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13

Oliver schlief an diesem Morgen länger, als er es sich je vorher erlaubt hatte – er schlief trotz seines sonderbaren Bettes (wenn man es überhaupt ein Bett nennen konnte), trotz des hellen Sonnenscheins und trotz des Zitterns, das schon in aller Frühe von den arbeitenden Maschinen ausging. Es war, als hätte ihm in seinem Unterbewußtsein – denn geträumt zu haben glaubte er nicht – eine lautlose Stimme die ganze Zeit ins Ohr geflüstert: Schlaf weiter; keine Schule, kein Familienfrühstück; kein Mensch, der auf dich wartet! Ruhe, Ruhe, Ruhe! Du bist frei!

Und dieser neu geschenkten natürlichen Freiheit gehorsam barg Oliver das abgewandte Gesicht schützend im Arm wie der Bettler, der zur Mittagszeit auf einem öffentlichen Platze schläft. Die erste Frucht seiner unseligen Entdeckungen, aber auch seiner tieferen Lebensbereitschaft bestand in der plötzlichen Fähigkeit zur Trägheit. Nachdem die Welt geräumiger, ungeordneter und gleichgültiger geworden war, fühlte er sich in ihr heimischer.

An Deck stand Lord Jim, den Sextanten schon in der Hand, bei dem Mann am Steuerrad. In der langen, gelassenen Dünung rollte das Schiff nur langsam und schwach; kein Land war in Sicht, denn sie machten eine zehnstündige Schleifenfahrt ins offene Meer hinaus, um die neuen Maschinen zu erproben, wobei ihnen die plötzliche Windstille gut zustatten kam. Lord Jim trug eine gesetzte, beschäftigte Miene zur Schau, die von der gestrigen sehr verschieden war. Er hatte gerade die Wache. In seiner weißen Mütze und seiner mit Knöpfen besetzten Jacke stand er breitbeinig da, die Arme in die Seiten gestemmt, die Augen auf den Horizont geheftet, und war von einer etwas offiziellen Freundlichkeit.

»Langweilt Sie das Meer noch nicht? Nach einer gewissen Zeit wird's nämlich langweilig auf See, selbst wenn man noch so gern segelt. Ihr Vater liebt das Wasser, weil's wenigstens nicht das Land ist. Auf seinen langen Fahrten vertreibt er sich die Zeit mit Lesen – außerdem gelegentlich mit ein bißchen raffiniertem Essen und Trinken und damit, daß er mich unwissenden Burschen auslacht. Sie aber werden es hier recht öde finden, besonders wo Sie ganz allein sind.«

»Aber Sie sind doch selbst jung«, entgegnete Oliver, und ob er damit nun sagen wollte, daß Jim sich auch langweilen müsse, oder daß er Olivers Langeweile vertreiben werde, auf alle Fälle war es ein Kompliment, und Jim lächelte über das ganze Gesicht. Er freute sich über Komplimente, und er freute sich, daß er jung war.

»Wissen Sie, ich bin fast siebenundzwanzig. Man sieht's mir nicht an, was?«

Jedes Alter über zwanzig schien für Olivers Begriffe schon jenseits der Jugend zu liegen. Das Wort »siebenundzwanzig« aber bezeichnete einen unbestimmten, fernen Zeitpunkt, der irgendwie mit unangenehmen Vorstellungen von Heirat, Geldgeschäften und langen Schnurrbärten verknüpft war und schwerlich mit Lord Jim in Verbindung gebracht werden konnte. Zehn Jahre lagen zwischen ihnen! – So sagte denn Oliver nachdenklich, er hätte nicht gedacht, daß ein so junger Mensch schon so alt sein könnte. Und was tat nun Jim auf See, um sich nicht zu langweilen?

»Aber ich langweile mich ja auch. Alle Seeleute langweilen sich, nicht weil sie nichts zu tun haben, sondern weil sie es satt bekommen. Tag und Nacht, das ganze Jahr hindurch, immer wieder dasselbe zu tun. Keinen einzigen freien, ruhigen Augenblick hat man für sich selbst. Andauernd muß man eine dreckige kleine Sache nach der andern erledigen; man schimpft aufs Wetter, schimpft aufs Essen, schimpft auf die Offiziere, wenn man Matrose ist; wenn man Kapitän ist, schimpft man auf die Besatzung, wenn man Offizier ist, auf den Kapitän, und wenn man ein ehrlicher Christenmensch ist, schimpft man vor allem auf sich selbst. Die Seefahrt ist ein Arme-Leute-Beruf, ein öder Beruf. Kommt mal ein richtiger Sturm, ist das nicht weiter aufregend, macht einem nur doppelte und noch dreckigere Arbeit. Niemand ginge zur See, wenn's nicht Schicksal wäre. Aber da ist nun mal das Wasser und führt einen beständig in Versuchung, und weil die Menschen Narren sind, wird's immer wieder welche geben, die sich drauf einlassen, zu speien und zu ersaufen. Zwischen dem Speien und dem Ersaufen führt ein verteufelt schwerer Weg zum täglichen Brot. Und das einzige, was einen bei der Stange hält, wenn man mal Zeit zum Nachdenken hat und nicht zu müde zum Träumen ist, das ist die Vorstellung, daß man auch mal wieder in einen Hafen kommt und an Land gehen kann.«

»Aber was hat ein Seemann an Land zu suchen? Ich sollte meinen, er müßte sich da noch mehr langweilen als sonst.«

»Mein Junge, es gibt etwas an Land, was es auf See meistens nicht gibt, nämlich Frauen. Wenn du in deinem Heimathafen ankommst, steht da dein Eheweib oder dein Liebchen und wartet auf dich, falls sie Geduld genug zum Warten gehabt hat; und wenn's ein anderer Hafen ist, gibt's da immer ein zeitweiliges Liebchen oder ein zeitweiliges Eheweib, das darauf brennt, sich deiner reizenden Person und deines reizenden Geldes zu erbarmen und sich an den süßen Liebling zu verschenken. Wenn dann schließlich dein Weib oder dein Liebchen – das auf Zeit oder das auf Dauer – deine Taschen und deine Mannesseele glatt ausgeleert hat und du betrunken, ohne einen Pfennig und ohne einen Wunsch, dasitzt wie ein dummer Esel, dann gehst du wieder zur See und fängst wieder an zu träumen; vom nächsten Zahltag, vom nächsten Hafen und von der nächsten prachtvollen Woche ehelichen Glücks.«

»Wenn das alles ist, wofür ihr Seeleute lebt«, bemerkte Oliver etwas bissig, »dann sehe ich nicht ein, warum ihr nicht alle an Land bleibt. Früher oder später würde sich wohl ein Taglöhnerposten finden, dann könntet ihr an jedem Tag im Jahr zu euren Frauen und euren Liebchen heimgehen.«

Sobald Jim den leisesten Anflug von Feindseligkeit spürte, hatte er eine lächelnde, unterwürfige Art, den Zorn abzuwenden und sich, wenn möglich, die Gunst der Welt aufs neue zu erwerben.

»Ganz richtig«, sagte er, »so denken auch die meisten von den traurigen Brüdern und gehen eben nicht zur See. Doch wenn man erst Seemann ist, dann bleibt man es auch. Man kennt den Rummel, man kennt das Leben, und wenn man mal keine Unterkunft hat, so verschafft man sich schon wieder eine; man hat sich einmal anheuern lassen, und es liegt so nahe, sich wieder anheuern zu lassen. So trotten die meisten von uns mit Scheuklappen durchs Leben: vor sich nichts und rechts und links nichts als das, was sie früher schon getan haben. Vielleicht gibt's auch noch einen andern Grund. Man träumt von den Frauen, so lange man nicht bei ihnen ist, aber wenn man sie hat und sie haben einen, dann ist man seelenfroh, sie wieder loszuwerden. Dann ist man einen Monat oder ein Jahr seelenfroh um ein hartes Leben, wo alle Pflichten vorgeschrieben sind und alle Arbeit eingeteilt und alles geordnet ist, froh über diesen ganzen Kreislauf von stürmischen, einsamen Beschwerlichkeiten mit ein bißchen Tabak zwischendurch.«

Olivers neugebackene Marinebegeisterung wurde durch diese trübe fachmännische Auffassung recht abgekühlt. »Sie haben die See satt«, sagte er, »Sie machen sich in Wirklichkeit nichts aus ihr.«

»Ich hab nichts gegen die See; ich bin dran gewöhnt; ich verdiene meinen Unterhalt. Es geht mir gut und ich lege was zurück. Eines Tages werde ich nach Hause gehen – sehr bald vielleicht schon – und ein neues Leben anfangen.«

Irgend etwas an der Art, wie Jim das sagte, veranlaßte Oliver zu fragen:

»Sie glauben, mein Vater wird nicht mehr lange leben?«

»Ja, das glaube ich, offen gesagt. Er macht sich nichts draus, lang zu leben.«

»Sie meinen, er wird selbst Schluß machen?«

»Vorläufig noch nicht, hoffe ich, aber es kann jederzeit aus mit ihm sein. Er hat alle Anordnungen getroffen, als ob er heute sterben wollte.«

»Guten Morgen«, sagte hier der zukünftige Tote, indem er sich aus der Kabinenluke erhob wie Lazarus aus dem Grabe, nachlässig schleppenden Schrittes herzutrat, hinter seiner dunkeln Brille hervorlächelte und die warme Seeluft offenbar mit Vergnügen einatmete.

»Na, Oliver«, sagte er und streckte sich bequem in dem Deckstuhl aus, den der Schiffsjunge vor ihm auseinandergeklappt hatte, »du siehst, wir haben deinetwegen für vollendet schönes Wetter gesorgt. Neptun möchte einen guten Eindruck machen; aber traue ihm nicht. Er hat ein ekliges Temperament und kann toben wie ein Wilder. Hat Lord Jim dir gesagt, daß wir auf Salem zusteuern? Nein? Du mußt es kennen lernen, einige unserer Vorfahren stammen daher, und es wohnen noch jetzt ein paar Verwandte von uns da. In Salem bin ich als Junge zum erstenmal rudern und segeln gegangen; schon wegen der Schnellsegler, die früher von dort abfuhren, habe ich eine sentimentale Neigung für das Nest. Ich hätte den ›Schwarzen Schwan‹ auch gern als vollgetakelten Dreimaster gehabt, aber es war nicht zu machen. Man hätte eine zu große Besatzung gebraucht, und die richtigen Leute sind nicht zu finden. Doch mach dir keine Illusionen über das heutige Salem. Es ist eine trübselige Stadt, häßlicher als Great Falls und längst nicht so lebhaft und modern.«

»Wenn du einen Schnellsegler bekommen hättest, würdest du ihn dann auch ›Schwarzer Schwan‹ genannt haben?«

»Guter Gott, über diese Frage habe ich nie nachgedacht. Nein, ich glaube nicht; ein Dreimaster hat zu viel Takelage, und die Segel sind zu klein im Verhältnis zur Gesamtkraft; da wäre Arachne besser gewesen oder Galatea – wie von Tauben an dünnen Schnüren gezogen! Aber ich habe den Namen ›Schwarzer Schwan‹ aus tieferen Gründen gewählt – ein altes Steckenpferd, was hat es heute zu bedeuten? Es ist mit der Zeit doch wohl unwichtig geworden. Du weißt, ich habe die Orientalen gern, und ihre Art, mit Worten umzugehen, ist so viel zarter als unsere. Es liegt keine Poesie darin, Gegenständen, die sich ähnlich sehen, die gleichen Namen zu geben. Aber die entgegengesetztesten Dinge können sich zauberhaft gleich werden, wenn sie die gleichen unsichtbaren Gefühlswerte wachrufen. In einer sensitiven Sprache sind sogar Klang und Rhythmus der Worte den Dingen angemessen, die sie bezeichnen. So ergeben für mein Gefühl die Worte ›Schwarzer Schwan‹ schon aus Gründen des Wohlklangs einen guten Namen für ein Schiff; sie sind vorn am Bug scharf und schneidend und sanft fließend am Kiel. Es liegt keine Wortmalerei vor, und doch glaube ich dabei ein Fortsausen durch rauschende Gewässer zu vernehmen. Nun ist Schwan aber an und für sich schon der Name eines Vogels, das stellt den Geschmack zum zweiten Mal auf die Probe. Und da gefällt mir nun das zugrunde liegende Gleichnis; denn der Schwan ist ein träges Tier mit breitem Untergestell; er treibt gemächlich dahin und kann doch bei Gelegenheit seinen langen, sehnigen Hals wie einen Pfeil vorstrecken und sich zu wunderbar schnellen Flügen erheben. Was aber den schwarzen Schwan im besonderen angeht, so ist er exotisch und verhältnismäßig selten und wurde früher für ein Fabeltier gehalten. Darin liegt ein kleiner Wink für Philosophen. Außerdem hat Schwarz von vornherein eine geheimnisvollere Bedeutung, eine erlesenere und tiefere Schönheit als Weiß. Es ist der letzte Hintergrund des Raumes und des Bewußtseins, ist das zu innerst Befriedigende, das durch den Gegensatz die andern Farben erst recht stark und lebendig macht. Es ermüdet weniger als Weiß, es bietet mehr Schutz, und kluge, alte Schwäne geben ihm den Vorzug.«

Oliver stimmte in das Lachen seines Vaters ein, war aber nicht überzeugt.

»Hattest du ähnliche Gründe, als du die frühere Jacht ›Hesperus‹ nanntest?«

»Ja, damals schon, aber sie waren rein persönlich. Hesperus sollte ein Symbol für meinen Seelenzustand sein. Für andere Leute – und jetzt auch für mich selbst – war es nichts weiter als ein hübscher Name, genau wie ›Möwe‹ und ›Wildente‹, ›Albatros‹ und ›Meerwoge‹, oder was weiß ich, ›Sally‹, ›Mamie‹ und ›Susie‹.«

Peter dehnte diese letzten Worte verträumt in die Länge, als hätte seine freudige Angeregtheit einer unbestimmten Hilflosigkeit Platz gemacht. Seine Gedanken schweiften in die Zeit seiner Verheiratung zurück, in die Zeit seiner Heimkehr von all seinen mißglückten Experimenten. Hatte er damals nicht ersehnt, daß etwas wie ein Abendstern noch einmal sein sinkendes Leben verschönen möchte? Die Jacht hatte der Inbegriff seiner Erinnerungen und zugleich der neuen Stille sein sollen, und eben das bedeutete ihm damals der Name ›Hesperus‹ – ruhige Heiterkeit; denn er hatte gehofft, der Abend würde friedlicher sein, als der Morgen gewesen war. Und obwohl ihm sein Abendstern nicht besonders strahlend geleuchtet hatte, waren diese letzten sechzehn Jahre wirklich recht friedlich dahingegangen. Mit einem Male schien das Gleichgewicht irgendwie gestört. Er wandte sich wieder nach Osten. Konnte es dort noch einmal einen Morgenstern für ihn geben? Oliver vielleicht? Würde sich dieser schöne, bedächtige Junge davor bewahren lassen, nur der Sohn seiner Mutter zu sein? Wäre es möglich, ihn auf die andere Seite zu ziehen, damit er die Hoffnungen erfülle, die einst seinen Vater getrogen hatten? Würde er mit der Zeit – und nicht zu spät – dahin gelangen, sich selbst und die Welt und sein Zeitalter zu verstehen, vor allem Amerika zu verstehen und sein Verständnis in zwingende Worte zu bannen oder noch besser: in zündende Taten?

»Oliver, ich habe in diesem Winter vor – Lord Jim hat vielleicht schon davon gesprochen – wieder einmal ins Mittelmeer zu gehen. Das Schiff wurde eigens in dieser Absicht gebaut. Du weißt, es ist mein besonderes Vergnügen, an den Küsten entlangzufahren, als wäre ich ein Entdecker, und für die Nacht, wenn möglich, in irgend einem kleinen Hafen einzukehren. Die steilen Küsten dort und die kleinen alten Häfen mit ihren Kais aus großen Quadersteinen sind ein besserer Rahmen für solche Wanderfahrten als die Ufer unseres Atlantischen Ozeans. Von diesen Städten waren viele im Altertum groß und menschenreich, und die ganze Geschichte der Christenheit ist auf ihren Mauern verzeichnet. Es gibt dort Ruinen, aber auch Palasthotels. Eines Tages wirst du vielleicht einmal mit uns kommen und dir diese Dinge in Ruhe ansehen, denn Bücher und Touristenreisen genügen nicht. Dein Geist muß sich vollsaugen mit dem Genius dieser Orte, mit ihren alten Numina. Nicht des historischen Wissens wegen – wenn du nicht willst, brauchst du kein Gelehrter zu werden – sondern weil es keinen richtigeren und lebendigeren Weg gibt zum Verständnis menschlicher Umtriebe, besonders der Kriege und Religionen. Wenn man die Vergangenheit begreift, sieht man die Gegenwart so, wie man sie sehen sollte. Die Unwissenden sind immer Opfer ihrer Einbildungen.«

»Ich habe mir deine Bücher in der Achterkajüte angesehen«, sagte Oliver. »Sind das alle, die du an Bord hast?«

»Nein, das sind nur unsere alten Freunde, Bücher, die man immer wieder lesen kann. Wir haben noch andere – wertvolle und seltene – die sind weggeräumt; und die Durchschnittslektüre kommt in die Offizierskabine. Gott weiß, was daraus wird.«

»Warum hast du keine amerikanischen Bücher?«

»Sind keine da?« murmelte Peter sichtlich überrascht. »Hatten wir nicht ›Moby Dick‹ auf dem ›Hesperus‹?«

»Ja«, erwiderte Jim, »und außerdem Walt Whitman.«

»Aber Mutter sagt, niemand liest Walt Whitman, nur die Ausländer. Ich dachte, er wäre Engländer.«

Oliver wunderte sich über das laute Gelächter, mit dem dieses Bekenntnis begrüßt wurde. Er mußte wohl etwas Falsches gesagt haben, doch warum erregte es so viel Heiterkeit?

»Aber er ist doch der größte, beste, einzige amerikanische Dichter«, rief Jim, »der einzige echt amerikanische, den es gibt. Wollen Sie wirklich sagen, daß Sie ihn nie gelesen haben?«

»Oliver ist mit den Klassikern aufgewachsen, und Walt Whitman wird nicht zu ihnen gerechnet, wenigstens nicht in unserer Familie. Es gibt keinen Grund, weshalb Oliver diese Ergüsse nicht lesen dürfte, aber ich glaube, sie werden ihm nicht gefallen. Ich selbst lese sie auch nicht; und so hat Olivers Mutter in bezug auf uns drei ganz recht. Nur Engländer lesen Walt Whitman.«

»Aber Sie haben ihn doch gelesen. Sie setzen nur alle große Dichtung mit Vorliebe herunter.«

»Ich gestehe, daß ich mir aus langatmigen, hochfahrenden Dichtungen, die beständig predigen und wettern, nichts mache. Die Dichtung der westlichen Völker ist in der Hauptsache Rhetorik – metrisch gebundene Beredsamkeit, auch Shakespeare gehört mit seinen langen Reden in diese Gattung, aber nicht mit seinen Liedern und nicht immer mit seinen Sonetten. Ich halte den Versuch für sinnlos, die menschlichen Angelegenheiten grundsätzlich zu verschönern und aufzuputzen, und gerade das tun alle diese rednerischen Dichter, Walt Whitman ebenso wie die andern. Wenn ein Rhetoriker lange Gedichte über Gott oder Satan, das Universum oder die Arbeit des Landmanns, die Liebe oder die Freiheit oder die Revolution verfaßt, so mag er auf diese Weise wichtige Wahrheiten verbreiten (obwohl ich selbst das bezweifle) und seine ethischen Empfindungen mögen für die Anhänger seiner eigenen Sekte höchst erbaulich sein; ich behaupte aber, er ist dann kein Dichter. Er schleppt eine Last. Sein Pegasus ist ein Packesel mit Flügeln, die zuweilen etwas flattern, während er dahintrottet. Feurige, fortschrittliche Beredsamkeit ist an sich schon recht, und die Fackel einer politischen Idee mag meinethalben von Hand zu Hand gehen und einen Weltbrand entfachen. Aber Dichtung ist etwas Reines und Verborgenes, ist magische Schau, die den Geist für einen Augenblick erleuchtet, ist etwas Spielerisches und Flüchtiges wie ein Spiegelbild im Wasser; der wahre Dichter greift den Reiz eines beliebigen Gegenstandes auf und läßt den Gegenstand selbst fallen. Sein Fühlen ist leidenschaftlich, ironisch, musikalisch, traurig und vor allem absichtslos.«

Jim war verschwunden, um seine Beobachtungen auszuarbeiten. Er wußte ja schon auswendig, was der Doktor jetzt sagen würde. Doch kam er noch einmal für einen Augenblick zurück und legte mit Nachdruck Walt Whitmans »Grashalme« auf Olivers Knie. »Hier haben Sie das Buch! Lesen Sie und urteilen Sie selbst!«

In dem Band lag ein Lesezeichen, weshalb er sich von selbst an einer Stelle öffnete, die am Rande dick angestrichen war. »Ich könnte umkehren und mit den Tieren leben, sie sind so friedvoll ... sie weinen nicht um ihre Sünden. Sie machen mich nicht elend, indem sie ihre Pflichten gegen Gott bereden.«

Rauschgift, dachte Oliver und wurde plötzlich ein wenig schläfrig von der Mittagshitze und der sanften Luft. Rauschgift in anderer Form! Faule Weigerung, vorwärts oder rückwärts zu schauen! Gehässigkeit gegen alles Vernünftige, Aufopfernde! Die Lilien des Feldes! Arbeit war nicht der Mühe wert; Arbeit war nicht notwendig. Warum hatte sein Vater gerade gegen diese Art Rauschgift etwas einzuwenden? Und er las einen Teil der Seite laut vor.

»Gefällt dir das nicht?« fragte er.

»Mir gefallen die ersten drei Worte: ›Ich könnte umkehren‹. Das ist tief gefühlt, es bedeutet Bekehrung, Reue. Es könnte von Buddha oder Johannes dem Täufer gesagt worden sein.«

»Das übrige gefällt dir aber nicht?«

»Es würde mir gut gefallen, wenn er gesagt hätte: Ich will umkehren und nicht länger bei den Tieren leben, weil sie so ruhelos, erbarmungslos und wild sind, weil sie von der Sucht besessen sind, Gras zu kauen, an Knochen zu nagen und einander zu beschnüffeln, falls sie mich nicht gerade dadurch anöden, daß sie sich für das auserwählte, Gottes Werk wirkende Volk ausgeben. Aber Walt Whitman ist so oberflächlich wie Rousseau. Er sieht nicht ein, daß die menschlichen Sitten Naturprodukte sind, daß Moral, Religion und Wissenschaft animalische Leidenschaften ausdrücken oder verteidigen, er ahnt nicht, daß er unmöglich noch mehr einem Tier gleichen könnte, als er es schon tut, indem er wie die andern Menschen lebt. Seine Abkehr ist keine Wandlung, keine Erlösung. Er gibt vor, sich abzuwenden – denn zum Teil bleibt es bloßes Getue – und geht nur von der verfeinerten Lebensweise der Menschen zu einem gröberen und stumpfsinnigeren Dasein über. Er ist wie Marie Antoinette, die sich als Schäferin verkleidete.«

Oliver stellte wieder einmal fest, daß die Abwesenheit von daheim auf wunderbare Weise die Zunge seines Vaters löste, und daß die Schlafmittel seinen Verstand nicht im geringsten zu trüben schienen. Seine Anschauungen mochten falsch sein; aber offenbar wußte er, was er wollte, und besaß genug Urteilskraft, um andere Menschen zu kritisieren. Jetzt allerdings verfiel er in Schweigen und schien hinter der dicken Schutzbrille plötzlich eingeschlafen zu sein.

Oliver blätterte noch ein paar Seiten weiter. Er war nicht bei der Sache. Er fing an, in den »Trommelschlägen« zu lesen, aber auch sie bewirkten nur ein unbestimmtes Dröhnen in seinem Hirn. Das Buch schloß sich wie von selbst, und dann schlossen sich auch seine Augen. Doch wie in einer dunkeln Spieldose klangen in seinem Inneren Worte weiter und fügten sich zu Sätzen zusammen. »Nenne uns Tiere; was ist der Unterschied? Manche Tiere sind anständig wie mein Pferd Charley, Charley heißt es, weil es früher Charley Deboyse gehörte, der nicht anständig war. Manche Tiere sind gemein wie Kröten und Affen und Yep, der Köter des Gärtners. Walt Whitman scheint über alles zu plappern, ob es anständig ist oder nicht. Liebt Lord Jim ihn wohl deshalb? Ich muß ihn fragen.«


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