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Fünfter Teil.
Letzte Pilgerfahrt


1

Die Reise um die Welt lehrte Oliver wenig Neues. Sie brachte ihm nur noch mehr zum Bewußtsein, wie unabänderlich egozentrisch und elend in sich selbst gefangen er war: nicht nur seelisch, in seinem Empfinden und seiner Persönlichkeit, sondern auch gesellschaftlich und sittlich, in seiner heimischen Welt.

Er mochte gehen, wohin er wollte, nach Ägypten, Indien, China oder Südamerika: im Vordergrund stand immer eine englisch-amerikanische Schiffahrtsgesellschaft oder ein englisch-amerikanisches Hotel. Die Dolmetscher und Führer quäkten stets in irgend einem verderbten Englisch; die erste Neuigkeit, die einen empfing, kam stets von der Londoner oder der New Yorker Börse, und die Zeitungen von zu Hause berichteten mit schauderhafter Roheit die abgestandenen Katastrophen der vergangenen Wochen. In der ganzen Welt gab es keinen Raum mehr für private Gefühle und für Freiheit, jede Lücke und jeder Spalt war mit derselben Gewöhnlichkeit vollgepfropft.

Oliver las unterwegs in Büchern über die Geographie und Geschichte der Länder nach, in die sie kamen; aber schließlich spielte Mario den Cicerone und weihte seinen Vetter in das wirkliche Leben dieser Länder und Menschen ein. Er sorgte dafür, daß Oliver sich weder völlig von allen Abenteuern fernhielt, noch sie zu ernst nahm. In seinem Entzücken über irgend eine seltsame Tatsache war Mario ein Kind; aber in der erfahrenen Art, wie er eine solche Tatsache einordnete und überschaute, war er ganz Mann; er fiel selten auf Betrüger herein. Das Betrachten von Sehenswürdigkeiten, das Oliver so oft leer und ermüdend fand, war ihm eine unerschöpfliche Quelle des Interesses, stets entdeckte er dabei etwas Zufälliges, um dessentwillen man gar nicht gekommen war, das sich aber als lohnend erwies. Für ihn waren die kleinen Episoden am Rande des Bildes oft das Beste an dem ganzen Gemälde; sie enthüllten den wahren Geschmack des Künstlers und die verborgenen Seiten seines Lebens.

Wieviel Meisterschaft und wieviel Herrentum verriet doch diese Unabhängigkeit, mit der Mario nebensächliche Dinge beobachtete und unvollkommene Menschen gern hatte! War er im Innersten nicht viel weniger zerstreut und abgelenkt als Oliver? Bei jedem Abenteuer, jeder Theorie und jeder Tatsache schien dieser stilvolle junge Mann unerschütterlich der gleiche zu bleiben; nichts empörte oder erschreckte ihn, nicht einmal die häßlichsten Gesichter und Leidenschaften der Unterwelt; nie ging er weiter, als er beabsichtigt hatte; nie wurde er in seinem Geschmack und seinem Urteil wankend. So höflich und liebenswürdig er alles Fremde auch würdigen mochte, nie fragte er sich – wie Oliver es tat – ob diese ausländischen Sitten, Sprachen und Religionen nicht am Ende besser wären als seine eigenen. Sein fester Geist glich einem königlichen Park: hie und da ist wohl einmal ein alter Baum vom Blitz gefällt worden, manche Ernte alter Blätter hat man schon von den geraden Pfaden und makellosen Rasenflächen weggekehrt, dennoch wird keine Lücke und kein Unkraut sichtbar, alles steht zum Ergötzen des Herrn und Meisters bereit, und jeden Augenblick kann das Spiel der Springbrunnen beginnen, kann Musik ertönen, können sich die Flügeltüren öffnen, um die vornehme Gesellschaft mit höflicher Ungezwungenheit aus- und einströmen zu lassen.

So wurde Mario durch mannigfaltige Erfahrungen nur in seiner eigenen Art bestärkt. Er kehrte vergnügt zu seinem Leben in der Rue de Saint Simon zurück, wo die kleine Wohnung seiner Mutter möglichst unverändert geblieben war, von derselben bonne-à-tout-faire betreut und von vielen der alten Bekannten gern besucht. Mit der gleichen heiteren Selbstverständlichkeit nahm er die Fäden seiner englischen Beziehungen wieder auf. Es war nun entschieden, daß er nach Oxford gehen sollte; sein früherer Tutor aus Eton, der jetzt Kanonikus in Christ Church war, hatte ihm den Eintritt in dieses würdige College ermöglicht. Dort schloß er sich bald unzertrennlich an seinen Etoner Freund, Lord Engleford, an und verkehrte in dem eleganten, sportlichen Kreis des Bullingdon-Klubs, der einst Jim Darnley – nicht ganz mit Unrecht – als die Creme von Oxford erschienen war.

Vanny trug jetzt ein weiß-blaues Band an seinem Strohhut, wie Oliver einst ein weiß-violettes getragen hatte; aber er trug es mit viel weniger Zwang, mit viel mehr Leichtigkeit, so als wäre es eine Blume im Knopfloch. »Mein Hutband«, dachte Oliver, »war nur ein Zettel an einem Gepäckstück, und das Gepäckstück war ich selbst.« Wäre es nicht wirklich besser gewesen, so wie Mario zu leben: gesellschaftlich nicht etikettiert, nicht versichert und nicht auf einen festen Kurs festgelegt, sondern ohne das Gefühl der Verantwortung, ja sogar ohne Bindung innerhalb der Grenzen des Ehrenhaften und Guten?

Aber nein: Oliver war sich klar darüber, daß es nicht besser gewesen wäre. Marios Fähigkeit, das Leben von so vielen verschiedenen Punkten aus zu genießen und sich mit so vielen verschiedenartigen Menschen zu identifizieren, mochte beneidenswert sein. Es mochte sogar beneidenswert sein, sich für alle möglichen Dinge der Wirklichkeit zu interessieren und zu begeistern, selbst wenn sie unerfreulich, gefährlich oder schrecklich waren; beneidenswert nämlich, dachte Oliver, wenn man glücklich sein wollte, aber unmöglich, wenn man das Rechte tun und sich und die Welt bessern wollte. Denn lebte man wie Mario, so bestärkte man einfach die Toren in der Torheit, die Schurken in der Schurkerei und die Prostituierten in der Prostitution.

Es mochte gut und schön sein, mit der Natur in Einklang zu stehen. Man konnte sich wie Goethe in das Heidentum verlieben, doch durfte man die Verbrechen der Natur nicht unterstützen, man durfte nicht im Herzen heidnisch werden. Das war Goethes Fehler gewesen. Im Herzen mußte man Platoniker bleiben oder Christ wie der Pfarrer von Iffley; nicht aus sentimentaler Anhänglichkeit an die Tradition oder aus geistiger Schlappheit, sondern weil es das innerste Gesetz des Herzens war, das reine Gute zu erwählen und an ihm festzuhalten. Es gab – das konnte nicht anders sein – eine einzige höchste Bindung, eine Verpflichtung zur Wahrheit, Barmherzigkeit und Schönheit, die aller buntscheckigen Erfahrung und der ganzen Tretmühle bitterer Freuden unendlich vorzuziehen war. Menschen wie Mario suchten nicht nach der Wahrheit oder nach dem höchsten Leben; sie machten einfach mit. In diesem Sinne war Mario amerikanischer und moderner als Oliver selbst; oder vielmehr er war – wie Weltmenschen es immer gewesen sind – ein glänzender Sklave der äußeren Umstände. »Ich aber will nicht der Sklave äußerer Umstände werden«, dachte der stolze Geist, der in Oliver wohnte, »ich will sie erkennen, denn das ist die Vorbedingung, um sie ändern zu können. Ich mag in sozialer Beziehung sogar ihr Produkt sein, doch meine soziale Person ist selbst nur ein äußerer Umstand, den meine unsterbliche Vernunft beurteilen und ändern kann.«

Derart in seinem geistigen Selbstvertrauen bestärkt, war Oliver nur wenig geneigt, sich in entscheidenden Dingen der Führung von Büchern oder Professoren zu überlassen, doch war es seine Pflicht zu lernen, was diese Autoritäten ihn etwa zu lehren hatten. Tapfer ließ er sich daher in Deutschland zu harter, einsamer Arbeit nieder. Er las viel in den Werken der maßgebenden Historiker und Philosophen, zwar nie mit der Freude, eine große Offenbarung zu finden, aber oft mit Befriedigung und seiner Meinung nach auch immer mit Gewinn; denn selbst die übertriebensten Irrtümer waren noch lehrreich, wenn man verstand, wieso die Menschen auf sie verfallen waren.

Er wenigstens wollte nicht vor den natürlichen Tatsachen zurückweichen, die wir ja doch für unser tägliches Leben anerkennen müssen. Eine Religion, die diese Tatsachen durch Phantasien ersetzte, oder eine Philosophie, die sie wegerklärte, war allzu offenkundig nur Selbsttäuschung. Er wenigstens wollte sich nicht so berauschen lassen, daß er an irgend eine andere Welt glaubte, die aus der Begierde seines Herzens geboren war. Ja, die Begierde! Konnte es einen törichteren Führer geben? Je weiter man ihm folgte, desto tiefer versank man in der Verdammnis. Nicht das begierige Herz führte zum erstrebenswerten Glück, sondern das gesunde Herz: eine gewisse Gesundheit des Herzens konnte die Begierde auf die Tonart der möglichen Vollendung abstimmen. Dies würde dann auch die rechte Tonart für Vernunft und Schönheit sein. Hatten nicht Buddha und Laotse die Begierde gereinigt, den rettenden Faden in diesem Labyrinth der Torheit bewahrt und die Ursachen heidnischer Verwirrung von den entgegengesetzten Grundsätzen eines reinen Lebens geschieden? (Allerdings waren ihre Lehren zu schlicht für den Geschmack des Pöbels gewesen.) Und hatte nicht Sokrates das gleiche vollbracht, nur zu spät für die Griechen? Die ersten Christen dagegen hatten es nicht vermocht, weil ihr Glaube von Fabeln aufgebläht war, und ebensowenig die Puritaner, weil ihr Fanatismus sie verblendete. Sollte es aber heute, wo so viele Illusionen verebbt waren, nicht möglich sein, den Verlauf der letzten Flut festzustellen, um daraus für die nächste zu lernen?

Das war die Frage, um die es sich handelte, und wo ließ sie sich besser untersuchen als in Oxford, das dem großen Babel so nahe lag, aber jetzt, im Hochsommer, nicht von dem allgemeinen Fremdenschwarm überfallen war! Kongresse und sommerliche Tagungen hatten die ganze lange Ferienzeit noch nicht mit Beschlag belegt; und die gelegentlich durchreisenden Damen aus den Vereinigten Staaten – wie gut kannte er diese jüngere Ausgabe von Letitia Lamb! – sahen sich hier nur schüchtern um und gingen schnell wieder weiter. Die armen Dinger waren stets in Eile; sie hatten nicht einmal Zeit, um die ganze Wiese herumzugehen; aber wenigstens hatten sie Addisons Spazierweg betreten. Oliver sah sie von weitem scheu vorbeiflattern, eine eilige Notiz in ihrem Fremdenführer eintragen und wieder verschwinden; und im Vergleich dazu fühlte er sich hier wunderbar heimisch.

Und doch, wer konnte in Oxford fremder sein als er? Glücklicherweise waren Mario und seine Freunde in den großen Ferien nicht da, konnten seine Gedanken nicht ablenken und ihn nicht in Versuchung führen, seine Zeit mit ihnen in Peckwater Quad zu vertrödeln wie bei seinem letzten Aufenthalt im Frühjahr, als er zwischen seinen beiden deutschen Semestern einen Abstecher nach Oxford gemacht hatte. Was für ein Wechsel des Schauplatzes und der Melodie war das gewesen! Er war sich wie in einer phantastisch-komischen Oper vorgekommen, als er diese Stimmen und diese hochmütigen Gespräche wieder hörte und diese eleganten und exzentrischen jungen Leute wieder sah, die hier mit der Leichtigkeit und Unbeschwertheit von Schmetterlingen aus- und einflogen, während sie vorgaben, ihre Studien völlig frivol und auch den Sport nur halb im Ernst zu betreiben, und einem durch ihre Redeweise und ihre Gewohnheiten Einblicke in eine große, fernliegende Welt vermittelten; eine Welt, die für weltliche Begriffe groß war, aber in Wirklichkeit nur aus lächelnden und trübseligen Nichtigkeiten bestand. Hier handelte es sich wenigstens um harmlose Geringfügigkeiten, die sich in Spiel auflösten; aber Oliver schauderte bei dem Gedanken, wie leicht diese Spielerei ihre Macht ausbreiten und erweitern könnte, um den Staat und die Kirche zu beherrschen und die treibende Kraft der menschlichen Angelegenheiten zu werden.

Peckwater war der einzige Fleck in Oxford, wo man sich einbilden konnte, in Rom oder in Versailles oder irgendwo im Eskorial zu sein, der einzige Fleck, wo Mario nicht Vanny zu sein brauchte (obwohl ihn jedermann Vanny nannte), sondern der Römer Mario war, der hier Heimatrechte oder sogar Eigentumsrechte zu haben schien. Der Geist dieser Architektur entsprach zutiefst Marios eigener Tradition; diese Gesellschaft befriedigte trotz eines gewissen Überschusses an Rennstallatmosphäre seine eigenen Instinkte; und mochte er sich nun der Kathedrale oder der Bibliothek zuwenden, er fühlte: in geistiger Beziehung war er hier mehr zu Hause und ein treuerer Abkömmling des Kardinals Wolsey als die Einheimischen. Selbst der Boden hatte es hier vergessen, sich ausgesprochen englisch zu verhalten, also zum Rasen zu werden, sondern vorgezogen, kahl zu bleiben und einen nur festgetretenen Hof zwischen diesen braunen Fassaden zu bilden, die auf drei Seiten regelmäßig und konventionell waren wie ein Veteranenregiment bei der Parade, auf der vierten Seite aber majestätisch wie ein königlicher Palast. So war auch vielleicht die große Welt auf drei Seiten elegante Ordnung und Nichtigkeit, auf der vierten Seite aber Erfahrung, Macht, Kunst und Großartigkeit.

Doch für Oliver spielte das alles weiter keine Rolle. Er würde ja nach Amerika zurückkehren und sich einer wirklichen Tätigkeit zuwenden; nur im Augenblick noch nicht. Nach dem heftigen deutschen Theoretisieren mußte er zuerst sein geistiges Gleichgewicht wiedergewinnen und die Dinge eine Weile aus weiter Distanz und unter dem Zeichen der Ewigkeit betrachten. Der Pfarrer von Iffley war stets bereit, ihn als Schüler anzunehmen. Dort in Iffley gab es für ihn ein geheimeres Oxford, das ihm zutiefst vertraut war, weil es ein Exil von der großen Welt bedeutete; nicht jenes vollkommene Paradies für reiche junge Leute, die den Anspruch machten, höhergeartete Wesen zu sein, nicht das elegante, national-englische, literarische Oxford eines Dr. Jowett, sondern das Oxford, das der Pfarrer in seiner gelehrten Zurückgezogenheit und seinem metaphysischen Glauben verkörperte. Alles an Oxford, was einen Puritaner und Amerikaner beleidigen und sein zorniges Minderwertigkeitsgefühl erwecken konnte, war für Oliver nach und nach in den Hintergrund getreten und alltäglich geworden. Er fand daran kein Geheimnis und keine besondere Größe mehr. Er hatte inzwischen die Ruinen vergangener Größe in Karnak, Baalbek und Rom gesehen, und hatte in Rom sogar jener tatsächlich noch erhaltenen Zeremonie der Größe beigewohnt, wo der Papst beim Schalle silberner Trompeten nach Sankt Peter getragen wurde. Es gab also noch einen Mann, der wirklich glaubte, der Stellvertreter Gottes zu sein! Konnte ein solcher Anspruch genügen, um einen Menschen auf den Gipfel der Welt zu erheben?

Im Gegensatz dazu waren die Steine von Oxford als Denkmal der demütigen Weisheit ihres Zeitalters gegen die Torheit aller andern Zeiten aufgerichtet worden. Diese Bauten wirkten stets zurückhaltend in ihrer Vornehmheit; sie boten noch Schutz und Nutzen und verdienten es, immer wieder erneuert zu werden, als hätte die Natur sie zusammengefügt und nicht die Eitelkeit der Menschen. Ein großer Teil ihres Reizes lag in der anheimelnden Art, wie Bäume und Gärten sie umschlossen, während in nächster Nähe die friedlichen, unregelmäßigen Heckenwege dahinliefen und verzweigte Flußarme, die sogar in bescheidenem Maße schiffbar waren, sich hinter Gebüsch verbargen. Es war an Oxford nichts Totes, nichts Starres, nichts Überlebtes. Die ehrwürdigsten Dinge waren hier wieder aufgeblüht. Wenn dieser Ort der Sammlung und der Treue geweiht schien, dann deshalb, weil hier die keimfähigen Grundsätze noch lebten, die einem weisen Geiste Form geben konnten. Und was kann konservativer sein als ein Same? Nur wenn man von Anfang an eine ausgeprägte Bestimmung hat, wenn man unabänderlich etwas ganz Bestimmtes liebt, ist man imstande, eine bestimmte Richtung des Fortschrittes auszuwählen. Wie kann man sonst ein Ziel aufstellen, das nicht launisch oder trügerisch ist? Was diese niedrigen Mauern ausschlossen, war nicht das große Weltall. Es war nur die Wüste der Gottverlassenheit und Torheit. Draußen, nicht drinnen lag die eigentliche Hoffnungslosigkeit, lagen die wahren Ruinen. Innen erhob sich ein Obstgarten mit unvergänglichen Früchten. Seine großen Bäume trugen das Raunen menschlicher Mühen fast bis zu den Wolken, ja, bis zu den verhüllten Bahnen der Sterne hinauf. Hier herrschte nicht die alles verschlingende Stille des Todes oder der Wüste, sondern eher eine Stille, die von der Musik der Natur und der Geschichte begleitet und von der Metrik des Gedankens skandiert wurde. In dieser Luft lag eine friedliche Spannung, gleichsam die Spannung der Wahrheit; und diese Ruhe war nur der Angelpunkt aller Dispute und Kämpfe.

In diesem hellen Licht betrachtet erschienen selbst die Maniriertheiten der Oxford-Leute weniger albern. Wenn intellektuelle Stutzer gerne mit Äußerlichkeiten spielten, dann geschah das vielleicht deshalb, weil sie wußten, daß alle Dinge nur ihren Abglanz zeigen können, und daß uns die zugrunde liegende Wirklichkeit auf alle Fälle zum besten hält. Seltsame alte Bräuche waren erfreulich, wenn man sie ohne Aberglauben wahrte; desgleichen der furchtlose Verstand, wenn man im Herzen den Traditionen treu blieb. Es lag wahre Weisheit darin, Ehrfurcht mit Geistesfreiheit, Gelehrsamkeit mit Humor, Reichtum mit Weltabgewandtheit zu verbinden. Abgesehen vielleicht vom Humor und einer gewissen Schlagfertigkeit, die ihn begleitete, waren das alles Eigenschaften, die Oliver auch an sich selber schätzte; nur verbanden sie sich hier mit größerer Kenntnis der Geschichte und der menschlichen Natur und stärkerer Hinneigung zur Religion und religiösen Philosophien, als er sie besaß. Für Olivers Begriffe war diese Hinneigung sogar allzu groß; denn wenn man seine Einbildungskraft kultivierte, trug man damit nicht zur Lösung eines wirklichen Problems bei; schließlich häufte man dadurch nur Vorurteile an und verhinderte die einzig mögliche Lösung.

Die Philosophie Oxfords schien ihm ein Kompromiß, ein lange hinausgezögerter Sonnenuntergang; die Klassiker und die Dichter, der Platonismus und das Christentum beleuchteten die alte Welt noch einmal wunderbar vor dem Anbruch der Nacht. Doch wie allen Amerikanern lag Oliver die Morgendämmerung am Herzen, falls es wieder eine geben konnte. Mit Sonnenuntergängen oder Kompromissen wußte er nichts anzufangen. Besser, viel besser war da die ewige Nacht ohne die atmosphärische Bläue des Himmels, ohne menschliche Mythologien. Wenn man seine Augen einmal an diese klare Nacht gewöhnt hatte, dann konnte man in ihr ein ganzes Universum von Sternen entdecken, die vielleicht fern und grausam waren, aber Erleuchtung brachten; ja, sie waren erleuchtend und erfrischend wie das Meer, das in seiner Gleichförmigkeit und Launenhaftigkeit Oliver stets als der wahre Freund des Geistes erschienen war. Und wenn er sich von den Sternen und dem Meer abwandte, ohne sie im Innersten je zu vergessen, dann konnte er wohl sein vorgeschriebenes Leben im Tageslicht der Welt weiterführen, jenes tätige, frohe Leben, das jedermann in Amerika zu leben schien, und bei dem man spontan und einfach in allem aufging, was sich gerade ereignete: ein dauernder Ruderwettstreit, ein dauerndes Rugbyspiel, ein tapferer Kampf ohne weiteren Zweck, aber mit Augenblicken des Stolzes und der Befriedigung. Das wäre dann kein sentimentaler Kompromiß zwischen Welt und Geist oder zwischen Tradition und Wahrheit, sondern ein Geltenlassen von beidem, wobei jedes seiner ungeschminkten Realität nach bewertet wurde.

Das Meer und die Sterne mahnten Oliver, keine Wunder zu erwarten und keine Ausnahme zu seinem eigenen Besten zu machen, aber zufällig hatte die Welt ihn persönlich ja bemerkenswert gut behandelt. Tatsächlich hatte sie ihm nichts versagt außer der Fähigkeit zu rein animalischem Behagen und der Fähigkeit, sich fest an sein persönliches Glück anzuklammern. Das brachte er nicht fertig; auch konnte er der Welt ihre allgemeine Dummheit, Grausamkeit und Verwirrung nicht verzeihen. Diese Mißstände mußten sich in hohem Maße verbessern lassen. Er wollte nun bald nach Amerika zurückkehren, und zwar gerüstet zurückkehren, nicht, wie so viele müde Wanderer und einst auch sein Vater, einfach heimgetrieben durch bloßes Mißbehagen und die Scham, überall sonst ein Fremdling zu sein. Er wollte zurückkehren, um zu wirken, wenn auch vielleicht nicht mit Eifer und triebhafter Freudigkeit, so doch wenigstens freiwillig und klaren Geistes wie Senator Lunt und wie die homerischen Helden, die herrlich ihr Geschick vollendeten. Wenn er sich fragte, in welcher Richtung er seinen Einfluß ausüben wollte, dann konnte er jetzt im voraus keine deutliche Antwort darauf geben; aber er fühlte, daß er bei jeder Wendung der Dinge wissen würde, welche Richtung er einschlagen mußte.

Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange
Ist sich des rechten Weges wohl bewußt.

Der rechte Weg würde einen sittlichen Menschen stets zur endgültigen Ordnung und Güte führen, zu einer Ordnung, die in sich selbst Güte sein mußte, einer Ordnung, die alle Sympathien in harmonischen Einklang brachte, soweit das möglich war, und die es nicht litt, daß sich die unwissenden Kräfte der Menschen selbst verschwendeten und einander aufhoben wie die breiten, wechselnden Strömungen des Mississippi. Menschengeist muß die Natur kanalisieren, verheerende Überschwemmungen verhindern und die quellenden Wasser schiffbar und wohltätig machen.

Der Weg schien also klar vor ihm zu liegen. Er war jung, er war reich, er war stark; aber warum war er nicht feuriger und glücklicher? Und warum im besonderen kamen ihm gerade die gegenwärtigen Ferien in Iffley unbefriedigend vor? Seltsam, da doch alle Welt dauernd betonte, wie besonders angenehm er es dieses Jahr im Pfarrhaus finden müsse. War nicht sogar Jim zwischen verschiedenen Reisen hier aufgetaucht, forsch und kraftvoll wie stets, und hatte er nicht seinen Freund täglich zu Ausflügen nach Radley, Abingdon oder Godstow entführt? Natürlich wollte der flotte Seemann seine Freizeit an Land möglichst ausnützen. So pflegte er um zehn Uhr morgens in prächtigem Ruderdreß im Garten zu erscheinen und Oliver mit einem Schal zuzuwinken.

»Du kannst doch hier nicht den ganzen Tag sitzen und büffeln! Du bekommst ganz runde Schultern. Warum scherst du dich darum, was irgend ein weißbärtiger Narr vor Jahrhunderten über Dinge geschrieben hat, von denen er doch nichts wußte?« Und dann wurde Oliver aus seinem Gartenstuhl gezerrt und teils mit Gewalt, teils durch freundschaftliches Zureden gezwungen, einen interessanten Satz oder einen Gedanken, der ihn gerade beschäftigte, im Stich zu lassen. Zweifellos tat ihm die körperliche Bewegung gut; es war schändlich, so schlecht in Form zu sein. Doch warum mußten sie unterwegs immer Station machen und den Lunch oder Tee im ›Königswappen‹ zu Sandford einnehmen? Hätten sie nicht genau so gut in der ›Island Inn‹ oder der ›Tandem Inn‹ oder im ›Wappen von Harcourt‹ einkehren können? Aber nein: Jim hielt hartnäckig an seinen alten Schlupfwinkeln fest, fühlte sich im ›Königswappen‹ ganz unbefangen zu Hause und stand offenbar mit Mr. Bowler, Mrs. Bowler und selbst den Küchenmädchen nach wie vor auf bestem Fuß.

Olivers kleiner Freund Bobby war nicht mehr da. Und das war vielleicht ganz gut, seine Gegenwart hätte peinlich sein können. Am Ende war es überhaupt ganz gut, etwas zu entbehren, was einem Freude gemacht hätte. Und für Bobby war es entschieden besser so. Ein unbekannter Wohltäter hatte es ermöglicht, das Kind in eine anständige auswärtige Schule zu schicken.

Trotzdem fühlte sich Oliver durch und durch unbehaglich. Jims Unterhaltung hatte die frühere Lebhaftigkeit und Mannigfaltigkeit verloren, selbst wenn sie allein waren. Die Welt regte seinen Witz und seinen Zynismus nicht mehr an; alles war für Jim eine alte Leier geworden. Er interessierte sich nur noch für seine recht konfusen Privatangelegenheiten und wiederholte beständig, welcher Esel jener Smith gewesen sei, und wie unglaublich schlecht sich damals dieser Jones benommen hätte. Er hatte den Ton eines abgedankten Premierministers angenommen, der seine Memoiren schreibt. Jeder außer ihm selbst war zu tadeln; und die unerhörte, fortdauernde Dummheit anderer Leute hatte ihn jedesmal gerade dann um die Früchte seiner unleugbaren Genialität gebracht, wenn sie ihm zum Pflücken reif vor der Nase gehangen hatten. Ein flüchtiger Schimmer des vergangenen Lord Jim kam hie und da noch zum Vorschein; dann schmerzten Olivers alte Wunden, und es war ihm unmöglich, ganz resigniert und gleichgültig zu bleiben. So bedeutete es eine melancholische Erlösung, als der Seemann sich wieder auf See begab.

Kaum war Jim fort, da kam Rose zu den Ferien heim. Sie beendete ihre Ausbildung (auf Olivers Kosten) in der Abbey School in High Wycombe. Ihr kindliches Verlöbnis wurde niemals erwähnt und von beiden stillschweigend als nichtig betrachtet; und doch behielt Oliver den Gedanken, eines Tages Rose zu heiraten, gleichsam in stiller Reserve als eine Möglichkeit, die der quälenden Unbestimmtheit seiner Zukunft mehr Form verlieh. Das Mädchen, dachte er gern, war wie die Sylvia in Shakespeares Lied: heilig, schön und weise; wenigstens lag eine unberührbare Stille über ihr, die an derartige Beiworte denken ließ. Vielleicht war in ihrer Weisheit mehr Verachtung als Heiligkeit und in ihrer Schönheit eine gewisse Kälte. Sie ging wortlos und aufmerksam ein und aus, so wie sich eine Blume fortbewegen würde; und ihr häuslicher Fleiß tat der augenscheinlich passiven und instinkthaften Anmut, mit der sie aufblühte, keinen Abbruch. Sie schien ganz Beobachtung, ganz Erwartung, man konnte nicht wissen, was aus ihr werden würde; und Oliver, der selbst nur langsam reifte, konnte es sich leisten, ihre Entwicklung abzuwarten. Als eine Art heraldischen Symbols für ideale Minne war dieses hochgewachsene, ätherische Kind im Augenblick ganz das Richtige.

Vor allem wirkte Rose in ihrer Abwesenheit; denn wenn sie in Person anwesend war, fühlte er sich weniger behaglich. Nicht daß sie ihn wie Jim zu irgendwelchen Ausflügen zwang; sie war so ruhig und unauffällig wie ein Sonnenstrahl, aber auch ebenso unparteiisch. Die Zimmer und die Möbel sahen nun polierter und gepflegter aus; überall im Hause standen frische Blumen, auf den Tischen lagen Deckchen, und ein schlankes, weißes, goldblondes Mädchen tauchte im Garten auf oder ging leichten Schrittes durch das Haus, an ihrer Seite der große Windhund, den Oliver ihr geschenkt hatte. Sie drängte sich niemals auf, und sie unterhielten sich nur selten miteinander. Aber irgendwie blieb er sich beständig ihres Daseins, ihrer Nähe bewußt. Ohne ihr Zutun erweckte ihr stilles Wesen in ihm das Gefühl, als hätte er etwas zu verbergen. Sein Auge folgte unwillkürlich allen ihren Bewegungen. Sie bezauberte und verwirrte ihn. Hatte ihre bloße Gegenwart etwas Vorwurfsvolles und Ironisches an sich? Warum war er mehr im Gleichgewicht, wenn er allein blieb? War ihr Stolz vielleicht im geheimen beleidigt, weil er ihren Vater unterstützte und ihre Erziehung bezahlte? Erinnerte sie sich daran, daß sie vor Jahren miteinander Verlobung gespielt hatten, und erwartete sie nun, er solle ihr den Hof machen? Hatte sie von Edith gehört und war sie eifersüchtig? Wußte sie, daß Edith ihn hatte sitzen lassen, und lachte sie ihn aus? Wollte sie ihn auch sitzen lassen? Haßte sie ihn? Nein, sie zeigte ihm ja hundertmal in ihrer mütterlichen Art, daß sie ihn gern hatte; sie vergaß nie ein Wort, das er gesagt hatte; sie hörte auf seine Ratschläge, sorgte im stillen für seine Kleider und nähte seine Knöpfe an, las die Bücher, die er ihr empfahl, schien immer mit ihm übereinzustimmen und seinen Geschmack zu teilen. Und doch schien all diese Freundlichkeit bei ihr so selbstverständlich zu sein wie bei einer Kinderfrau oder einem Heimchen. Sie lächelte ihm zu wie einem Baby, fast als ob sie ihn bemitleidete. Das war weiter nicht schlimm; vielleicht rechnete sie ihn einfach zur Familie.

Wahrscheinlich waren Schwestern immer so, nette Schwestern wenigstens. Seine Kusinen, die Töchter von Onkel Harry Bumstead in Williamstown, die einzigen Wesen, die er etwa als Schwestern hätte betrachten können, ließen in dieser Beziehung zu wünschen übrig. Sie waren ganz gescheit und aufrichtig, aber sie hatten eine unangenehme Art, spöttisch, scharf und herausfordernd zu sein; sie sprachen näselnd und stets mit übertriebener Betonung des Wörtchens ›ich‹, mit dem jeder ihrer Sätze begann, und des Wortes ›sehr‹, das jedes ihrer Adjektive begleitete. Sie wären schreckliche Schwestern gewesen; aber da sie nur Kusinen waren, brauchte Oliver nicht an sie zu denken und sie nie wiederzusehen. Rose aber war ihrem Bruder eine entzückende Schwester, mütterlich und töchterlich zugleich; nie beklagte sie sich über ihn und schien ihn nie zu kritisieren, doch beobachtete sie ihn ungeheuer genau, erriet alle seine Geheimnisse und litt still mit ihm, wenn ihm etwas mißglückte. Und ähnlich verhielt sie sich auch Oliver gegenüber, nur daß sie ihm offenbar noch mehr vertraute und ihn mehr achtete als Jim; sogar ihren Vater behandelte sie so: geduldig, hingegeben, anerkennend und doch, als täte ihr der alte Mann im geheimen leid, als lächelte sie heimlich ein wenig über ihn wie über einen harmlosen Wahnsinnigen. Vielleicht hielt sie auch Oliver für harmlos verrückt.

Auf alle Fälle war ihre körperliche Gegenwart, so gern er sich in Gedanken mit ihr beschäftigte, zu beunruhigend für ihn. Er konnte nicht lesen, er konnte nicht richtig nachdenken, wenn dieses geheimnisvolle Fluidum in der Luft lag; und wenn er die Arbeit beiseite legte und mit Rose spazieren ging oder ruderte, war er auch nicht glücklicher. Dann vermißte er seine Bücher, die ihm schließlich mehr zu sagen hatten als seine junge Gefährtin, und er fühlte sich auch innerlich unbehaglich in ihrer Gesellschaft. Er kam sich als fünftes Rad am Wagen vor, als geduldeter Eindringling, zu dem man wegen seiner Großzügigkeit liebenswürdig ist, den man aber nicht um seiner selbst willen sucht und liebt. Und Geschenke auf Geschenke zu häufen, das würde die Sache auch nicht besser machen; das würde nur die ganze Spannung verstärken und das geheime Unbehagen unerträglich steigern. War er verliebt? Wenn ja, warum sollte er das nicht zugeben, offen den Anbeter spielen, als solcher angenommen werden und alle Vorrechte und Vorfreuden des künftigen Gatten genießen? Oder warum sollte er dann nicht sofort heiraten? Rose war jung, aber sie war in heiratsfähigem Alter und innerlich völlig reif zur Ehe. Nein, er war offenbar doch nicht verliebt, da diese Aussicht ihn nicht lockte. Eines Tages würde er sie vielleicht gern heiraten, aber jetzt noch nicht. Jetzt wollte er nichts als studieren.

Infolgedessen zog er in die Stadt, unter dem Vorwand, dort der Bibliothek näher zu sein. Er nahm Wohnung in einem Gasthaus, das zufällig den gleichen Namen trug wie jenes andere verhängnisvolle in Sandford und also ›Königswappen‹ hieß. Es lag bequem, war bescheiden und wurde von Geschäftsreisenden, Landwirten, Geistlichen und unbemittelten Amerikanern besucht. Von seinem niedrigen quadratischen Eckzimmer aus, das ihn mit seinen vier vielscheibigen Fenstern an Emersons Zimmer in Divinity Hall erinnerte, hatte Oliver eine weite Aussicht und konnte sogar noch ein Stück von Ratcliffe und den Turm von St. Mary erblicken. Die Wände waren mit gestochenen Porträts von Bischöfen und Rektoren aus Dr. Johnsons Zeit verziert; und er brauchte nur hinunter in die Bar zu gehen, dann konnte er sich hundert Jahre zurück in die Epoche Dickens' versetzen, den Dampf des heißen Punsches aufsteigen sehen, die gelegentlichen Bemerkungen der Zechkellner auffangen und die hübsche Wirtin inmitten ihrer Kannen und Krüge bewundern. Hier pflegte er denn auch manchmal auf einem weichen schwarzen Ledersofa zu sitzen und seinen Tee zu trinken oder sogar ein Glas Shandy-Gaff zu bestellen, wodurch er bewußt in seinem Innern das Echo der Vergangenheit herausforderte und ihm trotzte. Er mochte Shandy-Gaff eigentlich nicht, und er machte sich nicht viel aus Tee; die Zäpfer und die Wirtin waren ihm vollkommen gleichgültig, aber er neigte dazu, über seine eigenen Erfahrungen nachzugrübeln, sie völlig zu verarbeiten und sie mit einer Art grausamer Empfindsamkeit noch einmal gründlich zu entzaubern.

Jeden Morgen um neun Uhr stieg er die lange Treppe zu Duke Humphrey's Bibliothek hinauf. Die breite, bequeme Treppenflucht, die sich in ihrem viereckigen Turm aufwärts wand, hatte etwas Symbolisches. Man wußte nicht, an wie vielen Stockwerken man eigentlich vorbeikam, kaum daß es einmal eine Tür gab, und die war dann verschlossen und verriegelt. Genau so war sein Leben: bequem, vielversprechend, fast prächtig, doch auch in ihm gab es keine Ausgänge, keine Möglichkeit einer glücklichen Wahl, nur den fortwährenden Zwang weiterzugehen.

Hier in der Bibliothek aber erreichte man schließlich einmal das oberste Stockwerk. Neben einem Fenster, das auf den Exeter-Garten hinausging, fand Oliver seinen Bücherstoß vor, der wohlbehalten und vollständig auf dem langen eichenen Lesepult lag. Ein Papierstreifen mit seinem Namen, der im obersten Band steckte, genügte, um die Bücher für ihn zu reservieren. Diese Fensternische, die der Wabe in einem Bienenstock glich, wo man still und allein, aber unter den Augen und im Dienst der Allgemeinheit arbeitete, dieser Blick in den klösterlichen Garten, dieses Dach, dessen Balken und Sparren frei zutage lagen und einen malerischen Schmuck bildeten, der dumpfe Geruch der alten Kalbslederbände, die er las – alles das versetzte Oliver mitten in eine längstvergangene Zeit, in eine Welt voller Pathos und Pflicht, voller Liebe und Kampf. Wohin war er entflohen, dieser Zauber, dieser Frohsinn, dieser Glanz?

Manchmal am Spätnachmittag pflegte er, um das feststehende Dinner im Gasthaus zu vermeiden, auf dem Treidelpfad nach Iffley zu wandern, um das Abendessen, das Mrs. Darnley sicherlich bereithielt, mit den Pfarrhausbewohnern zu teilen: Brot, Käse und den guten, frischen Salat; denn in seiner Abwesenheit kehrte die alte Dame zu ihrer früheren Sparsamkeit zurück, nur daß sie sich jetzt zum Mittagessen manchmal einen Braten oder ein Steak leisten konnte und man sie jetzt öfter als früher ruhig strickend und mit einem ganz ungewohnten Ausdruck von Gelassenheit und frommer Ergebung in ihrer Ecke sitzen sah.

Dann, nach dem Abendessen, wenn der Glanz des Sonnenuntergangs noch am Himmel lag, bewog Oliver den Pfarrer zu einem Gang über die Felder und zu einer theologischen Diskussion. Mr. Darnley behandelte ihn mit einer Mischung von patriarchalischer Überlegenheit und entschuldigender Hochachtung, etwa wie ein Einsiedler einen jungen Prinzen. Für gewöhnlich blieb seine ganze Art ebenso wortkarg, ungelenk und befangen wie am ersten Tag ihrer Bekanntschaft; aber wenn sich ihre Gespräche von den unvermeidlichen Kleinigkeiten und Gemeinplätzen des Augenblicks zu spekulativen Themen erhoben, pflegte der Pfarrer sich selbst zu vergessen und zum Sprachrohr reiner Inspiration zu werden. Dann redete er mit einem entrückten Ernst und einer weisen Liebe, die bei der Betrachtung aller menschlichen Leidenschaften, zumal der ichbezogenen Gefühle, scharf das echte Gold von aller Schlacke schied.

Unter diesem Eindruck versuchte Oliver wohl, auch seine eigenen Gefühle dieser Reinigung zu unterziehen und deshalb alle diese Gedanken zuerst der kirchlichen Bildersprache und Rhetorik zu entkleiden, in welche der Geistliche seine Moralphilosophie ganz unwillkürlich hüllte; doch blieb die Übertragung schwierig. Der Pfarrer war inspiriert; und ein inspirierter Mensch traut seinen Eingebungen ohne weiteres und hält das, was er erfindet, für die Wirklichkeit, die er entdeckt hat. Doch ist der Rauschzustand vorbei, dann verliert die vermeintliche Wirklichkeit ihren Gehalt; wir sehen, daß sie ebenso wie alle Dichtung ein Geschöpf unserer Laune, ein Symbol unserer Leidenschaften war, das weit davon entfernt ist, uns weise zu leiten, und uns mit einem Traumbild betrügt. Würden wir auf dem rechten Wege vorwärtsgehen, wo die Wirklichkeit unsere Hoffnungen erfüllen könnte, so bedürften wir zu unserer Stärkung keiner visionären Ideale. Die Tatsachen würden genau zu uns passen und würden in der Art, wie sie sich Schritt für Schritt entfalten, seltsamer und reicher als wir ahnten, unser unbefangenes Interesse und Entzücken erregen. Warum also geschieht das nicht? Warum gehen wir aus unseren Erfahrungen so verzweifelt, verwirrt und ermüdet hervor, daß wir uns wie Plato und Plotinus und die christlichen Heiligen nach einem eingebildeten Himmel oder einer unmöglichen Utopie umsehen müssen, um Trost und Frieden zu finden?

Der Pfarrer kannte sicherlich eine geheime Lösung dieses Problems, aber er war kein Missionar, kein ehrgeiziger Prophet und hätte mit Freuden seine Weisheit unausgesprochen gelassen. Doch Oliver gegenüber taute er unwillkürlich ein wenig auf; der Junge besaß so viel Scharfsinn, eine so hohe Intelligenz, und dahinter verbarg sich ein so weiches Herz. In allen ihren Gesprächen blieben sich Meister und Schüler des Vorhandenseins von Jim bewußt, der irgendwie die Quelle und der Mittelpunkt ihrer Sorgen war. Warum war Jim eine verfehlte Existenz? Hatte er einfach Unglück? Hatte er falsche Grundsätze? Wenn aber Jims Grundsätze falsch waren, welches waren dann die richtigen? Was war es denn, das in der innersten Natur der Dinge diese Natur dennoch verurteilte? Plato, Plotinus und die geheime Kraft des Christentums schöpften aus dieser Frage ihre ganze bittere Schärfe.

Es galt für ausgemacht, daß diese Systeme keine historische Wahrheit enthielten; ihr Untergrund und ihre Rechtfertigung waren bloß menschlicher und psychologischer Art. Sie drückten durch einen Mythos die Auflehnung der moralischen Natur des Menschen gegen die tatsächliche Welt aus. Doch wenn die moralische Natur des Menschen der Welt widersprach und ihr zuwiderlief – sollte dann nicht diese moralische Natur verwandelt und in Einklang mit der Wirklichkeit gebracht werden? Warum mußte man diese unglückselige sittliche Rebellion noch mit allen möglichen Fabeln und mit sentimentalem Bedauern nähren? Oliver in seiner unbeirrbaren Einheitlichkeit konnte eine doppelzüngige oder zweideutige Philosophie nicht ertragen; und dem armen Pfarrer wurden durch die Wahrnehmung dieses unbesiegbaren sittlichen Widerstandes alle seine Bekenntnisse abgeschnitten, er sah sich wiederum auf eine bildliche Redeweise und traditionelle Beredsamkeit beschränkt, und nur wie durch buntes Glas leuchtete dahinter quälend und verlockend eine verborgene Weisheit auf, die jenseits von Olivers Vernunft lag.


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