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6

Divinity Hall schützte Oliver nicht vor Eindringlingen. Im Gegenteil, die Abgesandten verschiedener sportlicher Körperschaften schienen sich geradezu dadurch ermutigt zu fühlen, daß er in solcher Abgeschiedenheit und anscheinenden Armut lebte. Gegenüber von Divinity Hall erhob sich zwischen den Bäumen ein großer, erst halbfertiger fabrikähnlicher Backsteinbau, das chemische Laboratorium; und in seinem Schatten stand das alte Haus der Theologen ganz verlassen und übertrumpft. Vertrieb nicht der Fortschritt überall die Reflexion? Zu was für einem andern Zweck, als um Sport zu treiben, konnte ein unbemittelter Wettkämpfer überhaupt nach Harvard gekommen sein?

Als Oliver behauptete, daß er in Harvard nichts als studieren wolle, gab man darauf zunächst gar nichts. Natürlich wollte er studieren; aber wenn sie ihn nicht sofort in die Universitätsmannschaft stecken konnten, war es seine Pflicht, sich für das Klassenteam zu melden; denn war er nicht eingeschriebenes Mitglied der Seniorenklasse? Seine Weigerungen schienen eine Zeitlang die Diskussion nur in die Länge zu ziehen oder Besuche noch einflußreicherer Persönlichkeiten herbeizuführen. Nichts hätte den Feuereifer dieser Werber abkühlen können, wenn nicht allmählich durchgesickert wäre, daß Oliver Alden reich, sehr reich sei. In diesem Fall mußte er ganz exzentrisch sein, wenn er so lebte, wie er es tat; und einem exzentrischen, reichen Menschen konnte es vielleicht ernst sein mit dem, was er sagte.

Friede begann wieder in Olivers Zufluchtsort einzuziehen, ein Friede, der mehr Leere war; denn man ließ ihn nun ebenso systematisch links liegen, wie man ihn vorher bestürmt hatte. Er war eingeordnet in jene verhaßte Kategorie von Außenseitern, die nur lose mit dem eigentlichen Universitätsleben zusammenhingen: wunderliche Gestalten, die allein oder in kleinen Trüppchen herumgingen und intellektuell oder verlebt aussahen. Sie schienen meist Juden oder Radikale zu sein, oder Rauschgifte zu nehmen; sie interessierten sich für die Bühne, waren musikalisch oder religiös, bleich oder aufgedunsen oder schlecht gewaschen; entweder zu schäbig oder zu elegant angezogen. Für das Allgemeinwohl war nichts von ihnen zu erwarten, nicht einmal Geld.

Ungestört konnte Oliver nun in seinen Freistunden in der entferntesten und sonnigsten Ecke jener neuen, sauberen Divinity-Bibliothek sitzen, wo man nur selten durch ferne Schritte an die Existenz der menschlichen Gesellschaft erinnert wurde. Hier standen viele Bücher in Reichweite, nicht zu reden von all den andern, die man sich aus den unendlichen Beständen noch kommen lassen konnte. Wie tüchtig und unabhängig fühlte er sich, weil er gut Deutsch konnte; und wie erstaunt und entzückt schauten seine Professoren drein, als er diesen Umstand erwähnte! So war er schon auf halber Höhe der Leiter, bevor er überhaupt anfing zu klettern. Ja, auch Griechisch konnte er ohne allzu große Schwierigkeiten lesen. Den vorigen Sommer hatte er im Pfarrhaus von Iffley verbracht, wo Mr. Darnley ihn auf verschiedene Teile Homers, Platos und des Neuen Testamentes gedrillt und ihn überredet hatte, sein Philosophiestudium wirklich beim Anfang der Philosophie, also bei Thales und Heraklit zu beginnen.

So hatte er nun den Text der Vorsokratiker mit dem Wörterbuch, den Übersetzungen und den Kommentaren vor sich; dazu ein großes neues Kollegheft, in dem bereits anderthalb Seiten mit Notizen bedeckt waren. Er wollte die ganze Sache rein humanistisch anfassen, wie Mr. Darnley es empfahl; ohne Sorge um das endgültige Ergebnis. Irgendwo würde er schon wieder aus dem Urwald herausfinden, wenn er es am wenigsten erwartete; und falls er nicht durchkam, würde er immerhin eine große Reise getan haben. Daß alles aus Wasser bestand, oder daß das Leben nichts war als die Rastlosigkeit versprengten Feuers, das halb in seiner eigenen Asche erstickte, diese Vorstellungen muteten ihn nicht fremd und bedeutungslos an, wenn er auf den weiten, schimmernden Flächen des Flusses unter den grauen Wolken umherruderte, während die Herbstnebel die Fernen verschleierten und die ganze menschliche Welt eher zu einem alten, unglaubwürdigen Bericht aus vergangenen Zeiten machten als zu einer gegenwärtigen Realität. Oliver ruderte allein, denn nach jener Fahrt am ersten Tag im Zweier waren die Ferien vorbei, und es wurde damit für Remington unmöglich, mit ihm zusammen zu rudern; wie hätte der Kapitän der Universitätsmannschaft dazu Zeit gehabt?

Diese halb glückliche, halb melancholische Einsamkeit sollte nicht lange dauern. Die Hälfte der zweiten Seite des Kollegheftes war noch leer, als Oliver vor seinem Fenster die drei wohlbekannten Töne einer Autohupe hörte: »Hei, Siegfried!« Es war Mario in dem herrlichen neuen Wagen, den Oliver ihm geschenkt hatte, und der zwar nur ein Dreisitzer war, aber doch schon eine starke Maschine, lang wie eine Lokomotive und erstaunlich geräuschlos. Die kleine Tonfolge war ihr Signal. Mario hatte sie ausgewählt: die drei ersten Noten des Wagnerschen ›Waldwebens‹; denn er meinte (in Übereinstimmung mit Fräulein Irma), Oliver habe Ähnlichkeit mit Siegfried; und der Vogel, der gekommen sei, um ihn aus seinen Knabenträumen zu wecken und ihn das eine oder andere über das Leben zu lehren, sei er, Mario, selbst. Er war im letzten Augenblick im Auto von Newport gekommen; am nächsten Morgen mußte er die Auswahl seiner Kurse für dieses Jahr vorlegen, und da er bis jetzt noch keine Ahnung hatte, welche wunderbaren Vorlesungen er hören wollte, sollte Oliver ihm helfen sich zu entscheiden.

Aber erst mußte Mario in seine Wohnung zum Auspacken. So wurden Zeller und die Vorsokratiker liegen gelassen, und die halbe Seite in dem neuen Kollegheft blieb leer. Gehorsam stand Oliver im Regen auf dem Trittbrett des Wagens, denn die beiden andern Sitze waren mit hochaufgestapeltem Gepäck belegt. Es sah Mario ähnlich, staubig und schmutzig wie er war, seinen Vetter so unterwegs aufzulesen (statt sich, wie Oliver es getan hätte, zuerst in sein Logis zu begeben, dort alles fein in Ordnung zu bringen und seine Freunde nachher aufzusuchen). Als ob der einzige Zweck seiner Fahrt der gewesen wäre, Oliver wiederzusehen und nicht der, ein neues Semester auf der Universität anzufangen!

»Verfluchter Unfug, all das Zeug, was man da mit sich schleppt!« murmelte Mario. »Ich wollte, ich könnte ohne Gepäck leben. Aber was soll man machen? Man kann doch nicht jeden Tag dasselbe Hemd tragen, nicht wahr? Außerdem machen einem die Leute dauernd solche netten Geschenke – Toilettenkästen, Golfstöcke und ähnliches; die kann man doch auch nicht wegwerfen, aber es häuft sich alles so an!«

Die Erwähnung von Geschenken erinnerte ihn an Oliver und an den neuen Wagen; er erging sich über dessen sämtliche Vorzüge und pries die Durchschnittsgeschwindigkeit, die er heute trotz des schlechten Wetters und des Zustandes der Straßen hatte einhalten können. Doch da waren sie schon in Claverley Hall angekommen, und als Mario die Fenster seines häßlichen kleinen Zimmers aufriß, atmete er kräftig aus, als wollte er eine in der Luft liegende Ansteckungsgefahr abwehren. »Scheußliches Loch! Denke nicht, daß alle diese schrecklichen Möbel mir gehören; sie sind vom Hausmeister. Ich übernehme sie einfach für so und so viel im Jahr und habe dann weiter keine Sorgen damit. Besitz ist so etwas Lästiges. Auf diese Art aber kann ich innerhalb von fünf Minuten verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Na, wenigstens ist hier ordentlich rein gemacht. Hallo! Schau mal einer an! Da liegt tatsächlich frisches weißes Papier in den Schubladen, nicht etwa die üblichen alten Zeitungen, sondern dickes, neues Fließpapier, fast wie Pappdeckel. Das ist das Werk des gesegneten Pat Milligan. Die Putzfrauen beten ihn an, weil er Ire und Katholik ist. Er hat sie dazu gebracht, das ganze Zimmer zu putzen, bloß weil ich schrieb, ich käme wohl spät, und der Gedanke, die Unordnung vom letzten Semester noch vorzufinden, wäre mir entsetzlich. Aber das Papier muß er selbst besorgt haben. Der gute, unschuldige Kerl hat meine Äußerungen ganz wörtlich genommen und etwas Symbolisches getan!«

»Ist Pat Milligan hier der Hausmeister?« Wie Oliver das sagte, war er selbst von der Kälte seines Tones überrascht. Er merkte, daß er nun besser verstand, warum Remington so spitz gesagt hatte: »Nein, ich kenne Mario van de Weyer nicht.«

Einen Augenblick schien Mario beleidigt zu sein, dann brach er in schallendes Gelächter aus.

»Hausmeister! Pat Milligan ist die hervorragendste Persönlichkeit in Cambridge – tatsächlich die einzige hervorragende Persönlichkeit! Er ist ein Dichter, ein Armer und ein Heiliger. Aber wenn du wissen willst, was er in den Augen der Leute vorstellt: er ist einfach Lehrer für Englisch und Hausvorstand hier in Claverley. Vor allem ist er mein bester Freund – ich meine von denen, die ich im letzten Jahr hatte. Du wirst ihn ja kennenlernen. Er sieht wundervoll aus: ganz blaß, mit dichtem rotem Haar, hellblauen Augen und einem Munde, der in glühender Empörung reden kann. Wie Shelley, wenn Shelley Christ gewesen wäre. Er macht die wundervollsten Gedichte, die er meist niemandem zeigt, nur mir manchmal ein paar Zeilen. Wenn du mit ihm sprichst, darfst du nichts Böses gegen Irland oder gegen die Religion sagen, sonst wird er glühend rot und macht dich noch röter vor Scham. – Ich muß gleich zu ihm gehen und mich bedanken. Mach dich, bitte, inzwischen nützlich und packe weiter aus, während ich hinauf laufe und schaue, ob er zu Hause ist.«

Warum wurden eigentlich Leute bewundert, die gefühlvoll und vom Leben enttäuscht waren? Oliver stellte wieder einmal fest, daß er sich im allgemeinen nichts aus Dichtern machte. Und es war auch im männlichen und nüchternen Sinne nicht religiös, wegen irgend einer leidenschaftlichen persönlichen Phantasie Amok zu laufen und sich selbst und andere Menschen damit zu quälen, statt zuzugeben, daß alles nur Schaumschlägerei war! Die echte Religion mußte die Kräfte, die tatsächlich in der Welt am Werke waren, anerkennen und ihr Wirken mit Aufrichtigkeit studieren. Und wenn die Wahrheit kein würziges oder kein für den Gaumen schmackhaftes Gericht ergab, warum sollte man da nicht etwas weniger genüßlich, etwas weniger wählerisch sein und das herunterschlucken, was man nun einmal vorgesetzt bekam?

Patrick Ignatius Milligan, Doktor der Philosophie, war ausgegangen, das ließ sich verstehen, denn es war nach sieben Uhr, und er war vermutlich beim Dinner. Und wo wollten sie nun essen? »Ich«, sagte Oliver fest, denn er hatte das Gefühl, nun komme endlich seine eigene Person an die Reihe, » ich esse immer in Memorial Hall.«

»Guter Gott«, schrie sein Vetter, »da kannst du doch nicht essen. Da kann man bei dem muffigen Geruch von gelben Rüben und schaler Suppe verhungern. Es gibt immer dasselbe zum Dinner: eine dünne Scheibe Ochsenfleisch, die bläßlich rosa mit einer großen weißen Sehne mittendrin in einer Sauce von Fett und Wasser schwimmt; dazu ein paar ausgewaschene Erbsen in einem Seifenschälchen und ein Schokoladentörtchen, das im Schaufenster schon eine Woche lang die Straßenjungen in Versuchung geführt hat. Ich kenne das, denn ich habe dort mehr als einmal mit Pat Milligan am Dozententisch im Turm gegessen, da sollte es eigentlich etwas Besseres geben, tut's aber nicht, denn sie zahlen dasselbe. Für Pat ist Memorial ganz das Richtige, denn er hat sich dem Fasten und andern Bußübungen geweiht. Eine gekochte Kartoffel mit lauter Flecken und Augen, als wollten gleich Blümchen daraus hervorsprießen, genügt, um einen irischen Poeten eine Woche lang am Leben zu erhalten. Irland zeichnet sich dadurch aus, daß es ein sehr wässeriges Land ist; hat nicht viel Saft und Kraft in sich. Er sagt selbst, daß es nicht erschaffen wurde wie der übrige Teil der Welt, sondern daraus entstand, daß einmal die grünen Wogen dem Himmel ein wenig zu nahe kamen und nicht mehr zurück konnten: und das ist nun Irland! Außerdem kann er sich's auch nicht leisten, richtig zu essen, denn er schickt die Hälfte seines jämmerlichen kleinen Gehalts nach Hause an seine Leute, und die andere gibt er den offiziellen Armen hier.

Du dagegen! Ein prächtiger Nordländer wie du muß großartig ernährt werden. Du kannst deine erstklassige Maschine nicht in Gang halten, ohne alle paar Stunden gutes Roastbeef und guten Hammelbraten einzuschaufeln und gute Getränke zu dir zu nehmen, wenn dein Geist lebendig bleiben soll und du überhaupt irgend etwas fühlen oder denken willst. Sonst gehst du einfach ein wie die alten Saurier, die von Gras zu leben versuchten, aber in der ganzen Welt nicht genug Gras für ein ordentliches Frühstück finden konnten. Bei Mrs. Haunch ist die Küche erstklassig. Charley Street ißt dort, und sie werden sich sehr freuen, wenn du auch kommst. Für mich ist das zu teuer, außerdem brauch ich nirgends hinzugehen, nicht etwa weil ich faste wie Pat Milligan, sondern weil ich damit rechne, daß ich eingeladen werde. Oder ich schlinge schnell irgendwo einen Bissen herunter oder gehe ins ›Napoli‹. Für heute wird das ›Hollytree‹ nett sein. Dort kriegen wir zwar nur ein paar Eier auf Toast, Steak und Bratkartoffeln und Apfelkuchen, aber alles ausgezeichnet, heiß, frisch vom Grill, den man zischen hören kann; zu trinken gibt's nichts als Kaffee, aber das macht dir ja nichts aus, und wir können nachher immer noch einen Likör im Klub trinken.«

»In was für einem Klub?« fragte Oliver, den es ein wenig beunruhigte, auf so leichtfertige Weise mit Beschlag belegt und aus seinen einsamen Studien herausgerissen zu werden, denen er ganz hatte leben wollen.

»Na, doch im Lambda-Pi-Klub natürlich, den Stephen Boscovitz und ich voriges Jahr gegründet haben. Du gehörst ja schon zu der Verbindung, und bei der nächsten Zusammenkunft sollst du in unsere Zweigverbindung ausgenommen werden. Unsere Räume sind bis jetzt noch ziemlich kahl und primitiv, und der Hausmeister macht die ganze Arbeit allein; dort können wir nicht gut essen, wenn wir uns nicht unsere Eier selbst kochen – deshalb also komm mit!«

Oliver wurde wieder fast gewaltsam auf die Straße geschleppt. Warum sollte er sich schließlich sträuben? Er war doch eigens nach Harvard gekommen, weil Mario hier war! Wenn es sich wirklich nur um die Philosophie gehandelt hätte, dann würde er vielleicht Oxford, Berlin oder Marburg vorgezogen haben. Ein komisches kleines Lokal, diese ›Hollytree Inn‹, in die er da entführt wurde. Sie lag unten im Kellergeschoß des sonderbaren Spielzeughauses, das wie eine Insel in der Mitte der lehmigen Straße stand. Er hielt sich wirklich nicht für verwöhnt und wählerisch, aber instinktiv schreckte er zuerst zurück vor dem mit Wachstuch bedeckten Fichtenholztisch, der Zinngabel, dem schwarzen Messer und dem etwas angestoßenen und verfärbten Küchenteller. Das Anfangen wurde ihm schwer, und um sich Mut zu machen, nahm er zuerst einen Schluck aus dem großen Glas Milch, das vor ihm stand; die Milch wenigstens war kalt und rein. Ein guter Appetit tat das übrige, vor allem bei dem unwiderstehlichen Beispiel Marios, der hier völlig zu Hause schien; er tauschte mit dem alten Besitzer, der zugleich auch das Amt des Kochs und des Kellners versah, Liebenswürdigkeiten aus und schien das Festmahl weit mehr zu genießen, als wenn es ihm bei Voisin serviert worden wäre; dort hätte er blasiert tun und die Speisen absichtlich vernachlässigen müssen. Und wenn Mario mit seinen vielseitigen Erfahrungen, seinen fürstlichen Manieren, seiner schönen Kleidung und seinen beweglichen, sensitiven Händen gern in diesem Kellerloch aß, wie sinnlos wäre es dann für den armen Oliver gewesen, den Kritischen zu spielen! Er mußte versuchen, sich hier ebenfalls wohl zu fühlen. Ja, er war entschlossen dazu!

Dann begannen sie über das weißgraue Wachstuch hinweg die dringende Frage von Marios Vorlesungen zu erörtern. »Ich hab's«, rief dieser plötzlich. »Du hast deine Kurse ausgewählt, ich werde einfach dieselben nehmen, dann braucht jeder von uns nur die halbe Arbeit zu tun. Du gehst in die Vorlesungen und sagst mir, was der Professor alles erzählt hat, und ich werde dir dann sagen, was davon zu halten ist. Ich hatte doch das verfluchte Vorlesungsverzeichnis irgendwo, aber ich hab's anscheinend verloren. Zweihundertsechsundachtzig Kurse sind es, glaube ich, zwischen denen man die Wahl hat.«

Oliver zog sein eigenes Exemplar dieses edlen Dokuments aus der Tasche; verschiedene Seiten waren an den Ecken eingebogen, manche Stellen waren angestrichen oder mit Randbemerkungen versehen. Da stand zum Beispiel: »Professor spricht eintönig durch die Nase.« – »Dozent sehr jung und gemütlich; sitzt auf dem Pult und läßt die Studenten reden.« – »Russischer Jude; unverständliches Englisch.« – »Dieser Bursche versucht witzig zu sein.« – »Redet wie ein Grammophon und zitiert Statistiken.« – »Zu alt; hustet und spuckt in ein buntgemustertes Taschentuch; schweift vom Thema ab und liest Auszüge aus seinen eigenen Werken vor.« – Oliver hatte sich verschiedene Vorlesungen probeweise angehört, ein Verfahren, das man in Harvard » sampling courses«, in Deutschland »hospitieren« nennt; er hatte sich in alle möglichen Hörsäle gesetzt, um die Attraktionen zu vergleichen wie bei rivalisierenden Kinotheatern.

»Was hast du dir ausgesucht?«

»Zunächst: Indische Philosophie, Professor Woods.«

»Gar nicht übel; könnte ganz chouette sein. Um welche Zeit?«

»Montags, Mittwochs und Freitags um neun.«

»Um neun? Da bin ich noch im Nirwana.«

»Die College-Glocke ist ja da, um dich zu wecken.«

»Wie kann sie mich wecken, wenn ich sie nicht höre, und wie kann ich sie hören, wenn ich schlafe?«

»Na, hier hab' ich auch noch etwas Wichtigeres: Professor Royce, Metaphysik. Dienstags, Donnerstags und Samstags um zwölf Uhr.«

»Das geht nicht. Um zwölf bin ich noch beim Reiten. Da machen die Boscovitzmädel ihren Morgenritt in Brookline Parkway. – Was ist Metaphysik?«

»Wer sind die Boscovitzmädel?«

»Das weißt du ganz genau. Ich habe dir doch von ihnen geschrieben. Sie sind sie selbst, und das bedeutet: exquises, reizend und unvergleichlich.«

»Und du weißt ganz genau, was Metaphysik ist – wenigstens weißt du es so gut wie jeder andere. Metaphysik war das, was du soeben über die College-Glocke gesagt hast: daß nichts sich ereignet, wenn es einem nicht bewußt wird. Das nennt man Idealismus, und es ist verkehrt.«

»Wenn es verkehrt ist, warum willst du dann bei Royce hören? Ist er etwa kein Idealist?«

»Er ist der beste Dozent, den sie hier haben, und ich brauche ja nicht mit allem einverstanden zu sein, was ich höre.«

»Wenn's der beste ist, den's hier gibt, kann ich ihn ja auch nehmen. Ich kann in seine Vorlesungen bei schlechtem Wetter gehen – sicher wird oft schlechtes Wetter sein – oder wenn die Boscovitzmädel mal absagen. Manchmal bin ich auch um zwölf schon zurück. Glaubst du, es würde Royces Logik durcheinanderbringen, wenn ich in Reithosen erscheine? Nein? Dann schreibe ich mal Metaphysik um zwölf Uhr ein, bloß als vorläufige Hypothese. Was nimmst du sonst noch?«

»Plato in englischer Sprache: Staat, Phaidros und Symposion. Nur im ersten Halbjahr. – Leicht und luftig! Ich würde es nicht nehmen, wenn ich nicht gerade dasselbe für mich läse; da werden die Vorlesungen mein Interesse wach halten. Und für dich ist es ganz das Richtige.«

»Bei welchem Professor?«

»Bei Santayana.«

»Guter Gott, den sehe ich außerhalb der Vorlesungen oft genug. Ich werde dich mal zum Tee in seine Wohnung mitnehmen. Wenn du ihn fragst, welche Philosophiekollegs du wohl hören sollst, dann wird er dir antworten – da er doch nicht gut sagen kann: ›Besuchen Sie meine und keine andern‹ – daß die Wahl keine große Rolle spiele; denn man könne in jeder Philosophie etwas Wichtiges finden – wovor man sich hüten müsse; und man gehe wahrscheinlich weniger leicht in die Falle, wenn man sie klar vor Augen sähe, als wenn man ahnungslos herumliefe mit der Nase in den Wolken. Übrigens hat er mich speziell vor seinen eigenen Vorlesungen gewarnt; er sagt, es wäre für mich höchst gefährlich, zivilisierter zu werden.«

»Dann kannst du den vierten Philosophiekurs nehmen, den ich dir ohnehin empfehlen wollte, denn er ist am Nachmittag, wo wir groben, brutalen Kerle meist mit Sport beschäftigt sind: Ethik; allerdings sehr zivilisiert, aber ganz das Richtige, um dich ungeschliffenen Diamanten in eine weiche samtene Raupe oder ein schnurrendes Kätzchen zu verwandeln. Ich selbst gehe da nicht hin. Ich bin hierher gekommen, um Bücher zu lesen und Tatsachen zu lernen – wenigstens historische Tatsachen – und nicht, um mein Gefühlsleben zu kultivieren. Wenn ein Mensch die Tatsachen vor sich hat, wird er wohl auch wissen, was er dabei zu fühlen hat. Wenn man aber eine Religion oder eine systematische Ethik an ihn heranträgt und ihm sagt, was er dabei fühlen soll, bevor er überhaupt noch etwas fühlt, dann macht man einen Affen und Heuchler aus ihm. Das ist die Art, in der man mich erzogen hat, und das ist geradezu verbrecherisch. Dann muß man die ganze Sache herausspeien und auf dem Boden der Realität wieder ganz neu anfangen.«

»Einverstanden. Wir sind uns klar darüber, daß wir beide weit über alle Ethik erhaben sind. Aber was kannst du sonst empfehlen? Ich habe erst einen Kurs, und ich brauche vier.«

»Tut mir leid, aber da kann ich dir nicht helfen. Zufällig sind alle meine Vorlesungen am Vormittag. Das trifft sich gut, es läßt mir Zeit, aufs Wasser zu gehen.«

»Warum kannst du nicht morgens rudern oder dir ein Pferd verschaffen und mit mir zusammen reiten? Ich werde allmählich mißtrauisch. Hast du vielleicht auch ein paar Boscovitzmädel, die zufällig nach Tisch statt vor Tisch ausgeführt werden müssen? Am Ende wäre der Kurs in Ethik doch nicht so schlecht; alle andern scheinen ihn zu mögen. Ich will's mal damit versuchen. Du hast nur darüber geschimpft, weil du dein Gewissen betrügen und einen Grund finden wolltest, um den ganzen Nachmittag zu faulenzen. Und du ahnst ja nicht, was du versäumst; denn ich bin sicher, daß dein Nachmittagsfreund – wahrscheinlich Remington, wie? – den drei Nymphen, mit denen ich in den taufrischen Morgen hinausreite, nicht das Wasser reichen kann. Leider sind sie nicht mehr zu dritt. Dies Jahr werden es nur noch zwei sein; die älteste hat sich mit einem Grafen Otto von Kuchenstein oder von Gipfelstein oder von irgendwas anderm verheiratet und lebt mit ihm in seinem Lebkuchenschloß in Bayern; aber sie gibt deswegen keinen von ihren alten Freunden auf, sagt sie; ich soll sie besuchen und in Lindenhöhe – falls der Ort wirklich so heißt – bei ihnen wohnen, ob ihr dicker, kahlköpfiger Mann damit einverstanden sein mag oder nicht. Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine gute Freundin sie ist – vollkommen fähig, alles vom Standpunkt eines Mannes aus zu betrachten und einen dabei doch fortwährend auszulachen und ihre Würde zu bewahren. ›Da kommt der Basilisk‹, sagte sie immer, wenn ich auf sie zuritt; denn es wäre unhöflich gewesen, sich ihnen nicht anzuschließen, wenn wir zufällig zur gleichen Zeit in der gleichen Gegend spazieren ritten. Es sind schlanke Blondinen mit hübschen Augen, die in den Winkeln etwas schräg nach oben geschnitten sind; fast chinesisch sieht das aus, besonders bei Griselda, die erst siebzehn und so nichtsnutzig und wild wie ein Schuljunge ist, nur natürlich als Mädchen schon viel gescheiter. Sie hat eine Menge gesunden Menschenverstand und ist trotz all ihrer Streiche sehr zuverlässig und feinfühlig, wenn sie das auch nicht zugibt. Du solltest mal sehen, wie raffiniert sie ihr Stumpfnäschen rümpft und ›Blödsinn‹ sagt! Es ist ein Glück, daß wir auf verschiedenen Pferden sitzen und ein gutes Stück voneinander entfernt sind, sonst müßte ich sie einfach küssen.

Ihr Vater ist noch geschäftlich tätig, nicht in einem Juwelierladen natürlich, sondern als Experte für Edelsteine, und es heißt, daß er einen Haufen Geld verdient. Er geht alle vierzehn Tage nach New York, um zu begutachten, was an besonders bemerkenswerten Exemplaren eingetroffen ist, und muß jeden Sommer nach London, Paris und Wien, um alle Seltenheiten aufzukaufen, die auf den Markt kommen. Seine eigentliche Leidenschaft aber sind Blumen, und er hat die wundervollsten Treibhäuser; jedes erdenkliche Klima wird dort unter Glas hervorgebracht, sogar elektrischer Sonnenschein, wenn's sein muß. Die Wände, Türen, Balustraden, Springbrunnen sind je nach der Heimat der Pflanzen chinesisch, japanisch, persisch, französisch oder italienisch; manchmal sind die Räume mit echten alten Statuen von Gartengöttern und mit Grotten ausgestattet. Und der alte Boscovitz hat bei all seiner Shylockschlauheit und seinem Geschäftsblick doch eine Art biblischer Poesie an sich; er führt dich so ölig und dienstfertig herum, als wollte er dir etwas für das Zehnfache seines Wertes verkaufen; während es in Wirklichkeit gerade umgekehrt ist und er dich liebt, weil du seine Blumen liebst und ihn mit freundschaftlichem Respekt behandelst wie eine wichtige Persönlichkeit, was er ja auf seine Weise auch ist.

Manchmal sucht er mir die seltensten und schönsten Blumen zu einem Sträußchen für mein Knopfloch zusammen, und es ist ganz komisch: wenn er endlich seine beste Blume und sein bestes Blatt ausgewählt hat – denn die Blätter sind oft das Allerschönste – dann will er mir das Ding auch noch mit eigenen Händen ins Knopfloch stecken wie eine Dorfschöne, die mit ihrem Verehrer scherzt; nur sind seine Finger so dick und ungeschickt, daß er es nicht fertigbringt, und er sticht sich mit der Nadel. Ich muß ihm zu Hilfe kommen und sagen: ›O, Mr. Boscovitz, wie schrecklich nett von Ihnen, aber lassen Sie mich's nur selbst machen. Ich brauche gar keine Nadel; da unter dem Knopfloch ist schon eine kleine Schlinge zum Festhalten der Stengel; englische Schneider denken an alles.‹ Und im Nu ist die Blume an ihrem Platz; oder wenn es mehrere sind und mehr, als man tragen möchte – denn er ist lächerlich freigebig – dann nehme ich die Hälfte oder drei Viertel davon weg und habe sie im Handumdrehen in sein eigenes Knopfloch gesteckt, bevor er noch recht merkt, was ich vorhabe. Dann fühlt er sich schrecklich geschmeichelt, wird aber ganz verlegen; denn er ist für seine Person sehr einfach, schämt sich vielleicht etwas seiner selbst und würde niemals daran denken, eine Blume zu tragen. Aber dann sage ich ihm, er müßte eigentlich immer eine tragen, denn die Blumen müßten doch alle den Wunsch haben, sich bei ihm zu bedanken, und ihn so freudig und glücklich zu machen, wie er sie gemacht hat.

Unterdessen sitzt Mrs. Boscovitz – die Gräfin nennt er sie immer – am Kamin wie ein bleicher Geist oder ein heiliges Bild; die Familienmitglieder gehen beständig aus und ein oder setzen sich einen Augenblick zu ihr, um ihr Neuigkeiten zu erzählen. Sie spricht keine Sprache richtig, sondern unterhält sich in einem Mischmasch aus allem möglichen mit einer französischen Sauce darüber. Ihren Mann nennt sie in bedauerndem Ton ›Boscovitz‹, als bitte sie um Entschuldigung, daß sie ihn geheiratet hat; aber sie war damals am Verhungern, er war ein guter Mensch, und sie dachte, in Amerika gäbe es keine Vorurteile über Rasse oder Religion und keine gesellschaftlichen Unterschiede. Wenn sie mir das erzählt, seufzt sie und fügt hinzu: › Quelle erreur!‹ Dann wischt sie sich die Augen beim Gedanken, daß Olga sie verlassen hat und nun so weit weg von ihr lebt, und beklagt sich darüber, daß Griselda solch ein Lausbub ist, aber was kann eine Mutter heutzutage viel machen? › Ah, cette enfant‹, murmelt sie dann hilflos, › c'est une polichinelle‹. Sie vertraut mir sogar an, daß ihre Töchter kein wirkliches Gefühl für Delikatesse haben und einfaches Leinen tragen. ›Das ist shocking, il faut des dentelles.‹

Wir sprechen uns so recht von Herzen miteinander aus, die Gräfin und ich. Ich erzähle ihr von meiner Mutter und von den Duetten, die ich immer mit ihr gesungen habe, als ich noch ein Sopran war; es sind zufällig dieselben reizenden Sachen, die die Gräfin früher in Polen mit ihrer Musiklehrerin zu singen pflegte, ehe ihr Vater hingerichtet und alles konfisziert wurde; damals begleitete sie sich selbst auf der Harfe. ›Ach‹, sagt sie, ›bitten Sie doch Ihre liebe Mutter, herzukommen und uns zu besuchen. Ich werde die Harfe stimmen lassen, und wir beiden alten Frauen singen dann ganz leise die alten Duette zusammen, wenn niemand da ist, der sich über uns lustig machen kann. Dabei werden wir glücklich sein.‹ Dann stürmt gewöhnlich Griselda ins Zimmer und zieht mich aus meinem Stuhl. ›Da sind Sie also wieder mal dabei, die Mama sentimental zu machen. Das bekommt ihr doch nicht. Kommen Sie und lassen Sie sich von mir beim Tennis schlagen. Ich dürste nach Bewegung.‹ Und sie besiegt mich wirklich – manchmal wenigstens. Aber zugleich fordert sie mich beständig zu einem andern Spiel heraus, das aufregender ist als Tennis, und wenn sie mich da zu schlagen gedenkt, kann sie etwas erleben.«

Es entstand eine Pause, die lange genug dauerte, um Oliver zum Bewußtsein zu bringen, daß er die Boscovitzmädel nie werde ausstehen können und Pat Milligan ebensowenig. Sie übten einen schlechten Einfluß auf Mario aus, sie machten ihn phantastisch und lasterhaft.

»Also«, fuhr der Lasterhafte fort, »nun weißt du mehr von der Familie Boscovitz, als du in einer Woche durch den Klatsch von ganz Boston erfahren könntest. Aber halte den alten Mann nur nicht für einen wirklichen Dummkopf, weil er ein bißchen weich und gefühlvoll ist. Sein Herz ist weich, aber sein Verstand ist hart. Er hat sich taufen lassen müssen, um die Gräfin zu heiraten; aber er hat seinen Namen nur von Israel in Isidor umgeändert, um dieselben Initialen und seinen Firmenstempel behalten zu können. Was jedoch Religion betrifft, so ist er äußerlich die Verbindlichkeit selbst gegen jedermann, aber innerlich recht gleichgültig. ›Wiederholen Sie das nicht vor der Gräfin‹, sagte er eines Tages augenzwinkernd zu mir, ›ich war ja niemals begeisterter Jude, aber der erste Tropfen des Taufwassers hat mich von dem Wunsch, Christ zu werden, völlig reingewaschen. Eine Religion ist so gut wie die andere, wenn gute Menschen sie in die Tat umsetzen und in dem Glauben leben, an sie zu glauben. Es ist ein Schauspiel, an dessen Aufführung sie ihren Spaß haben; sie schaffen darin für sich selbst eine Rolle, die viel bedeutender ist als ihre Rolle im wirklichen Leben. Das ist ein großartiges Sicherheitsventil; es söhnt die Menschen mit ihrem Dasein aus. Ich für meinen Teil finde Religion genug in der Liebe zu schönen Dingen. Juwelen und Blumen kommen mir wie verschiedene Formen der einen Schönheit vor; Juwelen sind versteinerte Blumen, die angefangen haben zu leuchten, während Blumen lebendig und zerbrechlich gewordene Juwelen sind, die sich im Winde wiegen und jung sterben. Und noch eine dritte Form der Schönheit gibt es, welche die beiden andern Arten in sich vereinigt: das ist eine gute Frau, denn ihr Körper ist eine Blume und ihre Seele ein Juwel. Halten Sie sich an die guten Frauen, mein Junge, und es wird Ihnen wohl ergehen.‹«

»Wahrscheinlich möchte er, daß du Griselda heiratest.«

»Das wäre nicht das Schlimmste. Aber wozu davon reden? In den nächsten zehn Jahren werde ich doch nicht heiraten, wenn ich überhaupt je heirate. Wo sollte ich dann leben, und womit sollte ich mich beschäftigen? Wenn der alte Bosco mich in einem Geschäft in Boston anpflanzen möchte, damit ich zeitlebens in seinem Treibhaus blühe, so wäre ich dazu nicht für alle Blumen, Juwelen und Frauen der Welt bereit.«

»Warum nicht?«

»Ich möchte Malteserritter werden.«

»Was für Unsinn schwätzt du da wieder! Und alle die extravaganten Sachen, die diese Leute angeblich mit dir reden, sind sicher gar nicht wahr. Du erfindest sie einfach.«

»Ich erfinde sie nicht; aber man muß freilich die Wahrheit ein bißchen verändern, um sie im Gedächtnis zu behalten. – Na, jetzt ist's allmählich Zeit zum Schlafen. Gib mir das Vorlesungsverzeichnis. Mitten in der Nacht, wenn alles um mich ganz still ist, werde ich zwischen zwei Träumen meine Gedanken zusammennehmen und schauen, ob ich unter diesen zweihundertsechsundachtzig Quellen des Wissens noch zwei mehr finde, aus denen ein Gentleman mit Anstand trinken kann.«


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