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9

Einige Tage vergingen, dann war das Sommersemester zu Ende, und der muntere Mr. Morrison-Ely schlug vor, Peter, dessen Herz sich durchaus nicht so benahm, wie es sollte, in ein ruhigeres und bequemeres Quartier zu bringen. Einer seiner Freunde, der in Eton französischer Lehrer war, wolle ausnahmsweise seine Zimmer während der Ferien vermieten. Diese seien mit einer Sammlung der sonderbarsten und interessantesten Bücher vollgepfropft, die man nur einem Bibliophilen wie Dr. Alden anvertrauen könne. In den langen Tagen, bis der Patient sich wohl genug befände, um weiterzureisen, würden sie ein unschätzbarer Zeitvertreib sein. Die Küche sei einfach, aber ausgezeichnet, und da es keinen andern Mieter gäbe, stände die Hausfrau völlig zu ihren Diensten. Die kleine Mildred würde man natürlich beibehalten, sodaß sich in der Pflege des alten Herrn nichts zu ändern brauche; unterdessen habe dann Oliver Zeit genug, um mit der Eisenbahn, zu Fuß, zu Pferd, zu Rad, wie es ihm gerade einfiele, das Land zu durchstreifen; oder er könne auch nach London hereinfahren, wenn er gelegentlich einen Wechsel des Schauplatzes und des Ideenkreises nötig fände.

Mit den gebührenden Entschuldigungen vor dem Geist Letitia Lambs wurde die Rundreise zu den Kathedralen auf unabsehbare Zeit verschoben. Doch war damit für Olivers Bildung nichts verloren. Eton erwies sich, selbst als Mario fort war, oder vielleicht gerade, weil in seiner Abwesenheit sein Geist nur um so lauter sprach, als ein unerschöpfliches Lehrbuch. Oliver begann den Ort in den Fußstapfen der üblichen Touristen zu erforschen, aber durch wiederholte Besuche und Trinkgelder gewann er sich bald die Zuneigung der offiziellen Fremdenführer und löste ihnen die Zunge. Besondere Türen und besondere Geheimnisse erschlossen sich ihm; und die Namen und Zwecke und historischen Würden jedes Ortes und jedes Gegenstandes wurden ihm enthüllt. Aber seine angenehmsten Stunden waren die, wo man ihn in der Upper School oder in der Kapelle allein ließ, und wo er sich in Muße zwischen den Denkmälern und Inschriften ergehen und die Leere ringsum mit einer Schar von Schatten wiederbeleben konnte.

Nun las er auch Bücher über Eton. Und indem die intimere Überlieferung des Ortes und die Besonderheiten des dortigen Lebens seinen Gedanken vertraut wurden, gingen ihm allmählich auch die Augen für den Zauber und die Eigenart des äußeren Bildes auf. Er fing an, die verschiedenen Stile und Perioden der Architektur zu unterscheiden – nicht ›kunsthistorisch‹ in der Art Fräulein Irmas und Miß Letitia Lambs, sondern rein instinktiv, wie man die Menschen und die Dinge nach ihren verschiedenen moralischen Qualitäten voneinander unterscheidet. Er begann seinen Geschmack zu bilden.

Eine mönchische Strenge, eine Atmosphäre frommer Armut und Mühsal schien für sein Gefühl noch immer um die Mauern des Colleges zu schweben. In der Kapelle konnte man das erhabene Skelett des mittelalterlichen Glaubens noch immer würdevoll in Stein einherschreiten sehen, und in der Stille der Nacht oder im Brausen der Orgel vermochte das Gebet hier noch heute die grelle moderne Aufmachung zu durchdringen. Er empfand das Höfische der Tudorzeit, das noch über dem Schulhof lag, die anheimelnde Wärme seines rohen Backsteins, die eigentümliche Romantik seiner Türmchen und Zinnen. Im Innern erkannte er auf gewissen Porträts des achtzehnten Jahrhunderts den Stempel einer kriegerischen Kühnheit und Eleganz, während Handelsgeist, Neigung zu Kompromiß und Freudlosigkeit die Bilder des neunzehnten Jahrhunderts kennzeichneten. Das zwanzigste Jahrhundert aber – soweit schon etwas von ihm zu sehen war – verriet eine erschrockene Kapitulation vor dem Geist der Demokratie und vor der Herrschaft athletischer Künste. Was die Herrschaft der Demokratie und der körperlichen Übungen bedeutete, wußte Oliver aus Erfahrung. Es war eine doppelte Tyrannei, die er ohne Widerspruch als selbstverständlich hinnahm wie die von Regen und Sonnenschein. Nur gewisse malerische Züge, Überbleibsel ganz ursprünglichen, spielerischen Sports erregten dabei sein Interesse. Aber diese Jungen hier mochten unterjocht werden, doch wurden sie wiederum nur von andern Jungen herumgejagt; sie waren noch keine öffentlichen Wettkämpfer. War er selbst je so richtig ein Junge gewesen? Hatte er überhaupt je gespielt? Hatte er je den kleinsten Streich verübt?

Jetzt war es zu spät dafür. Trotz seines Reichtums und seiner Herkunft war er dazu verurteilt, ein ganz simpler Bursche zu bleiben wie die Stipendienschüler in diesem College hier. Auch recht! Eine nüchterne, bedürfnislose, einfache Jugendzeit befähigte den Menschen, die Welt von einer höheren Warte aus zu betrachten. Später mochte man sich mit den Eitelkeiten des Lebens auseinandersetzen; sie würden einem doch immer fremd und störend bleiben. Das war ein Schutz vor vielen Gefahren. Vielleicht war es ganz gut, daß er sich nicht für die goldenen Buddhas und Luxusausgaben seines Vaters begeistern konnte.

Und doch: wer durch diese kunstreiche Welt als gedrückter Fremdling ging, der versagte sich viel. War es nicht ein Zeichen größerer Reife, wenn man alles mit aufgeräumtem Biedersinn genoß wie Jim oder leichtherzig wie Mario, der durch die ganze Schaustellung hindurchtanzte, als wäre sie ein anmutiges Ballett oder eine prächtige Oper? Wenn die große Welt einen solchen Glanz ausstrahlte, so mußte sie doch wirkliche Leuchtkraft besitzen, von der sich das Auge mit natürlicher Freude anziehen ließ. Die Liebe konnte keine Süßigkeit, die Musik keinen Zauber entfalten, wenn nicht unser Innerstes dabei zum Leben erwachte und ihrem Ruf antwortete; vielleicht entfaltete es sich zum ersten Mal, wenn es sich diese Illusion schuf.

So entwickelte sich in Olivers Geist ein neues Empfindungsvermögen. Sein Gedächtnis blieb das des Klassenprimus, der auf jede Frage ›Tatsachen‹ und die ›richtige‹ Antwort verlangte. Bis jetzt dachte er noch nicht darüber nach, ob eine Frage an sich überhaupt richtig oder im geringsten notwendig sei. Und doch begann der Atem eines wirklichen Verständnisses die vielfältige Masse seines nüchternen Wissens zu beleben. Bilder schlossen sich zu Gruppen zusammen und forderten die Einbildungskraft dazu heraus, sie weiterhin zu ergänzen. Die Tatsachen, die Ursachen, die Ereignisse waren zunächst nichts als sonderbar; ihnen nachzuspüren war eine endlose, dunkle, enttäuschungsreiche Aufgabe. Doch wie es sich auch ursprünglich mit ihnen verhalten haben mochte, es waren doch Ideen, Harmonien aus ihnen emporgeblüht. Das Buch der Erfahrung war für Oliver ein Buch der Dichtung geworden; und während er dessen Worte las, vernahm er die Musik, die sie begleitete.

»Liest du noch immer über Eton?« fragte Peter, als er den bunten Schutzumschlag eines Geschenkwerkes sah, mit dem sich Oliver beschäftigte. »Du scheinst den Reiz Etons stärker zu empfinden, als ich erwartete.«

»Eton mag für gewisse Leute und aus einer gewissen Entfernung betrachtet schon seinen Reiz haben« – die Wirkung der Ferne erfüllte Oliver mit Hohn – »aber im einzelnen kommt mir das Leben hier ziemlich schäbig und gräßlich vor. Warum findet man sich damit ab? Ich kann nicht verstehen, daß alle diese kleinen Jungen, die meist aus reichen Häusern stammen, es sich gefallen lassen, daß sie eingefuchst und gequält und in den Schmutz getrieben werden, um Rugby zu spielen, einerlei, ob sie sich dafür eignen oder nicht. Und alle die großen, stutzerhaften Bengel lassen ganz demütig ihre Hosen herunter, damit ihr Kapitän sie verwichsen oder ihr Lehrer sie verhauen kann! Wenn sich so etwas in ›Nicholas Nickleby‹ abspielte, wollte ich es noch verstehen – dann wäre es einfach Einschüchterung, Tyrannei, unverhüllte Brutalität, mit der ein schleichender Bösewicht von Schulmeister hilflose Waisen behandelt. Aber in der aristokratischsten Schule der Welt und unter anglikanischen Geistlichen« – und Oliver dachte daran, daß manche anglikanischen Geistlichen zwar gemeine Kerle waren wie Mr. Rawdon-Smith, andere aber Heilige wie Mr. Darnley – »wie ist so etwas nur möglich? Und dann die ganze phantastische Etikette von Mützen, Farben, Jacken, Westen und Kragen, Pumps auf der Straße und Gehen auf einer bestimmten Straßenseite – wie kann sie nur bestehen? Aber das größte Rätsel steckt darin, daß trotz aller Grausamkeit und Torheit dieses Schullebens doch jeder, der hier sein darf, sich bevorzugt dünkt, selbst Mario, obwohl er darüber lacht. Woher kommt es, daß die gleichen Leute, die darunter gelitten haben, sich später so leidenschaftlich dafür begeistern? Denn die Neuerungssüchtigen, die Englands Public Schools hassen, sind gewöhnlich Käuze, die sie selbst nie besucht haben.«

»Mein Gott, diese Unmenge von Fragen! Wahrscheinlich kann sie dir kein Mensch beantworten«, murmelte Peter. Er war in Wirklichkeit gar nicht bestürzt, sondern schreckte nur davor zurück, die Gedanken aufzuscheuchen, die unbeweglich wie Tiefseetiere auf dem Grunde seines Geistes ruhten. Er gab sich für gewöhnlich mit der glasglatten, schläfrigen Oberfläche, dem Abhaspeln der täglichen Kleinigkeiten und Gemeinplätze zufrieden. Doch gefiel es ihm, daß sein Sohn geistig so rege war. Genau die gleichen Fragen hatten Peter in seiner Jugend und während seiner langen Reisen beschäftigt; und seine Lebenserfahrung hatte in seinem Geist allmählich Form gewonnen und sich zu ein paar Schlagwörtern und Maximen verdichtet, um die seine halb wohlwollende, halb weltverachtende Philosophie kreiste. Er bemühte sich nun, ernst zu sein, da er sah, wie ernst es sein Sohn meinte. Er versuchte seine alten ersten Grundsätze oder vielmehr seine letzten Schlußfolgerungen wieder aufzubügeln, um den Fragen dieses unschuldigen Anfängers zu begegnen.

»England«, sagte er, »ist ein Land, in dem sich's leicht leben läßt, das aber sehr schwer zu verstehen ist. Es hat sich selbst niemals verstanden: es lebt auf Grund eines Kompromisses zwischen unvereinbaren Tendenzen. Wir in Amerika sind einfacher; wir haben drei Viertel des englischen Ballastes über Bord geworfen; wir haben wenig bewahrt, außer dem positivistischen kommerziellen, kolonisierenden Zug, der unsere Voreltern beherrschte. Doch diese stammten zum größten Teil aus einer bestimmten extremen Partei Englands; und was du hier in Eton findest, ist eben genau der entgegengesetzte Zug der englischen Mischung. Kein Wunder also, daß er dich überrascht und sogar ärgert. Er beruht aber auf der großen christlichen, der großen klassischen Tradition – auf der Vision der Jakobsleiter.«

Das war eins von Peters Schlagwörtern, eins seiner alten Schibboleths, das nun ganz von selbst, vielleicht zum ersten Mal seit Jahren, wieder zum Vorschein kam. Sein Klang, sein Widerhall wirkte wie ein zündender Funke. Eine ganze Zündlinie von Ideen, Episoden, jugendlichen Diskussionen fing Feuer und erwachte in seinem Geist zum Leben. Er fühlte sich verjüngt. Er legte sich bequem auf dem Sofa zurecht und wurde bei seinem Thema warm.

»Jakobsleiter? Du wirst fragen, was ich damit meine. Ich will versuchen, es dir zu erklären. Erinnerst du dich an den Vetter Caleb Wetherbee und an seine Ansicht über Goethe? Damals schienst du Vetter Calebs Gründe vollkommen zu begreifen, obwohl du natürlich nach wie vor Goethe für einen großen, weisen und guten Mann hieltest, mochte er auch ein Heide sein. Nun, die Jakobsleiter ist die sagenhafte moralische Stufenordnung, die von der Phantasie Vetter Calebs, Platos und der konservativen englischen Gentlemen dem Universum aufgezwungen wird; aber in Goethe und Emerson, in dir und mir, in den liberalen englischen Intellektuellen und Philosophen ist die heidnische Phantasie über dieses Bild hinausgewachsen. Wir tragen entweder gar keine moralische Rangordnung mehr ins Universum hinein – was meiner Ansicht nach richtiger ist – oder höchstens diejenige, die wir in unserem eigenen Leben zu finden erwarteten, als wir noch jung und romantisch waren. Ich meinerseits nehme an, daß es im Weltall eine verborgene natürliche Ordnung gibt, der die Moral genau so unterstellt ist wie der Körper; wir brauchen sie nicht ausdrücklich festzusetzen, denn wir gehorchen ihr, ob wir wollen oder nicht. Aber diese halb enträtselte natürliche Ordnung läßt uns in moralischer Beziehung unsere ganze naturhafte heidnische Dunkelheit und Freiheit, und wir haben nur wenig Lust, die Jakobsleiter zu erklettern, die von den Platonikern, den Katholiken und den konservativen englischen Gentlemen errichtet worden ist.

Aber was in aller Welt hat diese altersschwache Jakobsleiter mit den Prügelstrafen und den bunten Westen zu tun? Sie hat tatsächlich sehr viel damit zu tun; denn wenn das moralische Universum wirklich nur aus einer einzigen Leiter und Stufenfolge bestände, dann müßte jedes niedrigere Geschöpf zu dem höheren aufblicken, müßte respektvoll ausweichen, um die oberen Wesen vorbei zu lassen, und müßte danach streben, ihnen wenn möglich gleich zu werden, falls aber dies Ziel zu hoch gesteckt wäre, wenigstens einen erborgten Glanz darin finden, die Höheren zu lieben und ihnen zu dienen. Das erklärt, warum in Eton die jüngeren Schüler den älteren gehorchen und untertan sind.

Natürlich besitzen nun die höheren Gattungen irgendwelche auszeichnenden Merkmale, die ihnen so selbstverständlich vorkommen wie dem Pfau sein prächtiger Schweif. Aber für eine bescheidene, niedrige Kreatur wie etwa die Kuh hätte es nicht viel Zweck, sich eine derartige Pracht zu wünschen, wenigstens nicht in diesem Leben; und doch ist es für sie erhebend, zu wissen, daß es solchen Glanz in der Welt überhaupt gibt; und die treue Pfauhenne, die ja auch selbst keineswegs schmucklos einhergeht, schaut mit Entzücken und Staunen an ihrem Herrn und Meister jenen Glanz, der ihr versagt ist. Da hast du die Rolle der bunten Westen.«

Peter brach in sein gewohntes unterdrücktes, fast lautloses Lachen aus, und Oliver wurde von seinem Lachen ein wenig angesteckt, ohne jedoch an dem Humor seines Vaters viel Geschmack zu finden.

»Ich sehe noch nicht ein«, sagte er kühl, »wieso deine Jakobsleiter Schläge, Bedrückung und allgemeinen Zwang rechtfertigt. Treten sich denn auf der Jakobsleiter die kleinen Engel gegenseitig? Und dann glauben wir ja auch heutzutage gar nicht mehr an Jakobsleitern, ich wenigstens nicht; und warum soll mir zum Beispiel ein Kapitän der Rudermannschaft unbedingt wertvoller vorkommen als Mario, der in Eton nichts gilt?«

»Richtig«, rief Peter und geriet noch mehr in Schwung. »Da erinnerst du mich an einen wichtigen Punkt, den ich vergessen hatte. Die Sache ist so kompliziert, daß man kaum alle Fäden in der Hand behalten kann. Warum neigen wir freien Amerikaner heimlich dazu, Snobs zu sein? Warum fühlen wir als stolze, romantische Heiden vom Schlage Nietzsches und Walt Whitmans doch die uneingestandene Neigung, den Erzengel in der hellblauen Mütze – oder wenn er älter ist, in der blaßroten – anzubeten, der auf dem Gipfel der Jakobsleiter steht? Weil unser Heidentum, mein lieber Oliver, noch unreif und ängstlich ist. Wir haben uns des Feudalismus und des Christentums erst unvollkommen entwöhnt. Unser Stolz auf die Freiheit ist bloße Verstellung. Wir haben ihn angenommen, um unser innerstes Gewissen, das immer noch an die Jakobsleiter glaubt, zu ersticken. Denn sollte es wirklich nur einen einzigen Pfad und ein einziges richtiges Ziel für uns alle geben, sollten wir dennoch alle von Geburt an zu denselben Tugenden und zu denselben Wahrheiten bestimmt sein, dann wäre allerdings eine Disziplin notwendig, um uns auf dem engen Pfade festzuhalten und uns zum Gipfel emporzuheben. Eine zwangvolle, halb klösterliche Herrschaft wäre dann in Wahrheit gar kein Zwang, sie würde uns nur erheben und uns vor Gemeinheit und Unehre bewahren. Und was die Leiden angeht, die man durchmacht, wenn man seine wahre Natur unterdrückt oder mißbraucht, so sind sie früher oder später unvermeidlich und werden bleiben, solange das Laster bleibt. Leiden können auch dazu dienen, unsere sündhafte Natur zu unterdrücken und zu peinigen; jedenfalls sind sie ein Beweis für das Vorhandensein der Sünde und ein unfreiwilliges Sündenbekenntnis. Theoretisch ist es demnach keine Grausamkeit, eine zeitliche Strafe zu vollziehen, und keine Schande, sich ihr zu unterwerfen. Buße wird für uns alle nötig und Erlösung für uns alle möglich. Demut und höchster Ruhm gehen Hand in Hand miteinander und rechtfertigen sich gegenseitig. Dann ist strenge Zucht nur vernunftgemäß, und das Märtyrertum wird gekrönt.

Zu dieser Anschauung bekennt sich Etons ursprüngliche Seele; und hier bewahrt die Überlieferung Prügelstrafen und mörderische Wettspiele noch jetzt als Stufen der Jakobsleiter. Das Überstehen solcher Qualen scheint den Charakter eines Knaben zu klären und zu mäßigen. Er ist in die Mysterien eingeweiht worden, und er fühlt – ich glaube, kraft einer Illusion – daß das Ergebnis nicht wertlos sein kann, wenn er einen solchen Preis dafür bezahlt hat. Und hat er damit so unrecht? Sind an ihm nicht weniger Schlacken, weniger Aufgeblasenheit, Schwindelei und Hilflosigkeit hängengeblieben als an den meisten von uns?«

Alles das schien für Olivers Begriffe ziemlich in der Luft zu hängen. Warum sollte man bei Folgerungen aus einer falschen Hypothese verweilen? Oder war die Hypothese möglicherweise doch richtig? Ziemlich ungeduldig warf er ein:

»Glaubst du denn selbst an die Jakobsleiter?«

»Ob ich daran glaube?« fragte Peter ganz verblüfft. »Ich glaube heutzutage überhaupt nicht mehr, wenn ich es irgend einrichten kann. Habe ich nicht gesagt, die Jakobsleiter sei eine Fabel? Diese Fabel zeigt, was das Weltall wäre, wenn die moralische Natur des Menschen es geschaffen hätte. Ich denke, daß die moralische Natur des Menschen innerhalb der Gesamtheit des Universums eine Angelegenheit von geringer Bedeutung ist, nicht anders als die moralische Natur der Ameise und des Moskitos. Aber für uns bedeutet unsere moralische Natur geradezu alles; das Weltall an sich ist für uns ohne Bedeutung, abgesehen von dem Leben, das wir in ihm zu führen vermögen. Die Jakobsleiter ist das Bild der Grade, die unser sittliches Leben erreichen kann, wenigstens so weit wir uns diese Grade vorstellen können. Sie ist ein poetisches Symbol. Wer ein derartiges Symbol für eine realistische Darstellung der Welt, der Geschichte oder des Schicksals halten wollte, käme mir einfach verrückt vor; aber wie alle gute Dichtung bezeichnet dieses Bild eine Höhenstufe, zu der sich die sittliche Natur in einem bestimmten Weltaugenblick erhoben hat. Der moralisch verfeinerte Mensch sieht die Jakobsleiter klar und deutlich vor sich; nur dem sittlichen Barbaren erscheint sie undeutlich und gebrochen.

Deswegen sage ich trotz allem: Floreat Etona! Ich sage es mit schwacher Stimme, denn ich bin schwach und aufgebraucht. Meine Lebensumstände haben mir niemals erlaubt, saft- und kraftvoll zu werden, mich in irgend einer Richtung mit Willensstärke zu behaupten. Aber ich bin nicht neidisch. Ich liebe es an andern, wenn sie schön und stark sind. Wenn ich meinerseits alt und müde bin, so will ich doch deshalb nicht kleinlich das Prinzip des Verderbens auf das Universum herabbeschwören. Sonent voces omnium liliorum flores. Möge alles blühen, was zu blühen vermag.«

»Ist nicht die Blüte der Lilie etwas anderes als die Blüte des Löwenzahns?« warf Oliver in einer Aufwallung hohnvollen Eifers dazwischen, indem er Eton und die Schule von Great Falls, Connecticut, im Geist miteinander verglich. »Möchtest du beide in gleicher Weise pflegen? Oder wenn nicht Raum für beide ist, möchtest du sie dann miteinander kämpfen lassen und beide Seiten gleichzeitig unterstützen? Oder willst du das Ergebnis des Kampfes abwarten und dann sagen, du habest von jeher auf der Seite des Siegers gestanden?«

Ohne diese Frage zu beantworten, gab sich Peter der Hochflut seiner Gedanken hin. »Ach, die Lilien, die Lilien«, murmelte er, »nicht an die Lilien des Feldes denke ich, sondern an die Lilien im Wappenschilde von Eton – ganz zu schweigen von der goldenen fleur de lys, die rein königlich ist – an die drei Lilien auf schwarzem Grunde, dieses Symbol der Kindheit und der frommen Seelen! Wie sehr verehrte der liebe Harold van de Weyer, der Vater deines Freundes, jene Lilien! Du weißt, er war ganz versessen auf die Heraldik und geriet immer außer sich über ihre dekorative, ziervolle, prunkhafte Kunst. ›Wundernswürdig‹, das war sein höchstes Wort des Lobes. Aber eine Schaustellung darf nicht leer sein, sie muß dem Schaum auf einer Meereswoge, der Beredsamkeit einer tiefen Leidenschaft gleichen. Gerade das tat die Heraldik: hinter ihren schönen Schriftzügen stand Krieg, stand lebenslängliche Lehnstreue, stand ererbte Größe. Ihre Eleganz wäre stutzerhaft gewesen, hätten nicht Ritterlichkeit und Macht ihr den Rücken gestärkt. Harold hatte kein bestimmtes Talent, er meisterte kein Gebiet der Kunst; aber niemand besaß reinere Empfänglichkeit und tiefere Einsicht als er. Sein Geschmack war wählerisch und sein Urteil unerschütterlich. Nichts Verfälschtes, nichts Niedriges ließ er durchgehen, und wäre es von der Allgemeinheit noch so sehr anerkannt und vergöttert worden. So verschloß er sich dem kränklichen Ästhetizismus und plumpen Dünkel, der in unserer Jugend am Ruder war; er ignorierte Ruskin, Swinburne und Browning. Instinktiv hielt er sich ans Barocke, ans Heraldische, an tapfere Einfachheit und freie Laune – mit einem Wort: an die Kunst, Gentleman zu sein. Ebenso in der Musik. Er ignorierte Wagner und betete seine Frau an. Du mußt wissen, Marios Mutter ist wirklich eine geniale Frau; ihre Altstimme hätte Himmel und Erde erschüttert, wenn sie eine gewöhnliche Sängerin gewesen wäre; alle Tiefe ist bei ihr ganz unbeabsichtigt. Sie ist so ruhig wie eine Göttin und so fügsam wie eine Sklavin; und das größte Wunder an ihrer Stimme ist die an- und abschwellende Süße und Heiterkeit, die in ihr schwingt wie die Triller eines gefangenen Vogels. Harold fühlte: auch dies waren, in ein anderes Element übertragen, Lilien auf schwarzem Grunde, gotisches Maßwerk und Filigran, feingesponnenes Silber und Gold, das auf dem Samtgewande einer Mater Dolorosa schimmert wie die Sternbilder im Abgrund der Nacht und des Nichts.«

Einigermaßen überrascht von seiner eigenen Beredsamkeit machte Peter eine kleine Pause; dann fügte er in seinem gewöhnlichen Tone humoristisch entschuldigend hinzu:

»Im Osten, weißt du, hat die Kunst diesen Stil; sie ist dort ekstatisch und kalligraphisch zugleich. Wahrscheinlich liebe ich das, weil mir selbst der lange Atem fehlt. Dazu paßt auch meine alte Anschauung über Poesie – ich meine Poesie im tieferen Sinne, die sich mit Religion und Liebe berührt. Die Poesie ist wie der Wasserstaub, der von einem Windstoß aus dem bewegten Meer emporgeweht wird, oder wie versprühte Funken eines glühenden Feuers; ein Schrei, den die Gewalt des Schicksals irgend einem armen Gesellen auspreßt. Dieser Schrei, dieser Funke, dieser Wasserstaub ist an sich flüchtig oder spielerisch, aber dahinter steht eine Tragödie. Unter dem Bann eines Zaubers werden diese phantastischen heraldischen Figuren auf den Schild der Treue oder der Verzweiflung gemalt.«

Peter hatte sich ausgesprochen. Er blickte auf das Fenster, es war dunkel und bebte ein wenig im herbstlichen Wind. Er blickte auf das Feuer; es brannte freundlich. Er legte den Kopf auf die Kissen, schloß die Augen und schickte sich an, vor dem Dinner noch etwas zu schlafen.

So leicht konnte sich Oliver nicht trösten, und er brauchte Trost. Er konnte keinen Frieden finden, bevor er nicht seine natürlichen Neigungen theoretisch gerechtfertigt und in sittliche Grundsätze verwandelt hatte. Konnten seine Neigungen das Licht des Tages, die Probe, in Worte gefaßt zu werden, nicht bestehen, dann wollte er ihnen auch nicht erlauben, ihn im Unbewußten zu beherrschen. Er hatte ein für allemal mit den heimatlichen Vorurteilen gebrochen. Er hatte sich einem allumfassenden Verstehen, einer allumfassenden Sympathie und Gerechtigkeit geweiht. Die Jakobsleiter wieder aufrichten, das hieß für ihn die moralische Knechtschaft wieder in ihre Rechte einsetzen, von der sich sein Gewissen so stolz befreit hatte; es hieß die Unendlichkeit einzäunen und wiederum versuchen, in einem kleinen irdischen Paradiese zwischen vier Strömen zu leben. Das Universum war kein Garten, die menschliche Seele keine Pflanze. Das Leben war für den Geist kein Gang durch eine gepflasterte Stadt, wo Polizisten an jeder Straßenkreuzung standen; es war eine Meerfahrt, eine erste und einzige Entdeckungsreise, wo man sich seinen Kurs selbst wählen mußte. Er glaubte an die Jakobsleiter ebensowenig wie sein Vater. Sie hatten beide aus allzu tiefen Wassern getrunken, der eine kraft seiner Erfahrung, der andere kraft seiner Intuition. Die alten Calvinisten, dachte Oliver, waren nicht puritanisch genug gewesen; man war keineswegs rein, wenn man es nicht aus Liebe zur Reinheit war. Bei ihnen war alles nur auf Berechnung aus Aberglauben, Gewinnsucht und Rache herausgekommen – Rache gegen jeden Menschen, der glücklicher und besser war als sie selbst. Sie hatten sich mit der Einbildung geschmeichelt, daß, wenn schon sonst niemand, so doch der Herr sie ganz besonders liebe; daß Gott Moses und Christus einzig zu dem Zweck herabgesandt habe, sie vor den kommenden Gefahren zu warnen, damit sie zur rechten Zeit aus dem brennenden Hause entweichen und die vordersten Sitze in dem neuerbauten Welttheater einnehmen könnten. Und sie wagten es nicht einmal, ihre Seele ganz ihr eigen zu nennen, trachteten sie zu ersticken, trachteten verstohlen herauszufinden, was der Wille Gottes war, um sich ihm anzupassen und immer auf der Seite des Gewinnenden zu sein.

Aber Gott hatte sie verlacht und zum Narren gehalten. Es gab in Wirklichkeit keine Gewißheit darüber, welchen Weg das Weltall nehmen würde. Diese hartgesottenen Moralisten waren Götzendiener, die ihre eigenen Einbildungen anbeteten und von ihren eigenen Worten hypnotisiert waren. Sie hatten den Baum der Erkenntnis ein für allemal bis zu einer gewissen Höhe erklommen, waren an der schlüpfrigen Kletterstange der Tugend bis zu einer bestimmten Stelle gelangt. Weiter hinauf kamen sie nicht, von hier aus aber hatten sie sich zurückgewandt, grimmig auf jeden eingehackt, der hinter ihnen zurückblieb, und wütend jeden ausgepfiffen, der sie überholte; sie hatten ihren starren, trockenen Verstand aufgeboten, um alles herabzusetzen, was jenseits ihrer harten und grausamen Moral lag. Doch dieser Maßstab war eben nur ihr Maßstab, Ausdruck ihres Bestrebens, sich innerhalb ihrer Grenzen zu verschanzen. Dies Bestreben war nicht nur nutzlos und letzten Endes unmöglich, sondern vielleicht gab es in der sittlichen Welt nicht nur diesen einzigen Baum der Erkenntnis, an dem Höhen und Tiefen wie ein Wasserstand abgelesen werden konnten.

Vielleicht ließen sich die Wege der Erkenntnis nicht mit einem und demselben Maß messen, ebensowenig wie die verschiedenen Sprachen und die verschiedenen Künste, weil der eine Weg etwa mathematisch war, der andere historisch, ein dritter psychologisch und ein vierter dichterisch; vielleicht waren auch die verschiedenen Arten der Tugend ganz voneinander verschieden und nicht vergleichbar. Der Löwe und der Adler waren auf ihre Weise vollkommen, ebenso waren die Gazelle und die Lerche vollkommen. Wer konnte sagen, was da das bessere war? Und ›besser‹ in welchem Sinn, mit welchem Maßstab gemessen? In einer gewissen Stimmung mochte man sagen: Es ist am besten, wie Jim Darnley zu sein: fleischlich, da man doch einmal im Fleische lebt, hart genug, robust genug, liederlich genug, um sich unter der Menge wohl zu fühlen. In einer andern Stimmung mochte man sagen: Es ist am besten, wie Mario zu sein: von Natur vornehm, klar wie Kristall, heiter ohne Anmaßung, tapfer ohne Rüstung, gleich den Lilien des Feldes oder den Lilien von Eton. Und wieder in einer andern Stimmung konnte man es wohl am besten finden, so zu sein wie er, Oliver: belastet, aber stark; suchend, aber treu; melancholisch, aber stolz. Es war ein törichter Streit; der freie, unendliche Geist in einer freien, unendlichen Welt würde sich niemals mit irgend einem dieser Punkte zufrieden geben und sagen: Dies ist wahrhaftig richtig, dies ist vollkommen, dies ist das Höchste. Vielleicht war die Pilgerschaft an sich das einzig erreichbare Ziel des Geistes, die einzige Heimat der Wahrheit.

Doch was sagte er da? Ein Ziel? Eine Heimat der Wahrheit? Gab es hier denn etwas anderes als das Chaos, ein Knäuel von Trieben, eine aus Illusion zusammengesetzte Wahrheit, eine Stätte endloser Unrast? Wenn der Geist des Lebens wirklich frei und unendlich war, wo lag dann die Grenze zwischen Freiheit und Wahnsinn? Das ganze Abenteuer des Daseins gestaltete sich ebenso schrecklich wie verlockend; man mußte die Augen schließen, alle Vernunft unterdrücken, um irgendwie Partei ergreifen und weiterleben zu können. Aber die Vernunft unterdrücken und die Augen schließen war gerade das einzige, was Oliver nicht fertig brachte. Wie also sollte er weiterleben?

Wenn man achtzehn Jahre alt ist, dröhnen diese moralischen Gewitterstürme schrecklich aus der Ferne ins Innere und lärmen gewaltig in den oberen Regionen des Kopfes; das physiologische Leben jedoch wird dadurch nicht gestört. Die Verdauung bleibt gut, die Haut frisch, das Auge klar; dein Herz fährt fort, ohne besonderen Grund glänzend zu arbeiten, und deine Beine tragen dich mit unbehinderter Schnelligkeit über Berg und Tal hinweg. Das gleiche Gefühl von Freiheit und Unbegrenztheit, das deine Selbstachtung bedroht, ist an sich schon ein Symptom deiner jugendlichen Kraft. Die Natur hat einen Teil ihrer Freiheit – wenn wir es Freiheit nennen können – in den Kanal deines eigenen Organismus geleitet; und solange die Gesundheit – eine ganz bestimmte Art von Gesundheit – die Oberhand hat, tanzt deine freie Seele, dehnt sich dein hungriger Geist aus, die Unendlichkeit zu umarmen.

Oliver fühlte sich in seinen romantischen Sympathien gestört und in ein Gewirr von Gedanken und ererbten Vorurteilen verstrickt. Er verlangte eine unbedingte und ausdrückliche Bestätigung seiner natürlichen Neigungen; als ob für die Liebe eine andere Bestätigung nötig und möglich wäre als die Liebe selbst. Doch Liebe ohne diese unmöglich beweisbare absolute Rechtmäßigkeit kam ihm wie eine Verzauberung vor. Das ganze Leben ist ja, wenn man nicht tätig an ihm teilnimmt, eine Art Verzauberung, ein grundloses Kreisen und Kreisen um eine beliebige Vollkommenheit, ein beliebiger Traum vom Glück, den zu verfolgen unvernünftig und den zu verwirklichen unwahrscheinlich ist.

Da Oliver den Schlüssel zu diesem Geheimnis – dem offenen Geheimnis des natürlichen Lebens – nicht besaß, blieb er an diesem Punkte stecken. Dies Rätsel war zuviel für seinen Witz, und das nutzlose Grübeln ward ihm zur Qual. Er riß sich zusammen, strich sich die Haare aus der Stirn und lief hinaus in die Nachtluft, quer über die nassen Felder. Hatte sich nicht auch Hume mit weniger Grund schließlich von der Philosophie losgesagt und dem Brettspiel zugewandt?


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