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Inzwischen – Oliver war beinahe fünfzehn Jahre alt – hatte man beschlossen, ihn zur Schule zu schicken. In jedem andern so anspruchsvollen Hause hätte die Wahl einer Schule zu einem schrecklichen Problem werden können, doch in diesem Fall löste sich die Frage ohne Schwierigkeit von selbst. Es gab nur eine Schule, die Oliver überhaupt besuchen konnte. Denn Mrs. Alden mißbilligte grundsätzlich alle Internate; solche Anstalten entzogen die Jungen im kritischen Alter den heiligen Einflüssen des Heims und der Mutter und waren Treibhäuser des Snobismus, der Roheit, der Grausamkeit und der Unmoral. Um die tiefe Verdorbenheit der jungen Rohlinge wettzumachen, putzte man sie Sonntags mit weißen Gewändern aus und ließ sie paarweise hintereinander in den Kirchenchor ziehen und sentimentale Hymnen singen, sodaß die einzige Vorstellung, durch die sie sich über ihre gewöhnliche Brutalität erhoben, etwa in dem Wunsch bestehen mochte, kleine Engel im immerwährenden Kirchendienst des Himmels zu werden. Und was war das Ergebnis? Daß die dummen Jungen im späteren Leben bestenfalls Nullen wurden, die Modebilder der Schaufenster kopierten und reiche Frauen heirateten – Nullen in geistiger, Nullen in sittlicher und Nullen in politischer Beziehung!

»Hurra, hurra!« pflegte Peter zu diesem Verdammungsurteil zu murmeln, bewunderte aber die Überzeugungskraft, mit der seine Frau ihre geheime Eifersucht gegen Leute, die eleganter waren als sie selbst, in tugendhafte Ausfälle verwandelte. Und am Ende erklärte er sich mit allem einverstanden. Da also ein Internat nicht in Frage kam, sollte Oliver die Schule von Great Falls, die einzige Tagesschule in Reichweite, besuchen. Allerdings empfand Peter ein gewisses Bedauern darüber, daß sein Wunderkind von Sohn in einer obskuren Provinzanstalt unter gewöhnlichen Jungen von mittelmäßigen Lehrern unterrichtet werden sollte. Aber es gab keine bessere Möglichkeit. War nicht der Geist aller Schulen provinziell, waren die Schuljungen nicht überall Barbaren und die Schulmeister nicht überall mittelmäßig? In seiner eigenen Jugend war der Einfluß des Mr. Mark Lowe ein glücklicher Ausnahmefall gewesen. Die entscheidende Wendung aller Dinge mußte stets dem Zufall überlassen bleiben. Oliver hatte schon jetzt eine gute Grundlage; er sollte nur zur Schule gehen, um zu lernen, wie man unter Fremden lebte, Spiele spielte, Kameraden bekam und in einer sonderbaren Welt seinen eigenen festen Stand behauptete. Zu diesem Zweck – übrigens dem einzigen Zweck von Schulen – war jede Schule gut genug. In jeder Schule konnte sich Oliver durch den Umgang mit Altersgenossen und Lehrern Menschenkenntnis erwerben und seinen Charakter erproben und entwickeln.

Auf diese Weise gelang es Peter Alden, der über die unbewußte Heuchelei seiner Frau lachte, sich auch über seine eigenen Motive einer kleinen Täuschung hinzugeben. Er hatte jede offizielle Verantwortung für Olivers Erziehung an seine Frau abgetreten und ließ sie schalten, wie ihr beliebte. Es war eine Art von spöttischer Galanterie, die er ihrem überlegenen Verstand und ihrer Lebenskenntnis zollte; er befreite sich dadurch zugleich von der übergroßen Schwierigkeit, einen Entschluß zu fassen. Doch im Grunde blieb sein Gewissen unruhig. Etwas völlig anderes wäre vielleicht doch viel besser gewesen!

In Wirklichkeit hatte, so wie die Dinge nun einmal lagen, die öffentliche Schule von Great Falls, Connecticut, tatsächlich vieles, was sie empfahl. Das Gebäude war neu und sauber, besaß Zentralheizung und Ventilation, wie es den letzten kostspieligsten Errungenschaften entsprach. In diesem Winkel Neu-Englands hatte die Wohlhabenheit den Konservativismus nicht verdrängt. Der Demos machte Anspruch darauf, kultiviert und gebildet zu sein; es gab ein Kunstmuseum, und die öffentliche Bibliothek, ursprünglich eine Stiftung Carnegies, wurde vom Stadtrat angemessen unterstützt. Aber alle diese großartigen Möglichkeiten der Selbsterziehung (wie man es nannte) gingen Hand in Hand mit einem letzten Überrest altmodischer Prüderie. Das Musterschulhaus, das in jeder Hinsicht ultra-modern war, besaß nämlich zwei getrennte Eingänge und zwei Schulhöfe an genau entgegengesetzten Seiten des Gebäudes, einen für Knaben, einen für Mädchen; eine strenge Backsteinmauer, die wie eine große Schattenwand durch seine ganze Höhe und Länge hindurchging, trennte die beiden Geschlechter; und kein Gerücht wußte zu berichten, daß je ein Pyramus und eine Thisbe ein Loch hindurchgebohrt hätten, um Küsse auszutauschen.

Zudem gab es eine besondere klassische Abteilung für die Jungen, die später die Universität besuchen wollten; alle Lehrer in dieser Abteilung und auch der Leiter waren Männer – »ein glücklicher Umstand«, dachte Peter Alden, da Oliver, Denis Murphy abgerechnet, zu lange unter dem ausschließlichen Einfluß von Frauen gelebt hatte. Kultur, Gefühl und Moral, das war alles ganz gut; doch sollte man es nicht zum Stützpunkt seines Universums machen, oder das Universum würde einem eines Tages über dem Kopf zusammenbrechen. Die einzige große, vertrauenswürdige Erzieherin der Menschheit war die Materie, und in der Mentalität von Damen wurde die Materie durch einen Nebel von Worten völlig verdunkelt. Ja, nicht nur bei Damen! Die meisten Schullehrer waren Leute, die in der Welt versagt hatten oder fürchteten, in ihr zu versagen; sie kannten die Materie nur durch den Schrecken, den sie ihnen einflößte; immerhin war diese indirekte Anerkennung besser als fade Unschuld und ungehemmte Phantasterei. So einseitig Olivers neue Lehrmeister auch sein mochten, er würde doch fühlen, daß sie mit einem Fuß auf der festen Erde standen.

Es war für Oliver ein neues und nicht unerfreuliches Erlebnis, vor einem am Boden festgeschraubten Pult aus gelbem Holz auf einem der menschlichen Normalgestalt wissenschaftlich angepaßten und ebenfalls am Boden festgeschraubten gelben Holzstuhl zu sitzen. Die Tatsache, daß sich in einer Reihe acht solcher Stühle und Pulte befanden und im ganzen fünf oder sechs von diesen ganz gleichen Reihen vorhanden waren, schuf irgendwie Beruhigung. Es war unwahrscheinlich, daß in dieser neuen Welt etwas vorfallen würde, was nicht gleichmäßig alles und alle betraf.

Da Alden der erste Name in der Klassenliste war, wurde Oliver auf den Eckplatz der letzten Reihe zwischen zwei große Fenster gesetzt; so konnte er, ohne sich umzudrehen oder eine unpassende Neugierde an den Tag zu legen, die Gesichter der meisten Jungen im vollen Sonnenlicht betrachten. Zunächst erschienen sie ihm wie verkleinerte Ausgaben von Mr. Denis Murphy, und daher fand er Gefallen an ihnen; nur kamen sie ihm nicht wie die wirklichen Menschen daheim vor, sondern wie Gestalten aus einem Bilderbuch oder einer Abenteurergeschichte: simpel, rauh und lustig; und alle zusammen erzeugten sie Gepolter und herdenhaftes Rumoren wie Pferde im Stall oder Tauben im Schlag. Als er zum ersten Mal mit ihnen während der Pause im Schulhof herumstand oder Abschlagen spielte – was ihn ein Spiel für ganz kleine Jungen dünkte – fand er bald heraus, daß er ihnen nichts Besonderes zu sagen hatte, und sie ihm auch nicht.

Selbst in ihrer Redeweise erinnerten sie etwas an Mr. Murphy, nur sprachen sie schriller, häßlicher und aufdringlicher. Er lernte ihren Dialekt bald, aber der blieb für ihn immer eine fremde Sprache, wie die amerikanische Mundart überhaupt. Er haßte sie nicht, manchmal brachte sie ihn zum Lachen und kam ihm wie eine Varieténummer vor, die witzig sein sollte und auch wirklich ganz drollig war, obwohl sie leicht zu eintönig und ermüdend werden konnte.

Seine eigene, ihm geläufige Sprache war die von Damen und Geistlichen. Seine Mutter, Fräulein Schlote und Miß Letitia Lamb hatten jede ihren eigentümlichen Akzent und ihre besondere Betonung; aber sie besaßen in der Hauptsache den gleichen Wortschatz und waren alle gleich sorgfältig und peinlich in ihrer Sprechweise. Stets fragten sie, wie dies oder jenes Wort eigentlich ausgesprochen werden müßte, oder ob diese oder jene Wendung auch gutes Englisch sei. Fräuleins deutsch-englischer Maßstab konnte nicht immer anerkannt werden, trotzdem beeinflußte er Oliver und hatte ihn von früh auf an gewisse höfliche, typisch britische Wendungen gewöhnt, deren vollen Klang und Sinn er auskostete. Als letzte Instanz in dieser Sache aber galt sein Vater, an den sich die drei Frauen in Fällen grammatischer Ratlosigkeit wandten, weil er doch aus Boston stammte, sein Leben lang auf Reisen gewesen war und so viele andere Sprachen kannte.

Oliver aber fühlte sich auf diesem Gebiet ziemlich verwirrt und unsicher, trotz seiner Neigung, das für richtig zu halten, was ihm selbst natürlich und gemäß war. Er konnte sich bei der Sprache ebensowenig wie auf andern Gebieten mit dem begnügen, was falsch, minderwertig oder zweitrangig war; doch machte es Schwierigkeiten, das absolut Beste herauszufinden, und selbst hinterher war es noch schwer, sich immer danach zu richten. Die Sprache gehörte für Oliver nicht zu der Sonnenseite des Wissens. Sie war eins der menschlichen Übel, in denen der Fluch der Erbsünde und des babylonischen Turmes sich deutlich offenbarte.

Es wäre übertrieben, zu behaupten, daß Oliver in seinen drei Schuljahren überhaupt nichts lernte. Allerdings gingen in einigen Fächern seine Leistungen über die Ansprüche seiner neuen Lehrer hinaus, aber er fing nun mit Griechisch und Französisch an; und selbst auf andern Gebieten waren die Autoren, die gelesen und die Methoden, die angewandt wurden, oft neu und aufschlußreich für ihn. Zudem machte sich die Atmosphäre des Klassenzimmers geltend; Faulheit, böse Streiche und Radau umrahmten die vorgeschriebene Arbeit mit erfrischender Menschlichkeit.

Und dann diese Lehrer! Der Schulgeist schien sie als Polizisten zu betrachten, die so oft wie möglich überlistet und verspottet werden mußten; aber Oliver kamen sie mehr wie arme, durch Dickhäuterfelle behinderte Riesentiere vor, in denen vielleicht das letzte Fünkchen einer einstmals knabenhaften Seele noch unter der Asche glühte.

Das galt besonders für den sarkastischen, vertrockneten kleinen Mann, der in amerikanischer Geschichte und Literatur unterrichtete. Er sprach stets mit hoher, zittriger Stimme und betonte in jedem Satz ein oder zwei Worte mit so bitter schneidendem Nachdruck, als schlüge er einen langen, starken Nagel in den Sarg irgend eines verabscheuten Trugbildes. Cyrus Paul Whittle hätte seinen Weg als Prediger oder Politiker in seiner Heimat Vermont gemacht, wenn seine Ansichten nicht so scharf und unpopulär gewesen wären; und selbst seine augenblickliche Stellung als Lehrer wäre ins Wanken geraten, wenn der Direktor und der Stadtrat irgend etwas geahnt hätten von den Glossen und Randbemerkungen, mit denen er seinen Unterricht pfefferte. Es war seine höchste Freude, alle ausgezeichneten Männer der Geschichte so weit herunterzureißen, wie er es irgend wagen durfte. Franklin hatte unanständige Verse geschrieben. Washington – der enorm große Hände und Füße gehabt hatte – heiratete die Dame Martha wegen ihres Geldes, Emerson tischte Goethes Philosophie noch einmal in Eiswasser auf.

Nicht daß es Mr. Cyrus P. Whittle an Begeisterung und einem geheimen religiösen Feuer gemangelt hätte! Das Größte auf der Welt war für ihn Amerika; und dieses Amerika war obendrein im Begriff, alles, was es außer ihm noch gab, vollständig auszulöschen! In seiner verblendeten, fiebrisch überspannten Freude über dieses bevorstehende Endergebnis vergaß Cyrus Paul Whittle zu fragen, wie es nachher weitergehen sollte. Er frohlockte über die Wucht des bloßen Geschehens, über den Wogenschwall der Ereignisse; der Geist und seine Absichten jedoch waren ihm nur Schaum auf der brechenden Welle; er fand ein boshaftes Vergnügen darin, zu zeigen, wie alle Begebenheiten, die den Anstrengungen großer und guter Männer zugeschrieben wurden, in Wirklichkeit gegen deren Willen und gegen deren Erwartungen eingetreten waren. Die großen und guten Männer waren an und für sich nicht besser oder weiser als die gescheiterten, nur befanden sie sich zufällig auf der Seite der Gewinnenden. Sie hatten etwas vollbracht, das dauerte und zählte; aber die Gescheiterten – und Cyrus Paul Whittle dachte an sich selbst – hatten genau so viel geleistet, nur verschwand es und zählte nicht.

Trotzdem, pflegte er hier fortzufahren, wobei das trockene Feuer kalvinistischer Erleuchtung für einen Augenblick in seinen Augen aufflammte, trotzdem dürfe man sich nicht entmutigen lassen. Die Vorsehung wirke Wunderbares mit Hilfe unwürdiger Werkzeuge. Man könne furchtlos und arglistig, ohne eine Spur von Achtung für irgendeinen Menschen auf Gottes Erde leben, und doch voller Glauben, Hoffnung und Barmherzigkeit sein.

Diese Gesinnung ergriff unmerklich von Olivers Seele Besitz, ohne daß er ihr seine Aufmerksamkeit besonders zuwandte; sie war seinem eigenen Denken nicht unangemessen und verschmolz auch ohne Schwierigkeit mit dem Herdeninstinkt, der sich jetzt bei ihm zu regen begann, dem Gefühl nämlich, daß man mit dem Strome schwimmen und das tun mußte, was von einem erwartet wurde. Diesem Gefühl folgen hieß nicht: für andere leben, hieß nicht: das Rechte tun. Nein, es befreite einen gerade von diesen Phrasen, unter denen die Allzugeschäftigen ihren Wunsch verbargen, andere Leute zu beherrschen und die Welt nach ihrem eigenen Belieben umzugestalten.

Herdengefühl war etwas Natürliches, Echtes, Ursprüngliches, so wie der Einklang mit der Natur in ihrer Ganzheit. Ja, es war das gleiche Harmoniegefühl, nur gesteigert und auf den menschlichen Umkreis gerichtet. Es bedeutete mit andern leben und die andern leben lassen, von ihrem Willensantrieb getragen sein und ihre Interessen sich zu eigen machen; und zwar nicht deshalb, weil man ihre Art als richtig, vernünftig, schön oder der eigenen Art verwandt empfand, sondern weil dies nun einmal die Art und Weise des Lebens und Geschehens selbst war; sodaß man im Grunde gar nicht die Wahl hatte, anders oder besser zu leben.

So tat Oliver nun mit derselben Fügsamkeit, Willenskraft und Melancholie, mit der er zu Hause seinen Unterricht und seinen Sport erledigt hatte, in der Schule alles, was der Schulgeist verlangte. Vor allem und in erster Linie hieß es jetzt im Herbstsemester Rugby spielen! Elf Jungen und ein paar Ersatzmänner sollten aus den vierzig Schülern der Klasse ausgewählt werden, und es gab für Oliver keinen Zweifel, daß er sich erbieten mußte, mitzumachen, da er der größte und, wie sich bald herausstellte, der stärkste und schnellste unter ihnen war. Aber da das Spiel ihm neu war, hatte er zunächst alle Demütigungen des Anfängertums auszuhalten. Die ersten Raufereien, wo er gestoßen, geschlagen, gequetscht und beschimpft wurde, waren kein reines Vergnügen; doch war Oliver langmütig, furchtlos, entschlossen und aufmerksam, zudem aus Stolz bestrebt, kühner zu scheinen, als er war, und sich aus Schmutz und Wunden nichts zu machen. Er haßte das alles auch weiterhin, aber er lernte es ertragen. Die Taktik des Spieles meisterte er bald; das schlimmste daran war das übelriechende, rohe Gedränge und Geraufe. Er mußte sich zum Prügeln zwingen; Mr. Murphys Boxunterricht kam ihm in manchen Nöten zugute, bloß hätte er außer dem Faustkampf auch noch den Ringkampf beherrschen sollen; desgleichen die zweideutige Geschicklichkeit – unmöglich für Oliver! – die Regeln mitunter zu brechen und sie dann wieder für sich in Anspruch zu nehmen. Nachdem er jedoch etwas Übung erworben hatte, hellte sich der Himmel mehr und mehr auf, und es kamen Gelegenheiten, wo er seine besonderen Fähigkeiten zeigen konnte.

Bald wurde er trotz seiner Durchschlagskraft aus dem Sturm herausgenommen, in die Läuferreihe und schließlich in die Verteidigung versetzt; dort blieb sein Platz, solange er Rugby spielte. Es war eine große Erleichterung, während des ganzen Spiels, sobald die Pfeife tönte, allein außerhalb des Haufens zu stehen und ein weites, freies Feld vor sich zu haben, das bewacht und durchquert werden mußte. Diese Vergünstigung gab ihm Kraft und Frische, sodaß er dann leicht den Mut aufbrachte, die Linie zu stützen und im dichten Handgemenge zu kämpfen, falls es nötig wurde. Kam aber der Ball über eine verhältnismäßig leere Strecke hinweg auf ihn zu, so war er beim Laufen und Stoßen ganz in seinem Element. Seine langen Beine, sein sicheres Auge, seine Selbstbeherrschung, die an Gleichgültigkeit grenzte, verhalfen ihm in Lauf und Stoß zur Vollendung; und dadurch erwarb er sich sofort eine gewisse Berühmtheit. Ja, noch vor dem Ende der ersten Spielzeit wurde er von seinem Klassenteam weg in die Schulelf versetzt, wo er nun der Jüngste war, und diese beispiellose Ehre machte ihn zum Helden der Schule.

Übelwollendes Gemurmel, das sonst vielleicht Macht gewonnen hätte, etwa daß er ein Weichling, ein Tugendbold oder ein Feigling sei, war um so schneller verstummt, als gleich beim ersten Zusammenstoß mit den eigentlichen Raufbolden – die er bald von den anständigen und neutralen Elementen zu unterscheiden wußte – seine unerwartete Gewandtheit in der männlichen Kunst des Boxens jede Feindschaft gewarnt hatte, sich offen zu zeigen. Zwar fuhren seine Mitschüler fort, ihn schief anzusehen und als Vornehmtuer und Übergescheiten zu bezeichnen – das passendere Wort Snob stand nicht in ihrem Wörterbuch – aber sie sparten sich ihr Übelwollen auf und warteten die weitere Entwicklung der Dinge ab. Die Führerschicht der Schule, zu der er nun gehörte, war auf seiner Seite, ebenso die Lehrer; und da er sich auch im Lernen unfehlbar an der Spitze der Klasse behauptete, wurde es nach und nach klar, daß jede Opposition zwecklos war und man ihn wohl oder übel als den rechtmäßigen Prätendenten aller Ehren betrachten mußte, die die Schule zu vergeben hatte. Im letzten Schuljahr würde er selbstverständlich zum Obmann für Rugby und Leichtathletik gewählt werden; einzig Baseball, womit er sich nicht befaßte, blieb dann seinen Rivalen.

Allmählich wurden auch sein Äußeres und seine Manieren allgemein bewundert; er war der Held aller kleineren Jungen in der Schule; selbst die murrenden Gruppen verbargen ihre Eifersucht und demokratische Unduldsamkeit und entschlossen sich, ihn zu unterstützen. Er hatte etwas Scheues und Entschuldigendes im Wesen, das Haßgefühle zum Schweigen brachte, sobald man in nähere Berührung mit ihm kam. Er war fair und höflich gegen jedermann, hatte keine Günstlinge, keine Clique und schien tatsächlich keine Freundschaften zu schließen. Zuweilen wurde die Linie seines Mundes ernst und fast bitter; und wenn ihn nicht gerade eine besondere Anstrengung gefangen nahm, wirkte seine Haltung teilnahmslos und abwesend. Er schien alle Unterrichtsstunden und Sportarten ohne Unterschied als Pflicht zu betrachten und unerbittlich zu erledigen, so, als wolle er sie möglichst schnell und gründlich für immer los werden. Allerdings nahmen sofort neue Aufgaben ihren Platz ein; in seinem Leben gab es nun einmal keine Muße, aber jedes Mal, wenn aus der Reihenfolge von Pflichten – von Feinden! – wieder eine abgetan war, gab es wenigstens einen Augenblick stillen Friedens.

Vielleicht war bei jenem Vogelfluge, den Oliver in früheren Tagen staunend beobachtet hatte, in Wirklichkeit der Anführer nicht der kühne Geist gewesen, der im Vertrauen auf seine eigene Kraft die Schar der andern mit hypnotischer Gewalt zwang, den wohlbegründeten Wendungen seines Flugs zu folgen. Vielleicht war der Anführer gerade der abhängigste des ganzen Schwarmes; doch diese Art von Dienstbarkeit wurde von der ganzen Welt bewundert; wenigstens war es gekrönte Sklaverei, die sich wohl ertragen ließ. Warum sollte man nicht freudig das Geschöpf eines universalen Willens sein und in sich selbst die Seele alles Lebens fühlen? Man konnte Herrscher scheinen, und man konnte Gehorchender scheinen – etwas anderes stand nicht zur Wahl.

Wurde Oliver von den andern beneidet, so beneidete er im geheimen sie; er hätte gern so einfach, natürlich und ungezwungen gelebt wie sie. Seinen Widerwillen gegen Schwindelei, Schmutz und gemeine Reden hielt er jedoch aufrecht und zögerte nicht, ihn zu zeigen. Als Last empfand er alle Äußerlichkeiten; je weniger und einfacher, desto besser! Er besaß eine goldene Uhr, ein Geschenk seines Vaters; er trug sie gern, denn sie ging genau und ließ ihn stets pünktlich sein; aber die goldene Kette legte er weg und befestigte die Uhr mit einer schwarzen Schnur, die eigentlich ein Schuhriemen war, am Aufschlag seines Rockes. Als er bemerkte, daß manche Jungen kein Hemd trugen, sondern nur einen Sweater und vielleicht noch eine Jacke darüber, hätte er das gern nachgeahmt; Kragen waren ein Hindernis und Manschetten eine Belästigung. Sein verneinendes Temperament und sein ungeduldiger junger Verstand neigten beständig zu der Frage: wozu all der Kram? Natürlich ging es nicht gut, daß er plötzlich zu Hause ohne Hemd erschien. Sogar eine Krawatte ließ sich nicht vermeiden, wenn sie auch eine Sinnlosigkeit war: ein Streifen dünner, buntfarbiger Seide, der einem ohne Grund lebenslänglich die Kehle umschnürte!

Er kleidete sich stets zum Dinner um, und zwar in graue Hosen, Pumps und schwarze Jacke; und das frische, gestärkte Hemd mit der schwarzen Krawatte erschien ihm dann ganz angemessen, denn ein Familienessen hatte unweigerlich etwas Steifes an sich, es war fast so, als ginge man zur Kirche. Doch wenn es sich darum handelte, zu arbeiten, und gut zu arbeiten, warum sollte man sich dann unbequem anziehen? Er versuchte es also vorsichtig mit einer kleinen Reform, die sich in den Grenzen dessen hielt, was er durchsetzen konnte.

»Aber Oliver« rief seine Mutter eines Tages beim Frühstück aus, »wo ist deine Weste?«

»Oben im Schrank.«

»Warum hast du sie nicht angezogen?«

»Niemand in der Schule trägt eine Weste, ausgenommen die Lehrer. Es ist so unsinnig.«

»Aber es ist nicht anständig, so herumzulaufen. Dein Vater trägt immer eine Weste, und auch deine Onkel taten es, sogar als Jungen. In der Sommerhitze könnte ich es noch verstehen; aber jetzt, im Oktober, wirst du dir den Tod holen bei der Kälte.«

»Wenn es kalt wird, ziehe ich einen Pullover an.«

»Außerdem wirst du doch die Taschen brauchen!«

Oliver lächelte. Seine Mutter hatte zweimal ihren Standpunkt gewechselt: von Anstandsgründen war sie zu Gesundheitsgründen und von Gesundheitsgründen zu Bequemlichkeitsgründen übergegangen. Er fühlte, daß seine Sache gewonnen war, doch konnte er der Versuchung nicht widerstehen, es noch ein wenig zu unterstreichen.

»Ich habe in meiner Jacke außen vier und innen drei Taschen, dazu vier in meiner Hose; bei schlechtem Wetter, wenn ich einen Mantel trage, noch sechs mehr. Sechzehn Taschen im ganzen, ist das nicht genug?«

Mrs. Alden schwieg. Kam sie nicht mit einer einzigen Tasche aus, oder vielmehr mit gar keiner, da sie nur ein Handtäschchen hatte, das auf jedem Tisch und jedem Stuhl liegen blieb? Aber Oliver war hiermit gewarnt. Er sollte den gewonnenen Vorteil nicht ausnützen. Asketentum beleidigte die höfliche Welt, und einen Sweater an Stelle eines Hemdes zu tragen, war, außer zum Sport, ein Vorrecht, das nur den Armen zustand.


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