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An entlegeneren Stellen des schrecklichen Vorlesungsprogramms waren gewisse ›Übungen für Fortgeschrittene‹ angekündigt, enge Felsenpfade, mit deren Hilfe man das Wissen bis hinauf an seine Quellen verfolgen konnte, die stets der grünen Erde entsprangen; denn an ihren Quellen wird die Wissenschaft wieder so frisch und witzig wie eine Tagesneuigkeit und die Geschichte so spannend wie eine Reise oder wie ein amüsanter Klatsch. Alte Briefe, alte Manuskripte, alte Drucke lockten Mario an; ihre unbedeutenden Details waren so bedeutend. Sie ans Tageslicht zu ziehen hatte den ganzen Zauber einer Indiskretion. So wählte er einen Halbjahreskurs über Villon und die Troubadours, einen über die Kunst der Sarazenen in Spanien und einen über europäische Kriegsgeschichte im siebzehnten Jahrhundert. Diese nur aus drei oder vier Teilnehmern bestehenden Seminare kamen in einem Raum der Bibliothek oder im Arbeitszimmer eines Professors zusammen.

Wenn nun Mario, dieser Märchenprinz, der so offenkundig der Jeunesse dorée angehörte, sich für solche Kurse anmeldete, sahen ihn die würdigen Herren mit einiger Überraschung über ihre Brillengläser hinweg an; doch nach einem Gespräch von fünf Minuten waren sie beruhigt. Marios fließende Beherrschung verschiedener Sprachen, seine Lebendigkeit, seine Improvisationen über Päpste, Könige und Künstler überzeugten sie davon, daß sie hier einen ungewöhnlichen jungen Mann vor sich hatten, einen geborenen Kenner, der sich schon jetzt unter Raritäten heimisch fühlte. Bald wurde Mario das Glühwürmchen in diesem gelehrten Zwielicht; und wenn die glanzlosen Bücherwürmer sich entfernt hatten, hielt ihn der Professor zuweilen zurück, um ihm die Verzweigungen eines historischen Skandals zu erklären oder ihm in irgend einem imponierenden Quartband die Wappen und Porträts mit ihren lateinischen Epigrammen zu zeigen. Die Epigramme waren für Mario ein Kinderspiel, obwohl er taktvoll zuhörte, wenn sein Mentor sie entzifferte und sorgfältig analysierte wie schwierige Rätsel.

Auf dem Wege zu diesen kleinen Zusammenkünften konnte man Mario an späten Herbstnachmittagen durch den verlassenen Yard stapfen sehen; er trug dann eine große grüne Ledertasche unter dem Arm, wie sie sonst niemand hatte. Sie war abgenützt und mit der Zeit unförmig geworden, aber immer noch mit einem prächtigen silbernen Monogramm und einem in Silber gearbeiteten Helmbusch geschmückt, der als Verschluß diente. Dieses verblichene Erbstück hatte Marios Vater auf seinen ersten Malerfahrten begleitet, als der ›liebe Harold‹ noch glaubte, ein zweiter Turner zu sein und die Alpen und die Wolken im Sturm erobern zu können. Später, als seine Begeisterung für Architektur und Heraldik im Aufstieg begriffen war, hatte die große Mappe mit ihren embryonalen Turners an regnerischen Nachmittagen den Zeitvertreib des kleinen Mario gebildet; sein zärtlicher Vater hatte ihn damals ermuntert, die Skizzen zu vollenden und Piratenschoner und königliche Fregatten in die Schweizer Seen hineinzumalen. Jetzt beförderte der Sohn in der Mappe Bücher und Schriftstücke von einem Kollegsaal in den andern; und die alten Erinnerungen, die sich an sie knüpften, schienen die neuen Studien zugleich unterhaltender und anspruchsloser zu machen. Er pflegte die alte Mappe zu ergreifen und mit munteren Schritten und glühenden Wangen in seine Vorlesungen zu laufen. Die vielfältigen Einzelheiten der Wissenschaft hafteten so angenehm in seinem Geiste wie die Abenteuer eines Gil Blas oder eines Casanova; gerade den kleinen Ereignissen, den Einsichten in das Leben der Vergangenheit war ebenso wie dem Tonfall alter Verse die Würze der Wahrheit eigen. Vielleicht gab es gar keine großen Ereignisse: ein großes Ereignis war nur ein Ausdruck für unsere Unkenntnis der kleinen Ereignisse, aus denen es sich zusammengesetzt hatte. Summarische Überblicke waren für die Rhetorik der Politik notwendig; sie waren grobe Masken, geschaffen für das Auge der Öffentlichkeit oder vom Auge der Öffentlichkeit; aber die bescheidene Wahrheit der Dinge fand man in den feineren Geweben; sie lag verborgen in den vergessenen Leidenschaften und vergessenen Zufälligkeiten, die in Wirklichkeit den Gang der Geschichte bestimmten.

Inzwischen saß in dem Zimmer, das einst den Schlaf Emersons gehütet hatte, Oliver Abend für Abend an seinem Schreibtisch im hellen Lichtkreis der einzigen von der Decke herabhängenden Lampe. Papiere und Bücher für die ernsthafteste Arbeit waren vor ihm ausgebreitet; doch häufig lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, ohne sich zu rühren, sein leerer Blick verlor sich in den ringsum lagernden Schatten, und sein Geist war nur damit beschäftigt, den Drehstuhl zur Ruhe zu bringen – es war angeblich der richtige Stuhl zu dem Schreibtisch – und ihn zu hindern, sich von links nach rechts und dann wieder von rechts nach links zu drehen oder unsicher nach vorn oder nach hinten zu wippen. Die Kreisbewegungen dieses Sitzes kamen ihm wie ein Symbol für seinen Geisteszustand vor: verschiedene gleichgültige Ausblicke öffneten sich vor ihm und schlossen sich wieder, keiner von ihnen schien irgend einen Weg zu zeigen oder der Erforschung wert zu sein.

Dann wurde Oliver von jener Müdigkeit nach der Essensstunde ergriffen, die so oft den Sportsmann befällt; er hatte nach der harten körperlichen Anstrengung in der winterlichen Luft ein kräftiges Abendessen zu sich nehmen müssen; denn jetzt, wo er nicht mehr rudern konnte, hatte er angefangen, mit der Meute zu rennen, d. h. mit der Rudermannschaft, auf Remingtons Einladung hin. Außerdem gehörte ja auch diese ganze Philosophie, mit der er sich beschäftigte, der Schattenseite der Welt an, sie war nur ein Chaos aus Reden, Streitigkeiten und Meinungen. Ein Babel: jeder tat ganz sicher, und niemand wußte wirklich, worüber er sprach. Doch wie man sich aus Gesundheitsgründen Bewegung machen mußte, auch wenn man davon schläfrig wurde, so mußte man Philosophie studieren, um nicht allzu unwissend zu bleiben und sich mit Intelligenz über die letzten Dinge klar zu werden; oder doch wenigstens, um mit Recht sagen zu können, daß es unmöglich sei, sich über diese letzten Dinge klar zu werden.

Dennoch gab es Augenblicke, wo die ganze gesammelte Stärke von Olivers innerem Leben zur Oberfläche durchbrach. Dann waren seine Ideen nicht mehr verworren, schwerfällig und widerspenstig, sondern formten sich zu kraftvollen Worten. Schließlich war seine Erziehung ausgezeichnet gewesen; er war in den höheren Regionen des Fühlens und Wissens zu Hause, und all die billige Sentimentalität und die Schlagwörter des modernen Lebens hatten ihn kaum berührt. Dazu besaß er von Natur einen unbestechlich reinen Geist, der Kompromisse und Unklarheiten haßte und sich nicht scheute, im Dienst der Wahrheit grausam zu sein.

In dieser Zeit verfaßte er in einem Augenblick geistiger Euphorie den Aufsatz über Plato, durch den ich zuerst auf ihn aufmerksam wurde, und der also indirekt zur Ursache dieses Buches geworden ist. Er hatte den Phaidros und das Symposion gelesen und pflichtgemäß einen korrekten, wenn auch ziemlich mageren Überblick über die darin enthaltenen Lehren abgefaßt; doch auch persönliche Äußerungen wurden verlangt, und hier nun ließ er sich endlich einmal freien Lauf. Es war weder der Geist Platos, noch der Geist Emersons, der sich da auf ihn herabsenkte, es war sein eigener Geist, der ihn inspirierte.

»Plato«, schrieb er, »mag ein großer Philosoph gewesen sein, aber er wußte nichts von der Liebe. Er spricht nur von der Begierde. Es ist wahr, daß sich Begierde und Liebe zuweilen auf denselben Gegenstand richten können; ein Mann kann gelegentlich sein Weib begehren und kann es gleichzeitig selbstlos lieben. Aber er kann auch irgend eine andere verführerische Frau begehren, ohne sie zu lieben; und er kann für seine Kinder und seine Freunde Liebe ohne Begehren empfinden.

Liebe ist daher völlig verschieden von Begierde; sie ist selbstlos. Sie kann einen Mann dazu bringen, daß er sein Leben für andere hingibt, indem er für sie lebt oder für sie stirbt. Er ist imstande, sich damit abzufinden, daß die Menschen, die er liebt, sich nicht um ihn kümmern; er begnügt sich mit dem Wissen, daß sie glücklich und edel sind.

Auch der Kummer, den die Liebe unter Umständen bringen kann, ist selbstlos; er besteht nicht in der Sehnsucht nach Vergnügen oder Gesellschaft, sondern ist ein sittlicher Schmerz darüber, daß wir erleben müssen, wie die geliebten Wesen unverdientes Unglück leiden oder sich unwürdig erweisen.

Plato versucht zu zeigen, wie die Begierde sich auf alle Arten von höheren Dingen erstrecken kann, beginnend und endend mit dem Schönen. Doch bleiben diese höheren Leidenschaften immer Begierden, die durch den Besitz in einer Art von Taumel befriedigt werden. Ich glaube, daß spätere Platoniker, die schon Christen waren, dies sogar in die Religion hineingetragen haben und daher über das unaussprechliche und überwältigende Glück der Vereinigung mit Gott geredet haben. Wenn Gott ein übermenschliches geistiges Wesen ist, erscheint dieser Gedanke sowohl sinnlos als auch gotteslästerlich.

Die Verwechselung von Liebe und Begierde führt bei Plato zu der schrecklichen Folgerung, daß es der Begierde erlaubt ist, die Freundschaft zu beflecken. In der Freundschaft kann Liebe enthalten sein, vielleicht sogar die höchste und intensivste Liebe, aber nicht das geringste Gran von Begierde; oder wenn sich die Begierde je einschleicht, dann handelt es sich dabei um Übergriffe der Sinnlichkeit, die nichts mit Freundschaft zu tun haben und von der Freundschaft sofort verjagt werden, wenn sie sich läutert und kräftigt.

Andererseits hat Plato die freimütige und verständige Auffassung, daß Verliebtheit eine Art Tollheit ist. Glücklicherweise aber ist diese Tollheit so kurzlebig wie die des Märzhasen.

Plato weist auch mit Recht darauf hin, daß die Begierde verfeinert und auf edle Gegenstände gerichtet sein kann. Es kann dahin kommen, daß geistige Freuden, vor allem die Musik oder die Schönheit der Natur, den körperlichen Genüssen und überhaupt fast jeglichem andern vorgezogen werden.

Was die absolute Idee des Schönen betrifft, so sehe ich ein, daß, falls darunter die Vollkommenheit jedes Geschöpfes innerhalb seiner eigenen Art zu verstehen ist, die Begierde nach dieser Idee wirklich mit der Liebe identisch sein kann. Es wäre dann keine selbstsüchtige Begierde, die in einem Freudentaumel endet. Niemals können wir für unsere eigene Person das ekstatische Glück empfinden, ein vollkommener Delphin oder ein vollkommener Adler zu sein. Doch die Vernunft in uns kann unsere menschlichen Vorurteile korrigieren und uns davon überzeugen, daß andere Lebensformen für andere Geschöpfe ebenso begehrenswert sind wie unsere eigene Lebensform für uns selbst. Wenn wir das unter dem Begriff der platonischen Liebe verstehen sollen, so halte ich diesen Gedanken für eine erhabene Erkenntnis; aber ich wollte, Plato hätte klar ausgesprochen, daß selbstlose Liebe die Begierde in jedem Augenblick des Lebens austreiben kann und nicht nur auf der höchsten Höhe der Philosophie.«

In der Mitte dieses letzten Wortes »Philosophie«, wie es dann im Manuskript dastand, war Oliver offenbar längere Zeit im Schreiben unterbrochen worden. Die Tinte war am Ende des Wortes dünner, die Neigung der Buchstaben anders und ungeschickter.

Wirklich war er gerade dabei gewesen, das Wort mit dem ganzen Schwung felsenfester Überzeugung und aller Freude über den Abschluß einer mühsamen Arbeit niederzuschreiben, als vor seinem Fenster das Signal »Hei! Siegfried« ertönte und seine Feder stockte. Was konnte Mario jetzt zur Nachtzeit und im ersten winterlichen Schneegestöber wohl vorhaben? Aber da stürmte er schon ins Zimmer, warf Hut und Handschuhe auf den Tisch und ließ sich in seinem dicken Pelzmantel in den Sessel fallen.

»Du mußt sofort mit mir nach Boston kommen und dann den Wagen zurückbringen. Ich reise mit dem Mitternachtszug nach New York und fahre morgen früh nach Hause weiter. Ich gehe weg vom College, ein für allemal. Ich muß weg aus zwei Gründen, zwei entscheidenden Gründen; aber ich erzähle dir alles der Reihe nach auf der Fahrt. Komm! Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.«

Oliver, den seine Erfahrungen größte Ruhe und Geduld gelehrt hatten, sah auf seine Uhr. Es war noch lange Zeit bis zum Zug, eine Stunde, während fünfzehn Minuten genügten, um an die Bahn zu kommen. Aber Mario war nervös, blaß und von seiner sonstigen Geistesgegenwart verlassen. – Hatte er sein Billet? Hatte er die Passage bestellt? – Ja, das war alles schon in Ordnung. – Und wo war sein Gepäck? Nahm er nichts als den Handkoffer und diese kleinen Reisetaschen mit? – Nein, Stephen Boscovitz und Charley Street würden die andern Sachen nach Paris nachschicken, auch ein paar von seinen Büchern. Die meisten hatte er schon unter die Mitglieder des Klubs verteilt. Oliver konnte den Wagen haben und auch sein Zimmer; die Miete war im voraus bezahlt; da würde er praktischer und bequemer wohnen als in Divinity Hall.

Auf dem Wege nach Boston konnten sie wegen des Schneetreibens, der scharfen Kälte und der Zugluft in dem offenen Wagen nur wenige Worte über diese Nebensächlichkeiten wechseln. Erst als sie im Zuge in Marios Abteil saßen und noch eine halbe Stunde bis zur Abfahrt Zeit hatten, wandte sich Oliver an seinen Freund und sagte:

»Also was ist eigentlich passiert?«

»Du weißt doch, daß Mrs. Cyril Trumpington mit zwei Mädeln aus ihrer Theatergesellschaft heute nachmittag kam, um Harvard zu besichtigen, das heißt, die Glasblumen und das Stadion; nachher tranken sie auf meinem Zimmer Tee. Pat Milligan, Steve und Charley halfen mir die Honneurs machen. Als die Damen aufbrachen, stieg Mrs. Trumpington mit einem Herrn, den sie mitgebracht hatte, und mit einem der Mädel, die sagte, es sei zu kalt für einen offenen Wagen, in ihr eigenes geschlossenes Auto, während die Hübsche, Aïda de Lancey, mit in meinen Wagen kam. Wir waren noch nicht an der Brücke, als sie plötzlich sehr aufgeregt wurde. ›O, Mr. van de Weyer, lassen Sie uns bitte umkehren, ich habe mein Geldtäschchen verloren. Es muß in Ihrem Zimmer auf den Boden gefallen sein.‹ So wendeten wir, und im Vorbeifahren riefen wir Mrs. Trumpington, die hinter uns herfuhr, zu, weshalb wir noch einmal zurück müßten. Aïda jammerte und klagte auf der ganzen Rückfahrt, wieso sie die Börse nur verloren haben könnte, warum sie sie nicht gleich vermißt hätte, wie schrecklich dumm es von ihr wäre, und daß ich mir nicht vorstellen könnte, wieviel sie ihr bedeute! Es sei ein ganz kleines aus Silber gewirktes Geldtäschchen, aber doch ein Wertgegenstand, weil es ein Geschenk von ihrer aller-allerbesten Freundin sei. Sie zitterte am ganzen Körper, wohl aus Kälte und Hysterie, und lehnte sich an mich. Als wir in Claverley ankamen, drehte ich alle Lichter im Zimmer an und fing an zu suchen: auf dem Fußboden und dann auch in dem Durcheinander von Tischen und Stühlen; wir hatten für den Nachmittag nämlich eine Menge Sachen von Stephen Boscovitz herübergeholt. Nirgends fand sich die Geldtasche. Vielleicht war sie im Schlafzimmer, wo die Damen ihre Mäntel abgelegt hatten. Wir gingen hinein, um nachzusehen. Aïda stand so nahe bei mir, daß sie mich berührte – du weißt ja, wie klein das Schlafzimmer ist – und zitterte am ganzen Körper. Auf einmal stieß sie einen kleinen Schrei aus, halb Seufzer, halb Schluchzer. ›Sehen Sie nur‹, sagte sie, und streckte ihren Arm aus. Und denke dir: die ganze Zeit hatte sie die kleine Börse fest in der Hand gehabt. Hatte sie das von Anfang an gewußt, oder war sie so verrückt, daß sie es wirklich nicht gemerkt hatte? Egal! Das ändert jetzt auch nichts mehr. Denn inzwischen hatte ich sie schon im Arm, und wir waren zusammen aufs Bett gesunken.

Was ist dabei? Solche Sachen kommen mal vor. Das Verteufelte war nur, daß wir erwischt wurden. Zuerst hörte ich Schritte und Stimmen auf dem Flur, dann lautes Klopfen, dann wurde ein Schlüssel im Schloß herumgedreht, und dann kamen mehrere Leute herein. Pat Milligans Stimme sagte: ›Ich wußte, daß er nicht da ist. Er hat doch die Damen nach Hause begleitet.‹ Dann brummte die Stimme des Hausmeisters: ›Aber sein Automobil steht doch draußen. Und alle Lichter sind an, auch im Schlafzimmer.‹ Dann eine schrille, höhnische, gemeine Stimme – es war der Junge vom Telegraphenamt –: ›Er ist nicht aus. Er ist dort drin. Ich glaube, er ist nicht allein.‹

Inzwischen hatte ich mich ein bißchen zusammengerissen, stellte mich in die Schlafzimmertür und drehte das Licht drinnen aus, aber da fing die dumme Person zu reden an, statt sich mäuschenstill zu verhalten, und nun waren wir verloren. Außerdem, glaube ich, hatten sie nun auch alle schon gesehen – genug, um zu erkennen, daß es sich um eine Frau handelte. Ich suchte sie, so gut es ging, zu verdecken, schickte den Hausmeister weg, sagte, ich würde Mr. Milligan alles erklären. Der Telegraphenjunge aber ging nicht weg und grinste wissend. Er wollte noch ein Trinkgeld. Ich gab ihm sein Trinkgeld. Dann sagte ich zu dem armen Pat Milligan, der weiß war wie ein Handtuch: ›Es tut mir sehr leid. Es war ein Zufall. Ganz unvorhergesehen. Sie wissen, daß die Damen zum Tee hier waren. Ich hatte ja Erlaubnis dazu. Als sie weggegangen waren, vermißte die eine ihre Börse. Wir sind zurückgekommen, um sie zu suchen; das übrige hat sich von selbst ergeben – ich weiß auch nicht, wie. Ich werde später auf Ihr Zimmer kommen, damit Sie mir sagen können, was Sie mir zu sagen haben. Jetzt bitte ich, daß ich die Dame ohne Aufsehen nach Haus bringen darf.‹ Er sagte nichts und ging sehr langsam hinaus. Ich glaube fast, er hat sich an der Tür bekreuzigt. Ich hatte die größte Mühe, ihn nachher zu trösten. Dabei hätte das nicht schwer sein sollen, denn ich hatte mich gleich entschlossen, auf alle Fälle von Harvard wegzugehen. Er würde mich vielleicht anzeigen – er mußte mich natürlich anzeigen; aber das würde mir nicht weh tun; sie konnten mich ausweisen, soweit man jemanden ausweisen kann, der schon fort ist. Und darüber, daß er nun seinen kleinen Freund verraten und meinen Ruf ruinieren mußte, brauchte er sich keine Sorgen zu machen und sich in keine Gewissenskonflikte zu stürzen. Mein Ruf in dieser Hinsicht war schon vorher ruiniert – du weißt ja, wie Remington und sein ganzer Kreis mich verabscheuen; und er übte auch keinen Verrat an mir, denn ich hatte vor, auf der Stelle einen Brief an den Dekan zu schreiben, die Tatsachen wahrheitsgemäß zu berichten und ihm gleichzeitig zu sagen, daß ich Cambridge noch in derselben Nacht verließe.

Aber der gute Mann war eben in seinen religiösen Gefühlen verletzt. Er hatte tatsächlich etwas Unanständiges gesehen, hatte eine unsittliche Szene belauscht, hatte seinen Lieblingsschüler in den Armen einer Schauspielerin überrascht, hatte gute Gründe, für meine Seele zu fürchten. Und dann war es so deprimierend, daß ich nun mitten im Semester verschwinden sollte, da ich doch der einzige farbige Fleck in seinem grauen Dasein war. Der arme Pat Milligan! Die ganze Sache ist für ihn doppelt so schlimm wie für mich.

Na, also als wir wieder allein waren, bat ich Aïda, vernünftig zu sein, mit dem Heulen aufzuhören und sich zu überlegen, daß ja eigentlich kein Unglück geschehen sei. Es sei nur ein Schritt bis zum Wagen und die Straße ganz dunkel. Niemand habe sie so genau gesehen, daß er sie wiedererkennen würde, außer Pat, und der sei ein Gentleman und würde den Mund halten. Und sogar er könne nur deshalb vermuten, daß sie es gewesen sei, weil das andere Mädel nicht in Betracht käme.

Sie wusch sich das Gesicht, sah in den Spiegel und puderte sich. Sobald sie im Freien war, wurde sie wieder munter und verhielt sich ganz still und ruhig. Schließlich war's für sie ja nicht das erste Mal gewesen. Um mich brauche sie sich keine Sorgen zu machen, versicherte ich ihr. Wenn ich vom College abgehen müßte, sei ich weiter nicht traurig; im ganzen genommen eher froh. Tatsächlich wäre alles entzückend gewesen, wenn uns nur diese lärmenden Halunken nicht gestört hätten. Ein Telegramm! Als ob ein Telegramm nicht warten könnte!

»Es soll aber eine Kabeldepesche sein«, murmelte sie etwas besorgt. Sie hatte mich nun schon zum Freund auf Lebenszeit erkoren, wie es die Mädchen immer tun.

Ich hatte eine entsetzliche Vorahnung und erschrak so, daß der Wagen einen Ruck machte. Aber ich bekomme fortwährend Kabeldepeschen, und Aïda mußte erst abgesetzt werden. Im Hotel nahmen wir zärtlich Abschied bis morgen; lauter vergnügte Versprechungen und kein ernstliches Bedauern! Dann las ich im Licht des Hoteleingangs das Telegramm.«

Mario verstummte einen Augenblick; dann griff er so fest nach Olivers Arm, daß es ganz weh tat und sagte, ohne ihn anzusehen, leise:

»Meine Mutter liegt im Sterben. Ich hoffe, ich komme noch rechtzeitig hinüber. Das ist der andere Grund, warum ich weggehe, und zwar sofort.«

Oliver wußte nicht, was er dazu sagen sollte. Er fühlte sich schrecklich hilflos. Wieder sah er auf die Uhr. Es war noch eine Minute bis zwölf. Sie gingen auf die Plattform des Wagens, und als er auf dem Trittbrett stand und Mario die Hand gab, während der Zug sich schon in Bewegung setzte, fiel ihm seine Trumpfkarte ein.

»Hast du denn genug Geld?«

»Ja, aber ich mußte mir alles leihen, was Steve und Charley in der Tasche hatten. Du kannst es ihnen ja wiedergeben. Und du könntest auch morgen auf die Bank gehen und für meine Schecks gutstehen, für den Fall, daß ich mein Konto überzogen habe.«

Ja, das wollte Oliver gern tun, er war froh um alles, was er tun konnte.

Der Zug begann schneller zu fahren, und die Dunkelheit ersparte ihnen den Versuch, ihre Gefühle auszudrücken oder zu verbergen, als sie sich zum Abschied zuwinkten.


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