aber war der Kuß der Schlange, sie tat, als liebe sie ihn, und wand sich an ihm herauf, um sein Geld zu stehlen, nachdem sie ihm das Blut ausgesaugt hatte. Das war abscheulich, ekelerregend, unerträglich, und Oliver erwachte.

Bald wurde es ihm wieder klar, wo er sich befand. Er wußte, dies war das Giebelzimmer, in das Rose ihn geführt hatte. Kein Sturm, kein Melodrama! Nur klares Mondlicht, das still durch das kleine Dachfenster hereinschien! Doch die Erregung seines Traumes dauerte fort. Die ganze wahnsinnige Tragödie ging hinter dem Vorhang weiter; und vielleicht war auch im wirklichen Leben das, was sich hinter den Kulissen abspielte, wahrer als das öffentliche Schauspiel im Vordergrund.


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