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12

Oliver hatte keine Ahnung von dem Urteilsspruch, der gegen ihn gefällt worden war. Er war nicht ungeduldig. Er wollte bis zum Sommer friedlich auf eine endgültige Antwort warten, und er konnte sich keinen Grund denken, warum sie nicht günstig ausfallen sollte. Verhielt sich Edith nicht genau so zugänglich wie immer? War nicht die physische Anziehung zwischen ihnen unleugbar und unverhüllt? Raubte er sich nicht bei verschiedenen Gelegenheiten einen Kuß? Und dabei war er sicher, daß ihr das nicht mißfiel, obwohl sie sagte: ›Laß das!‹ und ruhig über etwas anderes weitersprach. Und beim Zusammensein im Familienkreise erwartete sie doch bei ihm Verständnis für alles, was sie sagte; saß an seiner Seite, ergriff instinktiv seine Partei und führte nachher, wenn sie Gelegenheit hatten, allein zu sein, die Diskussion noch weiter fort. Wo geistige Sympathie und dazu physische Anziehung vorhanden waren, was konnte man da noch mehr verlangen, fragte er sich. Er verlangte jedenfalls nichts weiter. Sein eigener Geist war völlig schlicht und frei, aller weltlichen und religiösen Verstrickungen ledig; und wie bei so vielen Philosophen hemmte auch bei ihm Selbstbetrachtung die Intuition.

Wäre er nicht völlig mit sich selbst, mit seiner eigenen Zukunft und mit seinen eigenen Gefühlen beschäftigt gewesen, dann hätte er das Geheimnis von Ediths Freundlichkeit, die halb sinnlicher Schwachheit, halb gesellschaftlicher Verstellung entsprang, sogleich entdeckt und hätte bemerkt, daß ihr starker berechnender Ehrgeiz sie Wege wies, die ihm gänzlich fern lagen. Wenn er ein paar theatralische Posen an ihr entdeckte, hielt er die für harmlos und recht kleidsam. Sie schienen ihm das richtige Gegengift für seine eigene Starrheit. Ihre Religion war nur ihre etwas überladene Art zu reden und zu fühlen. Er freute sich, daß Edith es fertig brachte, sich solchen Phantasien hinzugeben, genau wie er sich freute, daß sie so außerordentlich tief ausgeschnittene Kleider trug und so kunstvollen, fast mittelalterlichen Schmuck. Dadurch unterschied sie sich so entzückend von seiner Mutter und der guten Irma. Und dadurch fühlte er selbst sich in ein Fahrwasser getrieben, das von seinem Puritanismus wegführte, und in das er auch durchaus zu gelangen wünschte, nur daß er nicht die Möglichkeit hatte, es aus eigener Kraft zu erreichen. Er brauchte dazu den Duft und die schillernden Farben dieses orchideenhaften Geschöpfes. Ein wenig Kostbarkeit, ein wenig Geheimnis und ein wenig Sinnlosigkeit gehörten für seine Begriffe unbedingt zu einer schönen Frau. Gerade das bestätigte ihn in seinem männlichen Übergewicht und in dem Recht, die Zügel zu führen. Er sah sich schon als Gatten, als Herrn, als liebevollen Vater. Einen so prächtigen buntbefiederten Paradiesvogel an sich zu locken und zu zähmen, gerade das reizte ihn.

Zu Ostern kehrte er in das Haus in Gramercy Park zurück, erfüllt von den gleichen Gefühlen und in der Absicht, eine Entscheidung zu erzwingen. Die Zeit seiner ›Wanderjahre‹ rückte näher. Edith mußte sich jetzt entschließen, ob sie ihn begleiten wollte oder nicht.

Im Frühjahr war das gesellschaftliche Leben längst nicht so rege wie in der Weihnachtszeit, und so traf es sich öfter, daß die Familie an einem sonnigen Nachmittag in Tante Carolines Zimmer zusammensaß, in das nun auch Oliver als Mitglied des häuslichen Kreises Zutritt hatte. Und das war nicht der einzige Punkt, in dem er sich den Sitten des Hauses eingliederte. Als Maud an einem der ersten Tage in das Frühstückszimmer spähte, fand sie dort keinen Oliver vor. Das Mädchen erklärte ihr, daß Mr. Alden sein Frühstück nun auf seinem Zimmer einnehme und sich dort bis gegen Mittag mit Schreiben und Lesen beschäftige. So machte Maud nach wie vor ihre Einkäufe allein.

Nur Edith war auch jetzt fast nie zu Hause. Erschien sie überhaupt einmal zum Lunch, so mußte sie gleich danach wieder zu irgend einer Verabredung fortstürzen. Wenn Oliver sich bei seiner Tante deswegen beklagte, schüttelte die alte Dame den Kopf.

»Herumtreiberei, nichts als Herumtreiberei! Die jungen Frauen von heute haben Quecksilber in den Adern. Sie heiraten zu spät und müssen eine Art Junggesellenleben für sich erfinden, um die Zwischenzeit auszufüllen. Als ich so alt war wie Edith, hatte ich schon drei Kinder. Alle diese neuen öffentlichen Interessen, auf die sich die Mädel jetzt stürzen, sind schlimmer als Untugenden, sie nehmen die Mädchen so in Anspruch, daß sie keine Zeit haben, sich zu verlieben. Und schließlich, wenn sie Wohltätigkeit, Politik, Gemeindearbeit und Vorlesungen satt haben – und sie bekommen das alles viel rascher satt als ein Kartenspiel – dann ist es zu spät für einen harmlosen Flirt und eine gutartige, vernünftige, alltägliche Heirat. Dann bilden sie sich ein, daß sie einen Weltmann haben müssen, der mindestens Gesandter und ein zweiter Sir Galahad ist; und sie enden schließlich bei irgend einem verhungerten Künstler oder sozialen Reformer, der meistens nicht mal ein Gentleman ist. Außerdem bringt auch die Sorge um so viele junge Spitzbuben in Hospitälern und Gefängnissen die jungen Mädchen seelisch aus dem Gleichgewicht, obwohl sie es nicht merken. Ihre Sinne werden geweckt, ihre Gefühle vergröbert; jeder Schleier fällt. Und wenn man dieses krankhafte Treiben noch mit der Religion vermischt, was für ein zweideutiger Unsinn wird dann aus der Wohltätigkeit! Zu meiner Zeit bestand Wohltätigkeit darin, daß man seinen Namen unter öffentliche Subskriptionen setzte und in der Kirche etwas in die Büchse tat; es gehörte auch dazu, daß man seinen ehemaligen Dienstboten half, wenn sie in Schwierigkeiten waren, und ihren Kindern anständige Stellungen verschaffte. Wohltätig sein hieß aber nicht eine geschulte Krankenpflegerin oder eine ›Schwester der heiligen Elisabeth‹ werden. Ich bin froh, Maud, daß wenigstens du dich dieser Gesellschaft von verrückten Frauenzimmern nicht angeschlossen hast. Ihre Tätigkeit schickt sich nicht für eine Dame.«

Maud sah von der Zeitschrift auf, in der sie angeblich gelesen hatte, und sagte mit spöttischer Feierlichkeit:

»Du vergißt, daß die heilige Elisabeth eine Königin war. Daher kann es nicht unrecht sein, wenn man ihrem Beispiel folgt.«

»Warum nennst du die Königin Elisabeth eine Heilige?« fragte Oliver, »war sie nicht eher das Gegenteil?«

Maud lachte halb belustigt, halb spöttisch. »Aber Oliver, du bist wirklich kostbar! Nicht die Königin Elisabeth von England ist gemeint, mein Lieber, sondern die Königin Elisabeth von Ungarn, Landgräfin von Hessen. Wir erheben Anspruch auf sie, denn sie gehörte in die Zeit vor dem bedauerlichen Schisma, wo das verderbte italienische Papsttum vom Heiligen Stuhle abfiel.«

»Was soll das heißen?« rief Mrs. van de Weyer. »Du schwätzst Unsinn.«

»Ich meine den Heiligen Stuhl von Canterbury

»Maud! Mache dich nicht über die Illusionen deiner armen Schwester lustig. Schließlich sind sie ihr ein Trost.«

Trotzdem lachte Tante Caroline ebenso herzlich wie ihre Enkelin; und Oliver fand sie beide doch recht boshaft. Bei einer alten Frau mochte man das als den Zynismus der Lebenserfahrung noch durchgehen lassen, aber bei einem jungen Mädchen wie Maud war es häßlich. Er hatte eigentlich vorgehabt, sie zu einer kleinen Spazierfahrt aufzufordern, aber da er sah, daß der Tag besonders mild war, forderte er statt ihrer Tante Caroline auf.

»Nein, nein. Das Ein- und Aussteigen fällt mir zu schwer. Nimm Maud mit.«

Maud warf ihr Magazin ungeduldig hin und trat vor den Spiegel, um sich zu betrachten. »Zwinge den armen Jungen nicht, mich gegen seinen Willen einzuladen«, sagte sie. »Übrigens kann ich auch gar nicht mitkommen. Ich habe eine Verabredung.« Nachdem sie ihre Locken mit befriedigter Miene endgültig zurechtgezupft hatte, setzte sie sich neben ihre Großmutter auf die Kante des Sofas und ergriff die Hand der alten Dame. »Großmama«, sagte sie sanft, »du weißt, Senator Lunt aus Montana ist gerade in New York. Darf ich ihn für heute abend zum Dinner einladen? Ohne ihn wären wir nur neun und hätten einen Herrn zu wenig. – Ja, ja, es ist ein Familienessen. Gerade deshalb möchte ich ihn einladen. Dann könnte er uns alle auf einmal kennenlernen, und die Sache wäre erledigt. Freilich gehört er nicht zur Verwandtschaft, noch nicht«, – Maud legte ihre Wange an die ihrer Großmutter und wurde ein wenig erregt – »aber er wird bald dazu gehören, denn ich werde ihn heiraten.«

Mrs. van de Weyer sah ihre Enkelin einen Augenblick lang ernst an und küßte sie dann.

»Maud, wie kommst du dazu? Seit wann spielt diese Sache? Hast du mit deinem Vater darüber gesprochen?«

»Noch nicht. Die Sache spielt erst seit heute morgen – offiziell, meine ich. Gestern abend war er bei Reids mein Tischherr und hat mir die ganze Zeit heftig den Hof gemacht, nur war er zu schüchtern, um wirklich die bewußte Frage an mich zu richten. Aber heute morgen hat er mich angerufen. – ›Sind Sie es?‹ – ›Ja.‹ – ›Guten Morgen, wie geht es Ihnen? – Sie waren gestern abend so schön!‹ – Plötzlich wird er ganz still. – ›Stehen Sie oder sitzen Sie? Denn ich habe Ihnen viel zu sagen und möchte nicht, daß Sie die ganze Zeit stehen.‹ – ›Nein, ich stehe nicht. Ich sitze aber auch nicht. Ich bin noch im Bett.‹ – Er konnte hören, wie ich lachte, und ich konnte beinahe hören, wie der gute Mann errötete. Seine erste Frau sprach niemals von Betten. Aber er erholte sich schnell wieder. Es machte ihm Spaß, chokiert zu werden, es ist was ganz Neues für ihn. – Er fing also wieder an zu reden – du weißt, wie langsam und voll seine Stimme ist, denn er stammt ja eigentlich aus dem Süden, obwohl er jetzt in Montana lebt – und er sagte: ›Ausgezeichnet! bleiben Sie, wo Sie sind, und lassen Sie mich reden.‹ Ich ließ ihn reden und sagte dann, das käme mir alles so überraschend, aber wenn er um drei Uhr noch einmal anriefe, hätte ich mich bis dahin vielleicht entschlossen und könnte ihm sagen, ob meine Großmutter wünsche, daß er heute abend zu uns zum Dinner käme, um der ganzen Familie vorgestellt zu werden.«

»Senator Lunt, Madam«, kündigte das Mädchen an, »ist am Telephon und möchte Miß Maud sprechen.«

»Ach«, rief die junge Dame, während sie enteilte, »und dabei ist's erst dreiviertel drei!«

Das Dinner wurde an diesem Abend eine halbe Stunde später angesetzt, um den zwei Liebenden Zeit zu geben, ihren Bund im Wintergarten zu besiegeln, während oben das Ereignis von der versammelten Familie diskutiert wurde. Oliver stand schweigsam wie stets neben Edith, die ebenfalls kaum etwas sprach. Er bemerkte, daß sie ein feierliches schwarzes Gewand trug, das streng, aber knapp war, und wohl darauf berechnet, ihre marmornen Reize durch den düsteren Kontrast zu heben. Sie sagte nicht, daß dieser Senator aus dem Westen nicht gut genug für Maud sei, denn damit hätte sie Mauds Verdienste übertrieben, und sie konnte auch nicht sagen, daß er zu gut für sie sei, denn damit hätte sie ihm zuviel Wichtigkeit beigemessen.

»Die Leute sagen«, bemerkte Tante Caroline, »daß er eines Tages Präsident werden wird. Meno male. Denkt nur, wie das klingen wird: ›Der Präsident der Vereinigten Staaten und Mrs. ...‹ – wie ist eigentlich sein vollständiger Name?«

»Roscoe C. Lunt«, sagte Onkel James.

»Und was bedeutet das C? Bloße Initialen genügen uns nicht.«

»Du erinnerst dich doch, Mutter, daß Grant ›Ulysses S. Grant‹ hieß, und daß das S weiter gar nichts bedeutete.«

»Grant war ein furchtbarer Mensch. Senator Lunt aber hat Tradition. Der einzige Roscoe, von dem ich je hörte, war Roscoe Conckling. Da haben wir es schon: ›Der Präsident der Vereinigten Staaten und Mrs. Roscoe Conckling Lunt.‹ Ich glaube, wir müssen uns daran gewöhnen.«

»Es ist wohl kaum zu erwarten, daß er wirklich jemals Präsident wird. Montana ist kein sehr bedeutender Staat. Aber möglicherweise könnte er eines Tages Vizepräsident werden. Er ist der jüngste der Senatoren und wird wegen seiner Beredsamkeit viel bewundert.«

»Vizepräsident würde ja auch genügen. Ein Präsident kann immer ermordet werden; und dann bliebe Maud vielleicht noch während einer zweiten Präsidentschaft im Weißen Haus. Ich bin sicher, sie würde ihre Sache besser machen als die meisten Präsidentenfrauen. Sie hat mehr Initiative, sie ist eine Dame und hat gesunden Menschenverstand. Außerdem wäre sie auch jünger als die meisten.«

»Und moderner«, fügte Onkel James mit besorgtem Ausdruck hinzu. »Am Ende würde sie nicht immer tun, was man von ihr erwartet.«

Hinter dem Wandschirm an der Wohnzimmertür war ein leichtes Rascheln zu hören, und herein kam die junge Dame mit ihrem eroberten Staatsmann an der Hand. Oliver hatte sie niemals so strahlend gesehen; sie hatte ihr bestes Abendkleid an, weiß und silbern, mit Rosenknospen verziert; und ihre lachende, spöttische Art trug dazu bei, daß jede Verlegenheit bald überwunden war. Inmitten ihres sonderbaren kleinen Dramas behielt sie einen klaren Kopf; alle schüttelten dem Brautpaar glückwünschend die Hand, als aber Oliver an die Reihe kam, schien trotz ihres Triumphes und offenkundigen Glücks ein zorniger Funke, fast wie eine Träne, in ihrem Auge aufzublitzen, als wollte sie sagen: ›Bitte, nimm Kenntnis davon, daß die Leute, die Wert auf mich legen, bedeutender sind als die, die es nicht tun.‹

Edith und Oliver standen den ganzen Abend ziemlich abseits, sie blieben gleichsam verlassen in ihrer eigenen Unwirklichkeit zurück; Oliver, der wichtigen Persönlichkeiten aus der Geschäftswelt oder der Politik bisher noch selten begegnet war, hörte aufmerksam dem Gespräch zu, das der Senator fast ausschließlich mit Tante Caroline führte. Er erzählte von Montana, seinen weiten Ebenen, seinem Klima, seinen Möglichkeiten; bescheiden nannte er seinen Besitz ›unser Geschäft‹, und wenn er von sich selbst sprach, sagte er ›wir‹, indem er alle seine Angestellten mitrechnete; doch aus seinen Worten ging hervor, daß er die größte Viehzuchtranch in der Welt besaß, daß er dieses große Unternehmen und das damit verbundene Landleben sehr liebte, und daß seine politische Tätigkeit in Washington und seine gesellschaftlichen Beziehungen dort für ihn mehr ein pflichtschuldiges Zugeständnis an die Welt bedeuteten, während sein Herz in Montana blieb; und er wünschte Maud denn auch weniger nach Washington als nach Montana zu verpflanzen, damit sie die zivilisierte Eva dieses rauhen Paradieses werde. Es kam auch heraus, worin das Geheimnis seiner berühmten Beredsamkeit bestand, die weder bombastisch, noch altmodisch, sondern wahrhaft poetisch anmutete. Er hatte Homer gelesen! In seiner Jugend war ihm Bryants Übersetzung der Ilias in die Hände gefallen und hatte ihm solchen Eindruck gemacht, daß er Griechisch lernte, um das Original studieren zu können; und die Ilias war für ihn wie für Alexander den Großen das Vademecum geworden. »Ich glaube«, sagte er, »wir können uns gestatten, alles seit Homer zu überschlagen; es war ein Zwischenspiel und als solches schön und gut, aber es bedeutet uns heute nichts mehr. Homer dagegen ist und bleibt das Fundament; er ist für uns heute noch so wirklich wie je: er zeigt uns ursprüngliche Menschen in einer ursprünglichen Welt.«

Oliver, der an der andern Seite seiner Tante saß, ließ sich kein Wort entgehen; er stellte manchmal sogar eine Frage, um den Senator zum Weiterreden anzuregen und später am Abend alles sorgfältig in sein Tagebuch eintragen zu können. ›Senator Lunt‹, schrieb er, ›ist ein glänzender Geist, noch jung, aber ein Lebenskünstler, vorurteilsfrei und großzügig.‹ Warum konnte er, Oliver, selbst nicht so sein? Warum hatte er nie auf einer Ranch gelebt? Warum hatte er nicht alles seit Homer überschlagen?

Edith wies später, als sie diese Frage diskutierten, darauf hin, daß man damit auch das Christentum überschlagen würde. Senator Lunt sei ein Heide. Wenn er wirkliche Herzensgüte besitze, so habe er sie durch seine christliche Erziehung, nicht durch Homer bekommen. Bei Homer seien, soviel sie wisse, die Männer wie das liebe Vieh, sie brüllten und würden geschlachtet; und vielleicht schätze Senator Lunt die Ilias deswegen so sehr, weil sie ihn an seine Ranch erinnere.

Oliver nahm diesen Hohn mit einer Begeisterung auf, die sie ärgerte. »Ganz recht«, rief er, »Homer ist mitleidslos, er vertuscht nichts und fügt nichts hinzu und erzählt einfach die schreckliche Wahrheit. Und doch bewegt er sich auf der Sonnenseite des Lebens; er beschreibt die Tragödie, die sich im vollen Sonnenlicht abspielt, die Verzweiflung am heißen Mittag, den Tod in der Blüte der Jugend; und man fühlt, daß die Sonne deswegen genau so strahlend weiter scheinen wird, und daß der nächste Morgen genau so herrlich und genau so grausam heraufsteigen wird. Denkst du, daß Senator Lunt etwa nicht weiß, wozu seine große Ranch da ist? Um dem Schlachthof von Chicago Wagenladung auf Wagenladung von Ochsen zu liefern! Es ist ein langer Weg bis dahin; er sieht das Blut nicht, und er riecht es nicht, wie Irma und ich, als wir an diesen entsetzlichen Ort kamen; aber er weiß, daß das Grauen dort herrscht und herrschen muß. Ich bin sicher, das ist einer der Gründe, weshalb er auf Homer schwört. Homer bejahte die Dinge so, wie sie nun einmal sein müssen, er fühlte ihre Schönheit und gab sich keinem Hokuspokus hin, um das Entsetzen hinweg zu erklären und dabei die ganze Wahrheit und Schönheit der Natur zu unterschlagen. Er sah alles bei Tageslicht; das tat auch Goethe und das tut Senator Lunt. Und glaube nicht, daß das im Gegensatz zur Wahrheit des Christentums steht, zur sittlichen Wahrheit, meine ich, wenn wir von aller Legende und Mythologie absehen. Nur bewegt sich das Christentum auf der Schattenseite, im nächtlichen Dunkel, sieht alles vom Standpunkt der Seele aus und nicht so, wie es wirklich geschieht und geschehen muß. Du magst einwenden, daß der Standpunkt der Seele der entscheidende, der einzig wichtige Standpunkt sei. Deswegen sind ja Christentum, Philosophie und alle übrigen Religionen so interessant; sie sind vielleicht wahr für die Seele und enthüllen unsere moralische Natur. Aber sie zeigen uns diese moralische Natur nicht in ihrer wahren äußeren Umgebung, wie Homer das tut; daher kann Senator Lunt alles seit Homer überschlagen und dennoch eine genaue Karte der Welt vor sich haben, auf der jedes Ding an seinem Platz ist. Das ist großartig und gesund für einen Tatmenschen, viel besser als Grübeln und Bohren und Herumspielen mit seinen eigenen Einfällen, wie es mein armer Vater gemacht hat, und wie ich's auch mache.«

Edith war nicht erbaut über Olivers Irrwege – denn Irrwege bedeuteten diese Ansichten in ihren Augen – und ebensowenig über die Verlobung ihrer Schwester. Es war betrüblich, daß die höchsten Interessen so blind von Leuten übersehen wurden, denen in ihrem eigenen Hause alle Möglichkeiten zur Verfügung standen, sich eines Besseren zu belehren; es war traurig, daß ein so ernster junger Geist wie Oliver von so vielen verschiedenen nichtigen Lehren in Verwirrung gebracht werden sollte. Da war es fast besser für den Jungen, wenn er in das aktive Leben eintrat, in eine Bank etwa; dann konnte er, wenn er einmal älter war, sich religiösen Fragen mit mehr Reife und aus größerem Bedürfnis nach einem übernatürlichen Glauben wieder zuwenden. Sie fragte ihren Vater, ob er Oliver nicht einen Platz in seinem Kontor anbieten könne, und ihr Vater begrüßte diesen Gedanken mit einem wohlwollenden Lächeln. Von einem jungen Mann mit Olivers Vermögen erwartete man eigentlich, daß er Bankier würde; besonders da sein Besitz nicht an einer Stelle zusammengefaßt war, und sein Vater nicht an der Spitze irgend eines bedeutenden Geschäftshauses gestanden hatte. Frisches Blut und frische Millionen kämen nicht unwillkommen; die Bank der Familie war ohnehin etwas schläfrig und altmodisch geworden; sie wurde allmählich vergessen und geriet in den Schatten von Leuten wie den Morgans, die beständig in den Zeitungen standen. Ja, es ließ sich leicht im Bankhaus der van de Weyers ein Platz für Oliver finden.

Am Tage vor seiner Abreise sagte Edith gütigerweise alle anderen Verabredungen ab und richtete es so ein, daß sie ihren ganzen Nachmittag ihrem jungen Vetter widmen konnte. Sie wollten eine lange Fahrt zusammen machen. Ach nein, nicht wieder nach Staten Island. Sie gehörte dem Komitee, das die kleine Missionskirche betreute, nicht mehr an. Wie häßlich war diese Kapelle schließlich doch geblieben trotz aller ihrer Versuche, eine religiöse Atmosphäre zu schaffen! Reverend Edgar Thornton war trotz seiner Jugend nun an eine richtige Gemeinde berufen worden, wo seine großen Gaben als Prediger und Seelsorger nicht mehr so grausam vergeudet wurden; und ein überalterter Landpfarrer von der alten Low Church-Richtung, der alle wahre Andächtigkeit und Frömmigkeit nur schief ansah, war an seine Stelle gekommen. Das Wetter war so sommerlich, warum sollten sie nicht einmal nach Westchester fahren und bei ihrer Tante Miriam, die die Stadt schon verlassen hatte, Tee trinken?

Im Auto wandte sich die Unterhaltung natürlich Mauds Verlobung zu. »Wenn du Senator Lunt so sehr bewunderst, dann frage ich mich, warum du so müßig umherreisen und an all diesen philosophischen Theorien herumrätseln willst, die mir gänzlich willkürlich und unverständlich vorkommen, statt daß du sofort ein Leben in der praktischen Welt anfängst. Ich weiß sicher, mein Vater würde dich mit Freuden in seine Firma aufnehmen. Und wenn du wirklich so viel Wert auf meine Freundschaft legtest, wie du es immer behauptest, dann würdest du nicht an die äußersten Enden der Welt verschwinden wollen, sondern dich ganz nüchtern hier in New York niederlassen, wo wir uns dauernd sehen könnten.«

Ein paar Sekunden blieb Oliver stumm. Er füllte, wie eine große Welle von Verzweiflung über ihn kam, wie sich ein Abgrund auftat, der ihn nicht nur von Edith trennte, sondern von allem und allen. Wie konnte diese intelligenteste und einsichtsvollste aller Frauen ihn so entsetzlich mißverstehen! Wie konnte sie vorgeben, Verständnis für ihn zu haben, und dabei so lieblos sein! Wie konnte sie sich für tief religiös und geistig überlegen halten und sich dabei so unfähig zeigen, die geringste Spur von Hingebung und Opferbereitschaft aufzubringen!

Schließlich verminderte er die Geschwindigkeit des Wagens und sagte bedächtig:

»Wir würden uns dauernd sehen, wenn wir verheiratet wären. Ich habe dich gebeten, mich zu heiraten, nicht mich ins Schlepptau zu nehmen. Ich wollte, daß du mein Leben mit mir teiltest; ich habe dir nicht angeboten, deine Lebensweise anzunehmen. Du wärest mir eine wundervolle Hilfe, eine wundervolle Quelle des Glücks. Warum solltest du dabei nicht auch glücklich sein? Was würdest du versäumen, das zu besitzen der Mühe wert ist? Etwas anderes gefällt dir ja auch nicht besser, nicht einmal Mario. Ich habe das vom ersten Augenblick an gewußt. Aber ich sehe jetzt, daß du nicht an mich glaubst. Es kommt dir gar nicht in den Sinn, daß es die Mühe lohnen würde, mir beizustehen und mich glücklich zu machen. Du begreifst nicht, daß ich mit einem furchtbaren Problem kämpfe, daß ich versuche, meine Seele zu retten. Das kümmert dich nicht. Du liebst mich nicht.«

Nun war es Edith, die stumm blieb. Ihr schnelles Auffassungsvermögen ließ sie die Antwort, die ihr zuerst in den Sinn kam, unterdrücken: nämlich, daß sie sich gerade darum bemühe, seine Seele zu retten. Sie fühlte den grundlegenden Unterschied zwischen dem, was die Rettung der Seele für ihn bedeutete, und dem, was sie für sie selbst bedeutete. Er war zu tief für sie; er war seltsam, heidnisch, dunkel und beunruhigend. Sie überwand auch ihre zweite Regung: zurückzuschlagen, ihn einen unverschämten, grünen Jungen zu nennen, der sich selbst zum Mittelpunkt des Universums machte und sie aufforderte, für ihn die Rolle der Martha, wenn nicht gar die der Maria Magdalena zu übernehmen; eine Art von häuslicher Nonne zu werden, die an seinen Lippen hängen und seinen Vorschriften gehorchen sollte, eine Art Sklavin, wie sie Calvin oder John Knox zum Weibe haben wollten, um den Stachel der Sinne zu befriedigen und sich Essen kochen zu lassen. Nein, die Flamme des Geistes brannte in ihm zu klar und zu schmerzlich, als daß man sich hätte über ihn lustig machen können. Sie mußte ihn so nehmen, wie er sich selbst einschätzte, und ihn durch ihre überlegene Güte und Sympathie besiegen.

Glücklicherweise erinnerte sie sich noch an die schöne Predigt, die der junge Mr. Thornton am vergangenen Sonntag über die Rettung der Heiden gehalten hatte. Er hatte so barmherzig, so großmütig gesprochen, hatte jede Trauer um Menschen, die keine Christen zu sein schienen, verscheucht, und hatte doch gleichzeitig gezeigt, was für ein herrliches Vorrecht es war, zur wahren Kirche zu gehören. Wirklich, es schien eine Fügung, daß sich diese Worte so gut auf Oliver anwenden ließen.

»Bitte, sage nicht, daß ich mir nichts aus dir mache«, begann sie in ihrem liebevollsten und holdseligsten Ton. »Ich mache mir sehr viel aus dir und immer mehr, je länger ich dich sehe. Aber du hast ganz recht damit, daß ich dich nicht genug liebe, ich kenne dich nicht genug, um mein ganzes eigenes Leben aufgeben und mich völlig in deinem verlieren zu können. Noch weißt du kaum selbst, was aus deinem Leben werden soll, und du verlangst zu viel von mir. Später einmal wirst du vielleicht bei einer andern Frau auf diese absolute Hingabe Anspruch machen können. Vielleicht hast du dich mir nur zugewandt, weil du noch so jung bist, und hast gedacht, ich könnte dir helfen, weil ich etwas älter bin und mehr Welterfahrung besitze. Aber brauchst du, wo es sich um so große Probleme handelt, wirklich die Führung einer Frau, einer Gattin? In einer christlichen Ehe hilft die Frau dem Manne die Pflichten der sozialen Stellung erfüllen, sie gibt ihm manchen Wink, sie hält ihn zurück, wo er vorschnell sein könnte, aber sie nimmt nicht die Führung seines geistigen Lebens an sich. Besonders nicht, wenn es sich um einen Menschen wie dich handelt, der so viel Tiefe hat; zu dir wird die Gnade unmittelbar kommen. Um sicher zu sein, daß deine Eingebungen von Gott stammen, brauchst du nur den Rat eines sehr klugen Mannes, der die Erfahrung der Heiligen besitzt. Im wesentlichen aber müssen wir allein leben. Diese Probe müssen wir mehr oder weniger alle bestehen. Und ich glaube fast, du bist einer der seltenen Menschen, die in besonderem Sinne zu einem einsamen Leben berufen sind. Weißt du bestimmt, ob du überhaupt zu heiraten brauchst? Vielleicht brauchst du nicht einmal die Kirche, denn Gott hat noch andere Kinder, die nicht zu seiner christlichen Herde gehören. Im Altertum und unter den heidnischen Völkern hat es heroische Seelen gegeben; und auch in der modernen Welt wird es einige geben, die noch nicht in die sichtbare Kirche berufen sind, sondern zuerst gleichsam in der Wildnis leben müssen. Das scheint sehr betrüblich; jedenfalls liegt ein Geheimnis darin. Wenn einer von uns Gläubigen dich in der besten Absicht leiten wollte, so wäre es möglich, daß du dadurch von Gott fortgetrieben würdest, statt zu ihm hin; denn Gott hat sich von jeher in der Natur, in der Geschichte und im Gewissen enthüllt, ehe er sich auf wunderbare Weise klar und liebend durch Christus in der Kirche enthüllte. Für dich mag der rechte Pfad rauh und einsam sein; aber wer weiß, ob wir nicht am Ende entdecken – vielleicht in einem andern Leben – daß unsere verschiedenen Wege uns doch zusammengeführt haben.«

Diese barmherzige Predigt ließ Oliver kalt. Jene Edith, die im Krankenhause seine Bettücher glatt gestrichen und ihm ihre dunkelroten Rosen zurückgelassen hatte, die Edith, die sich inzwischen so viele Male wie eine Göttin nah, ganz nah zu ihm herabgeneigt hatte, diese schöne göttliche Edith schien sich gänzlich in Nebel aufgelöst zu haben. Es hatte ihn niemals nach ihren Ideen, nach ihrer geistigen Führung verlangt. Es hatte ihn nach ihr selbst verlangt. Sie sagte, er brauche die Ehe nicht. Nicht im materiellen Sinn vielleicht. Materiell betrachtet konnte er ohne sie auskommen. Aber er brauchte Liebe. Offenbar wußte sie nicht, was Liebe war, oder sie hatte keine zu geben.

Tante Miriam empfing sie mit einer Miene befriedigter Erwartung, die zu sagen schien: ›Ich wußte ja, daß ihr kommen würdet, und da seid ihr also! Wieviel netter ist das, als wenn wir uns unverhofft getroffen hätten!‹ Oliver hatte Miß Stuyvesant seit jenem Abend in der Oper nicht wiedergesehen. Sie schien immer noch das schwarze Spitzenkleid zu tragen (nur daß es heute nicht durchsichtig war) und dieselbe ekklesiastische Halskette mit dem kleinen, über ihrem Herzen befestigten Emailkruzifix.

»Meine Liebe«, rief sie, als sie alle bequem dasaßen und der Tee gebracht worden war, »ich bin froh, daß du so früh gekommen bist, denn ehe Mr. Thornton kommt, möchte ich dir doch erzählen, was für einen wundervollen Erfolg er in seiner Gemeinde hat. Sogar die Armen lieben ihn, und er hat schon alle Leute besucht, die ihre Sommerwohnungen hier haben, selbst die, die noch in New York sind. Dadurch hat er so schöne Subskriptionen bekommen, daß die ganze Hypothek schon so gut wie getilgt ist. Und das alles hat er in nur drei Monaten erreicht! Aber er hat ja auch so viel magnetische Kraft; Licht und Balsam scheinen von ihm auszuströmen, wo er geht und steht. Und dabei hat er so gar nichts Tränenreiches und Sentimentales; im Gegenteil: er ist ein großer Gelehrter mit erhabenen Gedanken. Der neue Kursus für Kirchengeschichte ist jeden Freitagabend überfüllt, und er verteilt jedesmal ein gedrucktes Blättchen mit einer wundervoll formulierten Zusammenfassung seines Vortrags. Ich hebe meine alle auf, damit ich sie am Ende der Saison binden lassen kann. Das wird ein reizendes kleines Buch geben. Und dann natürlich – aber das brauche ich dir nicht erst zu sagen – sein gebieterisches Auftreten und sein feingeschnittener, edler Mund! Ich bin sicher, in kurzer Zeit wird er Bischof werden. Außerdem ...«

In diesem Augenblick läutete es an der Haustür, und Miß Stuyvesant blickte mit feinem Lächeln nach dem Stuhl und der Teetasse, die für den jungen Geistlichen bereit standen, als sähe sie ihn in ihrer heiteren Vorfreude schon zwischen sich und ihrer Nichte dasitzen.

Oliver erkannte auf den ersten Blick den Typ, den Mr. Edgar Thornton verkörperte: hier war vollkommene Männlichkeit ganz bewußt mit erhabener Weihe vermählt. Solche Erscheinungen hatte er in England schon gesehen; nur war Mr. Thornton in seinem Benehmen herzlicher und verbindlicher, fast jovial, wie es einem Amerikaner in der Gesellschaft reizender Damen wohl anstand. Es war für einen jungen Geistlichen von besonderer Wichtigkeit, nicht salbungsvoll zu wirken. Solange die Gastgeberin die Unterhaltung nicht auf religiöse Dinge lenkte, vermied er jedes Fachgespräch sorgfältig. Er erzählte nur von den schnellen Möwen, die er beobachtet hatte, als er an dem stürmischen Strand entlang gegangen war, und von den lieblichen frühen Krokusblüten, die gerade aus dem Grase hervorsproßten; besonders eine hatte er beobachtet, die in einem schattigen Winkel sich tapfer ihren Weg durch einen Rest von Schnee erkämpfte. Kurz gesagt, die Teegesellschaft hätte gar nicht erfreulicher verlaufen können; nur Oliver hatte kaum einmal seinen Mund aufgetan, und als sie aufstanden, um zu gehen, wandte sich Mr. Thornton, der etwas Freundliches zu sagen wünschte, an ihn und fragte ihn, ob er nicht in der Universitätsrudermannschaft sei.

»Ich trainiere mit«, erwiderte Oliver trocken, »aber ich bin nicht im Boot, ich bin Ersatzmann.«


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