Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

10

Es war im August, aber das Wetter wirkte schon herbstlich mit seinen tiefhängenden Wolken, seinen Regengüssen und der kürzer werdenden Dämmerung, von der die Spaziergänger ins Haus getrieben wurden, wo in luftigen, trockenen Räumen bei offenem Fenster das Kaminfeuer brannte. Herbstlich war auch Peters Stimmung, wenn er in den behaglichen Stunden zwischen Tee und Dinner beim gedämpften Licht seiner Lampe einen herzerquickenden alten Schriftsteller las und wieder einmal Anlaß nahm, auf diese armselige Welt mit Humor und leidenschaftslos auf ihre Leidenschaften zu blicken. Für ihn war die Zukunft keine brennende oder beunruhigende Frage; er fürchtete sich nicht vor dem Winter und nicht vor dem Tode, der Gedanke daran belastete ihn im Augenblick durchaus nicht. Der trübselige Ausblick, der sich ihm persönlich eröffnete, barg doch einen so tiefen Frieden in sich, daß er sein Denken eher frei machte für den weltlichen Karneval von Tatsachen und Ideen, dem er sich nun mit um so größerer geistiger Heiterkeit zuwandte.

Was Oliver betraf, der ebenfalls nachdenklich, aber nach Art der Jugend ganz mit sich selbst beschäftigt dahinlebte, so rückte ihm der herannahende Winter das Bild der Heimat vor Augen – falls er einen Ort, den er noch nie gesehen hatte, Heimat nennen durfte; doch würde er dort wenigstens wieder in seinem Geburtsland leben, wo ihm die Sitten und die Menschen geläufig waren. Alles auf dem College würde ihm an der Oberfläche neu, aber im Grunde bekannt und unermeßlich langweilig sein. Er wußte schon im voraus, wie sehr er sich abrackern würde: Rugby, Vorlesungen, Lehrbücher, Arbeiten, die zu einem bestimmten Zeitpunkt fertig werden mußten. Stunden um Stunden, die er halb fleißig, halb müde hinbringen würde! Er kannte bereits die aufregende, unbehagliche Stimmung der Tage, die einer Prüfung, einem Wettspiel oder dem Beginn der Ferien vorausgingen.

Auch neue Menschen, Kameraden und Professoren, würde er wohl in Menge kennen lernen, und sicherlich würden sie auf ihre Art ganz nett sein. Es bestand kein Anlaß, sich darüber im voraus irgendwelche Gedanken zu machen. Während seine Füße in der akademischen Tretmühle gingen, würden, wie er wußte, geheime Quellen seinen Geist tränken. Aber in die dürren, unfruchtbaren Bereiche des Alltags würden sie nicht hinaufsteigen. Dort würde sich alles trocken, hölzern, durchschnittlich und unangenehm neu anlassen. Sein inneres Leben würde aus sehr fernen Brunnen, aus der Quelle seiner eigenen ungeweinten Tränen, gespeist werden. In diesem Gedanken lag keine Sentimentalität, nur unterdrücktes Leben, unterdrückte Empörung. Warum mußte alles falsch sein, wo so leicht alles hätte richtig sein können? Warum lief die Welt so stumpfsinnig in ihren alten Geleisen? Der Kern seines Wesens war lebendig und beweglich. Er fühlte sich fähig, den fernliegendsten Möglichkeiten gerecht zu werden; und ohne die Kräfte zu vernachlässigen, die er einzusetzen hatte und die ihm allein gemäß waren, wußte er auch um die feineren und reicheren Lebensmöglichkeiten anderer, so wie der Winter eine Vorahnung des Sommers in sich trägt. In Zukunft würde dieses Wissen seine gewohnten Gedanken und Taten leise durchschimmern und ihnen mehr Güte verleihen. Er wollte mit seinen Wurzeln tief in den heimischen Boden eindringen und so viel Saft wie möglich aus ihm ziehen; dann würde sein Geist und sein Geld – denn Oliver erkannte vor sich selbst die Macht des Geldes offen an – imstande sein, sich besser und zweckvoller über die Welt auszudehnen.

Plötzlich aber ging mitten in diese friedlichen Betrachtungen eine Bombe nieder. Eine Kabeldepesche von Mrs. Alden befahl Oliver, seinen Vater sofort nach Hause zu bringen. Andernfalls wolle sie selbst nach England reisen und die Sache in die Hand nehmen.

Peter war entsetzt und sah seinen Sohn vorwurfsvoll an. Was mochte der Junge seiner Mutter geschrieben haben? Warum hatte er ihr überhaupt geschrieben? Das war ein schwerer Fehler gewesen. Jetzt war es aus mit ihrer Ruhe, aus mit allen ihren behaglich-planlosen Gesprächen, mit dem glücklichen Dahinleben unter freundlichen Bildern und harmlosen Gedanken! Das war ein schwerer Schlag! Und es gab kein Entrinnen. Unglücklicherweise war Peter nicht kräftig genug, um bei der Ankunft seiner Gattin nach der entgegengesetzten Seite zu entfliehen. Er konnte nicht einmal nach London fahren, sonst hätte er von dort aus ein Schiff nach Indien oder China genommen. Wenn er auf hoher See starb, so würde er wenigstens in Frieden sterben und den Haifischen ein Abschiedsmahl geben können, wenn auch kein sehr saftiges, und wenigstens würde er dann nicht in dem Familiengrab der Bumsteads zu Great Falls, Connecticut, beigesetzt werden. Es war ihm ja doch unmöglich, die freundlichen Aufmerksamkeiten seiner Frau zu überstehen; sie würden ihn töten. Und warum sollte man eines bitteren Todes sterben, wenn ein sanfter Tod so nahe bei der Hand war?

Diese Gedanken wurden nicht ausgesprochen, doch las sie Oliver von seines Vaters sichtlich bestürztem Gesicht ab. Stotternd brachte er eine Erklärung, fast eine Entschuldigung, vor. Jeden Sonntag schrieb er seiner Mutter einen Brief, einen kurzen Brief. Das hatte er ihr versprochen. Es wäre unaufrichtig gewesen, ihr die Tatsache zu unterschlagen, daß sein Vater in Eton krank geworden war, und daß sie hier festsaßen. Schon der Poststempel hätte das verraten, wenn man es verheimlicht hätte.

»Ta, ta«, brummte Peter, »du hättest einen Brief von Maidenhead, den nächsten von Staines und den nächsten von Richmond abschicken können. Die Briefe an uns gehen ja an die Adresse der Bank. Ich will nicht gegen meinen Willen aufgestöbert werden.«

Niemals vorher hatte Peter seinen Sohn zu tadeln brauchen, und Oliver fand diese Vorwürfe jetzt äußerst ungerecht. Er hatte sich ganz richtig benommen, auf die einzig mögliche Art gehandelt, und sein Vater war nur deshalb gereizt, weil er krank war. Übrigens schien Peters Verdrießlichkeit von selbst zu schwinden, denn er lächelte wieder.

»Wir stecken also in der Klemme«, sagte der Ärmste in resigniertem Ton. »Wir wollen versuchen, wieder herauszukommen. Nimm ein Telegrammformular und einen Bleistift, dann werden wir eine diplomatische Botschaft abfassen.« Und langsam, während ein spöttisches Lächeln um seine Mundwinkel spielte, begann er zu diktieren: »›Vaters Zustand besser. Reisen sobald als möglich mit guter Pflegerin nach Südfrankreich. Ich fahre ersten September heim. Unternimm die Reise nicht. Äußerst unnötig.‹ Den einen Satz wollen wir noch etwas erweitern«, sagte Peter schlau, nachdem er den Entwurf kritisch durchgelesen hatte. »Wir werden schreiben: » Bitte, unternimm die lange Reise nicht.‹ Das klingt dann, als ob du das Telegramm geschickt hättest und nicht ich.«

Diese beiden höflichen, wohlüberlegten Worte genügten indessen nicht, um Mrs. Aldens geübtes Auge zu täuschen. Sie durchschaute das Bestreben des Doktors, sie fernzuhalten. Es ging ihm wahrscheinlich gar nicht besser, abgesehen davon, daß er schon schlimmere Augenblicke gehabt haben mochte. Wenn der erste September gekommen war, würde es ihm wohl wieder schlechter gehen, und er würde Olivers Abfahrt verhindern. Die Gefühle des armen Jungen würden ausgenützt werden. Man würde ihn bitten, seinen sterbenden Vater nicht zu verlassen. Und der sterbende Vater würde weiterleben, den Sohn nach Marseille verschleppen, ihn auf dieser unglückseligen Jacht mit sich fortführen, ihn veranlassen, ein Collegejahr zu versäumen und ihn dem üblen Einfluß dieses verdorbenen jungen Kapitäns aussetzen. Sie hatte ja inzwischen einen Detektiv damit beauftragt, das vergangene und das gegenwärtige Leben dieses Mannes zu durchforschen, und er hatte die entsetzlichsten Tatsachen entdeckt – übrigens nichts, was sie rein instinktiv nicht schon vorher gewußt hatte.

Es bestand der verbrecherische Plan, alles zu zerstören, was noch an Anstand und Gewissenhaftigkeit in diesem schwachen, sentimentalen Oliver lebte. Sie würde das nächste Schiff nach Liverpool nehmen und diese Verschwörung sprengen. Sie würde von Boston aus fahren, denn die dortigen Dampfer schienen ihr die sichersten; natürlich war die Cunard Linie die richtige, Letitia Lamb reiste auch immer damit.

Ihre Antwort auf Olivers Telegramm war kurz: »Fahre Samstag mit Lucania.« Das war aufrichtiger, dachte sie zufrieden, als die lange Botschaft, die sie bekommen hatte, zudem billiger und ein angemessener Ausdruck ihres starken, geraden, entschlossenen, selbstlosen Charakters.

Als Peter diese Nachricht erhielt, empfand er weder Zorn, noch fühlte er sich geschlagen. Arme Harriet, wie hart bestrafte sie sich selbst für ihre Dummheit! Ihm machte das nicht viel aus. Falls er sich nicht wohl genug fühlte, um sich vor ihrer Ankunft davonzumachen, würde er ihr eine höfliche Botschaft schicken, des Inhalts, daß es unter den obwaltenden Umständen für beide Teile klüger wäre, wenn sie nicht zusammenträfen. Dieser Entschluß würde sie nicht einmal überraschen können. Vor der Heirat ihrer Mutter hatten ja im Hause ihrer Großeltern alle Familienmitglieder getrennt auf ihren Zimmern gelebt, niemals ein Wort miteinander gewechselt und niemals an einer gemeinsamen Mahlzeit teilgenommen. Harriet kam ja auch nicht seinetwegen, sondern um den jungen Isaak vor der Opferung zu retten; sie verkörperte die Stimme des Herrn, der dem unnatürlichen Vater in den Arm fiel. Wenn Peter sich weigerte, sie zu sehen, verlieh er nur der Entfremdung offenen Ausdruck, die innerlich von Anfang an zwischen ihnen bestanden hatte. Doch warum sollte sie sich dieser zwecklosen Zurückweisung aussetzen, die er ihr zu seinem Leidwesen zufügen mußte? War es zu spät, sie an der Abreise zu hindern?

»Oliver«, sagte er, »es täte mir leid, wenn deine Mutter sich die ganze Mühe umsonst machen würde. Du weißt, wie unglücklich sie sich außerhalb ihres Hauses fühlt, und wie wenig sie an Reisen gewöhnt ist. Jedes kleine Hindernis oder Mißverständnis wird sie aus der Fassung bringen. Und dann wird sie auf der Überfahrt ganz allein sein. Irma ist in Deutschland, und Letitia Lamb wird zurückbleiben müssen, um das kostbare Haus zu bewachen. Außerdem wird sie natürlich seekrank werden und nirgends das Essen mögen, weil es nicht genau so zubereitet ist wie daheim. Aber was können wir machen? Ich kann mir nur noch ein Mittel denken, sie zurückzuhalten. Ich glaube, es gibt deutsche Schiffe, die Mitte der Woche Southampton anlaufen. Wenn du nun auf einem davon eine Passage belegtest und von Bord aus an sie telegraphiertest, daß du in sechs oder sieben Tagen in New York ankämest, dann würde sie wohl einsehen, wie töricht es wäre, auf hoher See an dir vorbeizufahren. Schau doch einmal die Schiffsfahrpläne in der ›Times‹ nach – das heißt, falls du damit einverstanden bist, daß du in solcher Eile fortgeschickt wirst. Natürlich wird es mir sehr leid tun, wenn du weggehst. Aber du willst mich ja wohl auf alle Fälle bald verlassen, und die letzten paar Tage sind uns ohnehin verdorben, da uns dieser Krach bevorsteht. Wenn du sofort abreist, wirst du deine besorgte Mutter von allen ihren Ängsten befreien und ihr endlose Anstrengungen ersparen; und ich würde, indem ich dich gehen ließe, Böses mit Gutem vergelten – eine beträchtliche Leistung für einen so schwachen, selbstsüchtigen und unchristlichen Menschen wie mich. – Was hältst du davon?«

»Nein, ich habe keine Lust, so wegzulaufen. Ich finde, Mutter ist vollkommen im Unrecht. Warum sollen wir unsere Pläne ändern, bloß weil es ihr einfällt, Verwirrung anzurichten? Ich bin für die Ferien hierher gekommen, und jetzt will ich sie auch ganz hier verbringen. Außerdem möchte ich dich nicht im Stich lassen. Ich habe Jim geschrieben, daß er vor dem ersten September hier sein soll, um sich um dich zu kümmern. Wenn er da ist, kann ich in Ruhe abreisen, obgleich ich sehr ungern weggehe.«

»Du hast Jim geschrieben? Und du gehst nach Hause, obwohl du keine Lust hast?« Peter sah seinen Sohn überrascht, amüsiert und beinahe bewundernd an, als erblicke er ihn plötzlich in einem neuen Licht, gleichsam als finge ein wohlvertrauter Gegenstand, der immer für leblos gegolten hatte, plötzlich an, sich zu bewegen. Dann fuhr er fort, während er lautlos vor sich hinlachte: »Ich bin doch neugierig, ob Jim wirklich erscheint. Stell dir vor, deine Mutter käme in höchster Wut angereist und fände dann Lord Jim an meinem Totenbett, wie er mir pflichtgemäß die Augen schließt. Geradezu unbezahlbar! Hoffentlich kann ich wenigstens noch mit einem Auge blinzeln und bin noch nicht zu weit weg, um die Komödie zu genießen. Aber verfügst du nicht etwas zu herrisch über unseren Lord Jim? Er ist doch nicht unser Diener. Er hat jetzt Ferien und ist zu seinem eigenen Vergnügen nach Marseille gegangen. Vielleicht kehrt er sich gar nicht an deine Aufforderung.«

»O doch, er wird schon kommen. – Außerdem sehe ich nicht ein, warum Mutter diese Seereise nicht machen soll, wenn sie unbedingt will. Viele alte Damen tun so was zum Vergnügen. Wenn es ihr keine Freude macht, ist sie nur selber daran schuld. Warum glaubt sie mir auch nicht?«

»Dieser Junge«, dachte Peter, »entwickelt atavistische Züge. Unter Übergehung seiner Eltern hat er den Charakter früher Vorfahren angenommen. Er gleicht einem zweischneidigen Schwert und ist nach beiden Seiten hin gleich unbarmherzig.« Und laut fuhr er fort: »Hast du deiner Mutter nicht vielleicht Grund gegeben zu fürchten, du habest deine Pläne geändert? Vielleicht hast du in deinen kleinen Sonntagsbriefen den Besuch in Iffley erwähnt, und wie sehr dir die Kirche und die Predigt und der Pfarrer gefallen haben, und die komische alte Pfarrersfrau und ihre reizende kleine Tochter – wie heißt sie doch noch? Violet?«

»Rose.«

»Violet wäre besser. Rose ist ein etwas alltäglicher Name. – Und im nächsten Brief hast du vielleicht von Mario erzählt, und was für ein großartiger Kerl er ist, wie ihr beide euch ewige Freundschaft geschworen habt, und wie es dir das Herz zerreißt, daß du ihn nun womöglich auf Jahre hinaus nicht wiedersehen wirst? Schließlich hast du vielleicht noch hinzugesetzt, daß du dich trotz allem hier sehr glücklich fühlst, daß du ruderst und überall umherwanderst, im leeren College, in der Schule, in der Kapelle, in den Feldern und Wiesen, und daß du allerhand nachliest über das seltsame, verwickelte, malerische Leben der hiesigen Menschen? Und wenn du ein Viertel von alledem gesagt hast, dann wird sich deine Mutter mit Leichtigkeit wenigstens zehn weitere Viertel aus ihrer Phantasie ergänzen. Wahrscheinlich ist sie zu dem Ergebnis gekommen, daß du verführt worden bist; ich muß gestehen, daß auch ich das erwartet hatte.

Im letzten Jahr, als du dich entschlossen hattest, den Plänen deiner Mutter zu gehorchen und das Williams College zu besuchen, waren dir alle diese interessanten Dinge und interessanten Menschen noch unbekannt. Nun aber ist deine Lage etwas paradox geworden. Du gibst zu, daß du so vieles hier liebst, und doch willst du es aufgeben und widerwillig an deinem alten Entschluß festhalten. Deine Mutter ahnt ja gar nicht, was für ein Puritaner du bist.«

Dieser Ausspruch schmeichelte Oliver ungeheuer. Es war kein Kompliment. Wenn jemand ein Kompliment machte, so sprach er damit ja nur aus, was er für günstig hielt, nicht was man selbst schätzte. Hier aber fühlte er sich in seiner wahren Natur erkannt. Es war erlösend und ermutigend für ihn, sich so in seiner Selbstbeherrschung, in seiner Integrität bestätigt zu sehen. Und das zarteste und schönste Lächeln verklärte im Augenblick das Gesicht des jungen Philosophen, ein Lächeln, das seine unzerstörbare Unschuld und Kraft enthüllte und auf alle seine Mitgeschöpfe höchste Güte und Offenheit ausstrahlte. Zwar fand Oliver die Ausdruckswelse seines Vaters, der alles übertrieb und aus allem einen Witz machte, ein für allemal hoffnungslos spielerisch und ironisch. Denn natürlich gab er das Neue, das ihm gefiel, nicht wirklich auf; und er haßte auch keineswegs die Zustände zu Hause. Sie waren vielmehr seine Grundlage, seine Stütze, und er würde doch den Stuhl, auf dem er stand, nicht mit den Füßen wegstoßen und sich selbst aufhängen! Sicherlich war es nicht gerade schmeichelhaft, als Puritaner bezeichnet zu werden; im Munde der meisten Leute bedeutete es sogar etwas Abfälliges. Und doch fühlte sich Oliver wirklich als Puritaner, wenn das bedeutete, daß er allein über sich bestimmte und darin unbeugsam war. Von Reue oder irgend einer Gesinnungsänderung begriff er nichts. Man konnte wohl eine fremde Last abtun oder eine verborgene neue Fähigkeit entwickeln; doch blieb es unmöglich, den eigenen Ursprung zu verleugnen oder die Umstände, die einen zu dem Wesen gemacht hatten, das man war. Es wäre auch töricht, sich zu wünschen, daß man das fertig brächte. Es gab in der Welt ja Raum genug für andere Arten von Menschen, aber in seinem Körper war nun einmal nur Raum für ihn selbst. Und doch konnte er aus seiner eigenen Lage, aus seinem eigenen Herzen, so wie es die Natur nun einmal begabt und begrenzt hatte, eine Atmosphäre geistiger Freiheit, eine vielseitige Sympathie, eine aufrichtige Freude an jeder Art von Vollkommenheit entwickeln. Wenn Puritanismus soviel wie Dummheit bedeutete oder Unkenntnis und Verachtung des Schönen, dann war es verwerflich, Puritaner zu sein, und dann war er auch keiner oder wollte wenigstens keiner sein.

Inzwischen war Peter in düsteres Sinnen versunken.

»Warum nimmst du eigentlich mit Sicherheit an, daß Jim seine Ferien unterbrechen wird, um hier den Krankenpfleger zu spielen? Er hat schließlich nichts mehr von mir zu erwarten; er weiß, daß ich mein Testament verbrannt habe und kein anderes machen werde.«

»Warum? Weil er jetzt nicht mehr auf dich rechnet, sondern auf mich. Außerdem ist Geld nicht das einzige, was bei ihm zählt. Er ist begeistert über die Art, wie du ihn behandelt hast, er macht sich wirklich etwas aus dir – mehr als aus mir.«

»Aber du hast mir doch erzählt, daß seine Mutter, die ihn gut kennt, dich im Vertrauen gewarnt hat. Sagte sie nicht, wir sollten darauf bedacht sein, daß es Jim Vorteile bringt, wenn ich hundert Jahre alt werde? Glaubst du nicht, daß er, wenn er mich pflegt, leicht einmal einen Fehler mit der Medizinflasche machen könnte, wie es ihm doch offenbar bei unserem armen Maat passiert ist?«

Peter beugte sich vor und stocherte im Feuer herum, um seinen Andeutungen Zeit zu lassen, in Olivers unschuldiges Gemüt einzudringen. Aber Olivers Gemüt war in dieser Hinsicht weniger unschuldig, als sein Vater annahm. Er erinnerte sich an seinen qualvollen Traum nach jenem Abend in Sandford. War das ein hellseherischer Traum gewesen? Aber wie konnte sein Vater noch so wohlwollend und mit so aufrichtiger Zuneigung von Jim sprechen, während er gleichzeitig andeutete, daß der liebe Mensch wohl dazu fähig wäre, seine Freunde und sogar seinen größten Wohltäter zu vergiften?

»Denke übrigens nicht«, fuhr Peter fort, »daß ich, weil ich diesen zynischen Verdacht hege, von Jim enttäuscht bin oder ihn beschuldige, mein Vertrauen zu mißbrauchen. In meinem Alter hat man zu niemandem mehr viel Vertrauen. Und dann ist Jim ja solch ein Kind, so durchschaubar, so unverstellt, daß er alle Fäden seines Spiels, ohne es zu ahnen, in meine Hand gegeben hat. Vielleicht hat er auch dich etwas entdecken lassen. Es ist nämlich jemand aufgetaucht – ein orientalischer Fürst – der bereit ist, den ›Schwarzen Schwan‹ zu kaufen, zwar nicht für den zehnten Teil seines wirklichen Wertes, aber immerhin für eine Summe, mit der sich Jim vorkommen wird, als trüge er ein Goldbergwerk in der Tasche, und die jedenfalls genügt, um die Bank von Monte Carlo zu sprengen. Da Jim vielleicht nie einen andern Käufer finden wird – schwarze Schwäne sind nicht jedermanns Sache – würde er gern abschließen; vielleicht hat er sogar den Vertrag schon unterzeichnet. Deswegen ist er nach Marseille gegangen, und das ist es, was ihn dort hält. Aber nun bekommt der arme Kerl das Geld natürlich nicht eher, als bis er die Ware abliefert, und mein Pachtrecht auf Lebenszeit steht dabei im Wege. Aus Unachtsamkeit habe ich ihn in Versuchung geführt. Man soll seinem Hund keine Leckerei zeigen und sie, wenn er ein paarmal danach geschnappt hat, einfach wieder in die Tasche stecken. Das verdirbt seine Erziehung und er wird bissig. Und ich habe doch allerhand für Jims Erziehung getan. Ich habe ihn mit vielen Sitten und vielen Ideen bekannt gemacht, von denen er ohne mich nie etwas gehört hätte. Ich habe ihn gelehrt, wie man vornehm lebt, und wie man die Menschen beurteilt und beobachtet. Ich will mein eigenes Werk nicht zum Schluß vernichten. Er soll seinen Kuchen gleich bekommen. Ich werde ihm schreiben – ich hätte das schon längst tun sollen – daß ich niemals wieder gesund genug zum Segeln sein werde, und daß er den ›Schwarzen Schwan‹ bei der nächsten Gelegenheit verkaufen soll.«

»Was?« rief Oliver so entsetzt, als ginge es um sein persönliches Glück. »Du willst den ›Schwarzen Schwan‹ aufgeben? Du willst das Segeln vollkommen aufgeben? Du willst Lord Jim nicht mehr behalten, und dich nicht mehr von ihm unterhalten und aufheitern lassen?«

»Ich werde an seiner Stelle die kleine Mildred behalten. Sie wird für mich sorgen. Sie ist genau das, was ich von jetzt ab brauche.«

Und nun folgte einer jener seltsamen Augenblicke, wo zwei Menschen fühlen, daß sie beide gleichzeitig denselben unausgesprochenen Gedanken haben. Besaß Peter Alden denn nicht einen Sohn? War dieser Sohn nicht alt genug, um ihm zu helfen, nicht klug genug, um ihn zu verstehen, war er nicht frei, war er nicht sogar zur Stelle? Warum konnte Oliver nicht vortreten und sagen: »Ich werde dich in deiner letzten Krankheit nicht im Stich lassen, da du so einsam bist und dich von dem Manne bedroht fühlst, den du in deinem Leben am meisten geliebt hast, und der dein nächster Freund war. Zum Teufel mit dem Williams College! Ist mir nicht deine Gesellschaft und das Zusammenleben mit dir mehr wert als jede Universität? Breitest du nicht eine solche Fülle seltenen, reichen Wissens vor mir aus, daß meine Erziehung zum Mann dadurch zehnmal mehr gefördert wird als durch Rugby-Spiel und die Vorlesungen meines Onkels, des Professors Harry A. Bumstead, über ›Praktisches Christentum‹? Was nützt es, irgend eine Normalform menschlichen Wesens zu verkörpern, wie sie schon in hundert Millionen von Exemplaren herumläuft? Wäre es nicht geradezu ein Segen, wenn du mich zu etwas anderem und besserem machen könntest?«

Aber nein; Oliver war nicht imstande, diese Worte auszusprechen. Sie blieben ihm in der Kehle stecken. Und Peter ahnte diese Unfähigkeit seines Sohnes, er fühlte in ihm dieses Element versteinerter Gewissenhaftigkeit und moralischen Starrkrampfes, diese Hemmung aus Charakterstärke, die es ihm nicht erlaubte, sich loszureißen und seine Pflicht in wahren Einklang mit seiner sittlichen Natur zu bringen. Der arme Junge glaubte verpflichtet zu sein, sich selbst zu unterdrücken und seinen Geist gewaltsam in die gewohnten Bahnen zu drängen. Da saß er, ließ den Kopf hängen und fand den Mut nicht, zu handeln, wie es ihm sein Herz befahl.

Auch Peter war durch Gewissensbedenken gebunden. Sein Zartgefühl verbot ihm, ein Thema nochmals zu erörtern, das Oliver im Jahr vorher einen so heftigen Kampf gekostet hatte. Doch diese Sorge war in Wirklichkeit überflüssig. Wohl hatte der Junge nun einen klaren Begriff von dem, was er aufgab oder doch aufschob; aber andererseits bereitete ihm die Wahl diesmal keine Qual. Beide Wege bedeuteten für ihn weder ein Opfer, noch verhießen sie ihm ein besonderes Glück. Wie lebhaft konnte er sich den Rauch des Vesuvs nach der bunten Postkarte in Jims Kabine vorstellen; und doch kam er ihm jetzt billiger vor als der Rauch einer Zigarette. Und vor seinem geistigen Auge erblickte er auch die gerundeten Berge bei Williamstown, Massachussets, wie er sie von Photographien her kannte, und die schneebedeckten Pfade, die über den Campus des Colleges führten; da war alles frostig, hart und rauh. Und doch: wie beruhigend war diese friedliche, amerikanische Landschaft! Dort drüben gab es vielleicht keine Tiefen, überhaupt kein Inneres, nur ein simples, eiliges, mechanisches Leben. Aber gerade dieser konventionelle Alltag war das, was sein Herz brauchte, war ihm eine Art Schutz vor sich selbst, ein Mittel, das gefährliche Feuer einzudämmen und einstweilen vernünftig zwischen gleichgültigen Dingen zu leben. Wie befreiend war es, in harmloser, geistloser, rühriger Tätigkeit aufzugehen! Nein, er mußte zurück, er mußte heimkehren.

»Die Sache ist hoffnungslos«, dachte Peter, als er den Entschluß seines Sohnes, wenn auch nicht dessen geheimste Motive, erkannte. »Dieser Musterknabe hat kein Salz und kein Feuer in sich. Da zeigt man ihm die schönsten Dinge, weist ihn auf die bedeutsamsten Tatsachen hin, er notiert sie und geht heim, um seine häusliche Pflicht zu erfüllen. Sich meiner anzunehmen, wäre für ihn nur eine andere häusliche Pflicht. Er wird niemals im Geiste leben. Seine Erkenntnisse werden ihn niemals anspornen, werden ihn niemals hinreißen, ihn niemals zu einem wahren Leben führen. Über Jim mit seiner gröberen Natur empfindet man letzten Endes mehr Genugtuung. Er kann wenigstens lachen. Natürlich muß er gehätschelt und von der niedrigen Sphäre, die ihn anzieht, weggelockt werden. Die Kunst des Herrschens besteht darin, daß man die Interessen der Beherrschten zu seinen eigenen macht. Dann braucht man, falls die Untertanen intelligent sind wie Jim, kein Attentat zu fürchten. Behalte ich diese Vorsicht im Auge, so könnte das Leben mit ihm zusammen immer noch lebenswert sein. Ich könnte mich schließlich wie Champagner in ein heiteres Element verwandeln. – Ach, wenn nur mein alter Körper noch ein wenig aushielte! Dann könnte ich mein Dasein ein paar Jahre länger genießen, trotz aller Fehler, die ich gemacht habe. Ich könnte nach Nizza oder nach Cannes in eine sonnige Villa übersiedeln. Ich könnte meinen indischen Koch mitnehmen und zu meiner Pflege die kleine Mildred, die zugleich eine großartige Haushälterin wäre. Da hätte ich Wärme. Da könnte ich aufs Meer hinausschauen. Ich würde mit aller Welt in Frieden leben. Wir könnten für Jim ein Zimmer bereithalten, das ihm zur Verfügung stände, so oft er kein Geld mehr hätte – und er würde wohl meistens keins haben. Auch Oliver könnte uns in den Ferien besuchen und mit seinen großen grauen, weitgeöffneten Eulenaugen alles erfassen, nur nicht den Humor des Lebens.

Aber es ist zu spät. Ich zerbröckle unaufhaltsam. Überspringen wir lieber diesen idyllischen Epilog und lassen wir den Vorhang herunter, da das Stück aus ist. Die Handlung scheint in diesem Fall nur noch in den Händen meiner Frau zu liegen: sie kommt, um mir eine Niederlage beizubringen. Doch kann ich dem Angriff im Stil der alten Komödie zuvorkommen und die Lacher auf meine Seite ziehen. Ich kann verschwinden, bevor sie zupackt, und kann sie in die leere Luft schlagen lassen. Es ist ja auch anständiger, plötzlich und zur rechten Zeit zu enden und in ein sauberes Aschenhäufchen zusammenzufallen. Mein Verschwinden in diesem Augenblick wird für alle Beteiligten eine Erleichterung bedeuten: Jim bekommt sein Geld, Oliver hält sein Gewissen rein, Harriet hat ihren Willen. Die letzte Tat meines Lebens wird meine beste sein – sowohl für die andern als auch für mich selbst.«

Als Oliver das Zimmer verlassen hatte, erhob sich Peter mit einiger Anstrengung, schleppte sich zum Schreibtisch und nahm ein kleines Medizinkästchen aus einer der Schubladen. Er hatte sich schon oft überlegt, welche Zusammenstellung für den vorliegenden Zweck die tauglichste wäre. Er hatte nicht die Möglichkeit gehabt, dachte er mit heimlichem Lächeln, Versuche anzustellen, wie es Kleopatra mit ihren Sklaven tat, um festzustellen, welcher von ihnen mit dem vollkommensten Ausdruck wohliger Befriedigung verschied; aber innerhalb gewisser Grenzen hatte er mit sich selbst experimentiert; und in seinem jetzigen geschwächten Zustand würde wohl keine große Verstärkung der Dosis nötig sein. Hatte er noch die nötige Menge von Ingredienzien? Ja, gerade noch genug. So brauchte er also seinen Vorrat nicht durch einen Auftrag an seinen alten Londoner Chemiker zu ergänzen, der den Medizinkasten für den ›Schwarzen Schwan‹ ausgestattet hatte. Auch brauchte er den unterwürfigen Mr. Morrison-Ely nicht zu bestechen, damit er in der Sache ein Auge zudrückte. Gerade noch genug! Wie Sokrates, als er den Schierlingsbecher austrank, würde auch Peter bei dieser Gelegenheit den Göttern die ihnen gebührende Spende vorenthalten müssen. Der Patron der Ärzte, Äskulapius Soter, der mit den Schlangen Befreundete, würde sich diesmal ohne das für einen leichten Tod vorgeschriebene Dankopfer zufrieden geben müssen; doch sicher würde eine so menschliche Gottheit statt dessen die Dankbarkeit eines Herzens entgegennehmen, das durch sie nun endlich von seiner langen Mühsal, von seinem langen unregelmäßigen Pochen erlöst werden sollte.

Alles war bereit. Papiere, Bankabrechnungen, selbst seine Kleider würde man in schönster Ordnung finden. Nichts mehr gab es zu tun, als sich ruhig zum Schlaf niederzulegen und nie wieder aufzuwachen.


 << zurück weiter >>