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15

Inzwischen wurde das Kind der Verheißung zusammen mit Jim Darnley in dem engen, von Caleb Wetherbee beschafften Einspänner verstaut und vor dem strömenden Regen notdürftig geschützt durch eine wasserdichte Decke, die man an die Verdeckstangen des Wagens knöpfte.

Wie taktvoll hatte Lord Jim verstanden, das Peinliche dieser Verabschiedung zu mildern! Oliver sehnte sich zwar nicht gerade danach, an den Felsen zu stranden oder sich in der Bucht zu verirren – obwohl es wirklich mit Lord Jim zusammen nicht so schlimm gewesen wäre – aber er wollte unter allen Umständen hinaus ins Freie, um in tiefen Zügen die frische Nachtluft einzuatmen. Gottlob, Jim hatte die beiden alten Herren mit seinen scherzhaften Bemerkungen in so gute Laune versetzt, daß sie nicht daran gedacht hatten, der Jugend herrschsüchtig ihre eigenen Pläne aufzuzwingen, wie es alte Leute sonst gern taten. Welche Erlösung, dem Modergeruch dieses alten Hauses zu entrinnen, wo wohl keiner der roßhaarbezogenen Nußbaumstühle und keiner der viktorianischen Kupferstiche seit vierzig Jahren von der Stelle gerückt worden war. Welche Erlösung, die Vorstellung loszuwerden, daß ein Gefängnis auf einen lauere, ein Labyrinth verwickelten alten Aberglaubens, aus dem es vielleicht keine Rückkehr mehr gab, wenn man einmal in seinen Irrgängen gefangen war. Es schien Oliver, als läge über dem ganzen Anwesen eine Krankenhausatmosphäre, eine tiefe Öde, Leere und Abgestorbenheit. Oder kam das nur von diesen schwülstigen, morbiden Diskussionen und dieser abscheulichen Versessenheit auf Theorien?

Wie beruhigend war es da jetzt, sich an einen ehrlichen, anspruchslosen Kameraden anlehnen zu können und das Gewicht und die Festigkeit seines Körpers wie einen starken, freundlich schützenden Wall neben sich zu spüren. Übrigens hatte sich Lord Jim heute Abend wirklich tadellos benommen und dabei so besonders elegant und hübsch ausgesehen mit seinen frischen Farben und seinem dicken Haar – ein Bild der Jugend, Gesundheit und Geradheit inmitten all dieser scheußlichen Verrücktheit und hoffnungslosen Anmaßung! Kein einziges Mal hatte er versucht, in die Unterhaltung einzugreifen, um zu zeigen, daß er nicht weniger klug oder vielleicht gar klüger sei als die andern. Er hatte einfach zugehört, die Getränke und Zigaretten weitergereicht, an den richtigen Stellen gelacht und einen sehr interessierten Eindruck gemacht, auch da, wo Oliver selbst ins Gespräch verwickelt wurde. In dieser bescheidenen Schweigsamkeit hatte er durchaus nicht langweilig oder schüchtern oder fehl am Platze gewirkt. Im Gegenteil: er hatte dem Abend zum Erfolg verholfen; seine Zurückhaltung hatte, allen fühlbar, ein angenehmes Fluidum von unbekümmertem gesundem Menschenverstand ausgestrahlt. Jim machte keinen Anspruch darauf, zu den Hochgeistigen zu gehören, aber er konnte genau so gut reden wie sie; ja, mit einem kleinen augenzwinkernden Vorbehalt, der weit über ihren Horizont hinausging. Onkel Harry, der doch Professor war, und Onkel Jack, der Herausgeber des »Boston Butterfly and Busy Bee«, waren einfach Barbaren im Vergleich zu ihm, Bauern, die alles, was sie kannten, dauernd bespöttelten und über alles, was sie nicht kannten, die Nase rümpften.

Doch Lord Jim schien kaum zu merken, wie gescheit und hell er war, und schien seine beträchtliche Klugheit so selbstverständlich zu nehmen, als ständen alle Leute auf der gleichen geistigen Ebene. Es kam ihm bloß sonderbar und komisch vor, wenn jemand unterhalb dieser Stufe blieb.

Nun aber Schluß mit allen Problemen! Es war herrlich, sich jetzt durch das kochende, schwarze Wasser so gewaltsam vorwärtszustoßen, daß der Schaum aufwirbelte; herrlich, vom Gischt bespritzt zu werden und zu fühlen, wie die Regenschauer lustig auf den großen Wettermantel prasselten, den der umsichtige Freund so sorglich bereitgehalten hatte. Freudig nahm Oliver an Lord Jims scharfer Wachsamkeit teil, half ihm die Entfernung bis zu diesem oder jenem Licht abschätzen und die ungewissen Schatten ringsum enträtseln. Wie schön, die unmittelbare Wirkung dieser starken Hände am Steuerrad zu spüren! Wie geschickt handhabten diese Finger die Knöpfe und Hebel der wütenden kleinen Maschine, die durch den Sturm hüpfte und tanzte. Und später, an Bord des ›Schwarzen Schwans‹, den sie gegen Erwarten schnell und ungefährdet erreichten, kam ein warmes Behagen auf, wieder sicher zu Hause zu sein; alles ringsum war klar und seegerecht, nichts Problematisches, Feindseliges, Verbittertes oder Hoffnungsloses bedrückte einem das Herz, man konnte harmlos plaudern und friedlich schlafen, vor sich eine Reihenfolge einfacher Geschäfte und einfacher Freuden, die in Einklang mit der Wirklichkeit und dem jeweiligen Wetter standen.

Die nächsten Tage waren rauh und stürmisch, und Peter Alden ließ sich daher bei seinem Vetter an Land zurückhalten, bis Sonne und Wind eine angenehme Weiterfahrt erlaubten. Auf Oliver wirkte der Ostwind wunderbar stärkend; sogar die lächelnden Gesichter und hängenden Bäuche der beiden Buddhas in seiner Kabine erschienen ihm minder boshaft. Das Groteske und das Üppige verlor seine Macht vor der Wachheit seines eigenen Geistes. Diese ganze fremdländische Welt wurde zum heiter-nebensächlichen Hintergrund, gleich einem persischen Teppich. Oliver öffnete die vergoldeten Drahttüren der Schränke, welche die Bücher enthielten; manche standen auf die übliche Weise in Reihen geordnet, andere größere und kostbarere lagen nach orientalischer Art übereinander. Es waren wertvolle Ausgaben, vielfach mit üppigen Illustrationen geschmückt, auserlesene Bände von großem Wert: Tausend und eine Nacht und Shakespeare, Don Quijote und Dr. Johnson, Fielding, Sterne, Swift und Dickens. Ferner mehrbändige französische Werke: Montaigne, Saint Simon, Casanova, Balzac, Taine; und auch die Bibel fand sich auf Englisch und Deutsch, in dünne Bändchen gebunden und mit den neuesten Kommentaren versehen. Oliver betrachtete sich alles, wie man durch ein Museum geht, er blieb passiv, ließ sich nur flüchtig fesseln und war selbst der pikantesten Illustrationen bald überdrüssig. Jim, dachte er, hatte genau die richtige Einstellung zu Liederlichkeiten; er nahm gar keinen Anstoß daran, konnte herzlich darüber lachen, und im nächsten Augenblick war er mit etwas anderem beschäftigt.

Natürlich trug Oliver kein Verlangen, irgend eins dieser altmodischen, langatmigen Bücher zu lesen; sie waren alle so überflüssig, so jämmerlich menschlich, begnügten sich so ganz mit der humoristischen, phantastischen Schattenseite des Lebens. Abseits in einem andern Schrank fand er etwas, das mehr nach seinem Sinn war: alte Bücher über Forschungsreisen und Abenteuer, die Erlebnisse des Kapitäns Cook, Doughtys, Livingstones und Sir Samuel Bakers. Hier trat das menschliche Element in so enge Verbindung mit der Natur, daß es nicht mehr töricht wirkte, und hier kam durch die Reiseberichte ein frischer Luftzug in das Literarische.

Oliver machte nun auch die Bekanntschaft des Maats und des Ingenieurs, zweier bescheidener, ziemlich stiller Männer, die ihn wie einen Vorgesetzten, nicht wie einen Jungen behandelten; und nach und nach versöhnte er sich sogar mit dem unterwürfigen Benehmen des Stewards und des Schiffsjungen. War es nicht wirklich einfacher und praktischer, daß man am Morgen gefragt wurde, was man zu speisen wünschte, und dann das Menu mit Bleistift auf ein kleines Porzellantäfelchen schrieb, damit man genau das bekam, was man wollte? Wie anders ging hier auch das Servieren vor sich im Vergleich zu daheim, wo einem die alte Annie mit gebieterischer, ungeduldiger und mißbilligender Miene den schon bis zum Rande mit Gemüse, Kartoffeln und Sauce gefüllten Teller unter die Nase schob, als wollte sie sagen: »Also! Da hast du was zu essen. Iß es!« Hier wurde einem alles mit fast entschuldigender Geste gereicht, es wurde einem gedankt, daß man überhaupt Notiz davon nahm; der kleinste Wunsch wurde erraten und nie wieder vergessen, als sei es ohnehin Schande genug, daß das Service nicht aus gediegenem Gold war und die Speisen nicht aus Ambrosia, wie es ein solcher junger Gentleman wie Sie, mein Herr, natürlich erwarten dürfte!

Nachdem Oliver sich die Sache unparteiisch überlegt hatte, kam er zu dem Ergebnis, daß es sehr segensreich war, wenn man auf ein Piedestal erhoben und dadurch zu vornehmer Haltung verpflichtet wurde. Man mußte sich den verfeinerten Empfindungen anzupassen suchen, die einem zugetraut wurden, und schließlich hatte man sie sich wirklich angeeignet. So wurden grobe Vorgänge wie die Nahrungsaufnahme zu etwas Anmutigem und Liebenswürdigem. Nicht länger schaufelte man sein Futter verdrießlich herunter wie ein Tier und tat, als wäre einem alles gleichgültig. Man fühlte sich bewogen, seine Gefühle und Triebe zu veredeln. Man wurde ein Gentleman.

Bücher traten in dieser Atmosphäre in den Hintergrund und waren bloßes Beiwerk. Kein Wunder, daß sein Vater nur für satirische oder schon gebundene und illustrierte Bücher Interesse hatte. Für Oliver waren Bücher keine Autorität. Sie gehörten zum Zierat wie Spiegel, die nur den Widerschein der Dinge bewahrten. Auch die allerbesten Bücher mußten geschrieben werden: so war bereits dem Buch an sich etwas Künstliches, Absichtliches und Rhetorisches eigen, und um beurteilen zu können, ob es gut sei, mußte man es während des Lesens mit der wirklichen Welt und mit den eigenen Gedanken vergleichen. Warum also hielt man sich dann nicht lieber unmittelbar an die Wirklichkeit und ersparte sich alle Mühe und Verwirrung? Aus der Wirklichkeit ließ sich unendlich viel lernen, und das Leben selbst war romantisch genug. Konnte es zum Beispiel eine interessantere Geschichte geben als Olivers eigenes Erleben, wenn er nach dem Essen in der gemütlichen Kajüte saß und bis nach Mitternacht über alle Dinge zwischen Himmel und Erde mit einem vernünftigen Durchschnittsmenschen plauderte, einem offenherzigen Seemann, der trotz seiner vielen Erfahrungen jung war, aber mehr Urteil besaß als jedes Buch; der wenig gelesen hatte und sich auf Überlieferungen, Kompromisse, Künsteleien, Privatspekulationen und religiöses Schwärmertum nicht einließ?

»Sie glauben doch auch nicht, daß etwas an dem dran ist, was der Vetter Caleb Wetherbee sagt? Warum sollte man denn irgend einen alten Glauben, der schon vor langer Zeit zerfallen ist, wieder zusammenflicken wollen?«

»Der Grund scheint mir ganz klar zu sein«, antwortete Jim, dies Orakel des Mutterwitzes und der mannhaften Unbefangenheit, indem er seine Pfeife weglegte und sich einen zweiten Whisky-Soda zurechtmachte. »Haben Sie nicht gemerkt, daß er einen geradezu verliebten Gesichtsausdruck bekommt, wenn er mit einem redet? Der arme Kerl bringt es um keinen Preis fertig zu lieben, und seine Religion ist ihm ein Ersatz dafür. Er konnte kein Caliban werden; war nicht stark und nicht schlecht und nicht gut genug, um sich mit Fluch und Haß zu rächen; mußte sich vor sich selbst irgendwie schöner machen und sich in einen liebenden Bräutigam verwandeln. Das ging nur mit Hilfe einer Religion, durch die man ein Heiliger werden konnte.«

»Könnte er nicht ein Heiliger sein und die Natur und die Menschheit lieben wie Emerson, ohne deswegen bekehrt zu werden?«

»Ach, Sie verstehen schon, was ich meine. So ein alter, dürrer Kerl wie Emerson liebt doch überhaupt nicht wirklich und ist gar kein Heiliger. Er ist einfach ein vornehm aussehender alter Pfarrer mit sanftem Lächeln und weißer Krawatte; er ist bloß ehrenwert und mild, dabei aber eiskalt. Der alte Wetherbee könnte nicht so selbstzufrieden sein, der könnte nicht andauernd lächeln und dabei auf das Ende der Theatervorstellung warten. Wenn er nicht untergehen soll, braucht er einen Rettungsring, eine handfeste, zähe Illusion mit dem nötigen Klingklang, die ihn oben hält. Sonst bliebe ihm nichts übrig als zu versinken.«

»Finden Sie nicht, er hätte längst Selbstmord begehen sollen? Was hat's für einen Zweck, so zu leben?«

»Das hätte ihm natürlich einen Haufen Mühe erspart; aber Leute, die mißgestaltet, krank, alt oder verrückt sind, klammern sich viel boshafter ans Leben als andere. Man kann nicht von ihnen erwarten, daß sie sich umbringen, weil wir sie unangenehm finden. Nur die Allervernünftigsten unter den Japanern tun das. Der alte Wetherbee kämpft um sein Leben. Der läßt seinen Knochen nicht los, hält ihn bis zum Tode mit den Zähnen fest und wartet dann noch auf die Auferstehung.«

»Wie schrecklich!«

»Es geht ihm besser dabei als manchen andern. Wenn ihm zum Beispiel der Buckel wehtut, oder irgend ein Kritiker seine Ideen herunterreißt, dann braucht er nur den großen Scheinwerfer anzudrehen. Der Schauplatz verwandelt sich, und wo noch eben höllische Dunkelheit und großes Durcheinander herrschten, da erscheinen plötzlich viele, viele Reihen eines schimmernden Balletts: Der Himmel tut sich auf! Genau wie's die alten Gelehrten und Propheten geweissagt haben.«

»Billig, nicht wahr? Warum betrügen die Menschen sich selbst so gern?«

»Sie tun es nicht mit Absicht. Sie lassen sich nur von der Religion unterkriegen, so wie wir andern uns von Alkohol und Frauen unterkriegen lassen. Das ist der Vorteil des Seemannslebens: das Meer war niemals christlich und wird's auch niemals werden. Religionen entstehen nur auf dem trockenen Land, auf besonders trockenem Land sogar, wo bloß Felsen sind und Abgründe, Sand und Wüste und brennende Sonne und mittendrin auf einmal ein schreckliches Donnerwetter. So ist's in dem verflixten Palästina – ich hab's gesehen – und in diesem verdammten, höllischen Arabien. Die Menschen entdecken Gott erst, wenn er sie verflucht hat. Wäre der arme, alte Wetherbee nicht bucklig, dann hätte er auch andere Gedanken. Man kann nichts gerade sehen, wenn man krumm ist, und nur ein verflucht glücklicher Kerl kommt ohne Illusionen aus. Ihr Vater zum Beispiel versucht es, und ich bin nicht mal sicher, ob er sich deshalb wohler fühlt. Auch mein Vater bringt's fertig, obgleich er Geistlicher ist, und bei seiner Armut ist das besonders beachtlich. Aber er ist allerdings auch kein Buckliger, sondern ein wackerer alter Engländer oder Schotte – genau weiß ich's selbst nicht mal – und von Natur aus Philosoph, dem Geld und Stellung ganz ehrlich egal sind. Außerdem kennt er das Geheimnis der Theologie und der christlichen Barmherzigkeit und fühlt sich ganz zu Hause in der englischen Liturgie; da lassen sich freilich die Gefühle in einen schönen und friedlichen Weg leiten, der nichts so Persönliches hat, daß man sich schämen müßte, und einen nicht an irgend so ein einzelnes verflixtes Dogma ausliefert; denn niemand erwartet ja heutzutage, daß man die Bibel, den Katechismus und die neununddreißig Glaubensartikel ganz wörtlich nimmt. Aber ich sage Ihnen: es ist etwas ganz Außerordentliches, wenn ein Mensch sich jeden Fetzen falschen Trostes herunterreißt. Es macht das Leben verteufelt hart.«

»Goethes Leben war eigentlich nicht hart, und doch machte er sich, glaube ich, keine Illusionen.«

»Der hat wohl auch zu diesen besonders glücklichen Kerlen gehört, meinen Sie nicht? Hatte noch mit zweiundsiebzig ein Auge für die Mädels«, und Jim gähnte und fing schlaftrunken an, die Asche aus seiner Pfeife zu klopfen. »Ich weiß nicht viel von ihm; einmal hab' ich in der Pariser Oper mit Ihrem Vater zusammen ›Faust‹ gesehen. Nettes Stück!« Er blickte auf die Uhr über der Anrichte, stand auf und streckte sich. »Na, dann wollen wir noch mal an Deck schauen, bevor wir schlafen gehen.«

Das taten sie, und Jim schien verschiedene interessante Dinge an Bord und auf dem Wasser zu entdecken. Jedenfalls begab er sich nach vorn und fing ein unendlich langes Gespräch mit dem Mann an, der die Wache hatte. Oliver konnte nichts als Dunkelheit und Nässe bemerken. Die warme, sanfte Luft war angenehm genug; er füllte seine Lungen und atmete kräftig aus – das war eine kleine Yogaübung, die ihm sein Vater empfohlen hatte. Was konnte es Freundlicheres geben als den unsichtbaren, unendlichen, alles durchdringenden Äther, der vielleicht die Sterne speiste und ganz gewiß den Geist im Menschen! Hier war Goethe im Recht, dem Vetter Caleb zum Trotz; er hatte frei den Äther eingeatmet, hatte ihn in seiner eigenen Brust erwärmt und freudig und heiter wieder ausgeatmet. Er gehorchte jedem Lebensdrang, sprengte jede Kette, soweit sie nicht von der Natur selbst geschmiedet war, um unseren Körper zusammenzufügen, zerriß jedes Band, soweit es nicht eine Faser unseres lebendigen Organismus bildete. Das Leben, so wie es sich ergab, schien ihm göttlich – nicht glücklich, Glück war kein Beweis – soweit es dasjenige Leben war, das der Bestimmung und dem Wesen der Persönlichkeit entsprach.

Goethe fühlte sich in der Natur und in sich selbst zu Hause; deswegen gerade haßte ihn der Vetter Caleb. Allerdings war das Äußere des Vetters Caleb von der Natur grausam vernachlässigt worden, aber sie hatte ihm doch eine hohe Vernunft verliehen. Konnte er sich damit nicht zufrieden geben? Wie schön hätte in seinem verkrümmten, mißgestalteten Körper ein lauterer, selbstloser Geist gewohnt, wie ein Licht, das in einer zerbrochenen Lampe klar und leuchtend weiterbrennt, weil das Öl rein und unverdorben ist. Oliver würde sich an Calebs körperlicher Mißgestalt nicht stoßen, würde sich an sie gewöhnen, würde sie bemitleiden und sogar lieben können, wenn der Unglückliche nicht darauf bestände, das Weltall auf den Kopf zu stellen, um sein eigenes Elend zu erklären. Er wollte die ganze Welt krank sehen, um sich selbst als gesund ausgeben zu können. Als ob sein eigenes Leiden innerhalb der allgemeinen Gesundheit der Welt mehr Bedeutung hätte als ein Flohstich! Wozu hatte man überhaupt einen Geist, wenn nicht, um dieses Mißverhältnis der eigenen Kleinheit zur Größe des Alls zu erkennen und, so gut man konnte, in Einklang mit der Wohlgeschaffenheit der Schöpfung zu leben? Aber die Menschen waren feige. Die Wahrheit entsetzte sie so, daß sie die Augen schlossen und Gebete hersagten, als ob die Wahrheit dadurch geändert wurde, daß sie ihr nicht ins Auge sahen. Da Feigheit etwas so Törichtes war, sollte man es doch fertig bringen, aufrecht und tapfer zu sein. »Ja«, dachte Oliver, »einer wenigstens sollte es können, und der bin ich


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