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6

Olivers Erleuchtung schwand nicht so schnell wieder, wie sie gekommen war, und auch nicht so schnell wie die Krisis und Revolution seiner Natur, durch die sie herbeigeführt worden war. Sie verblich langsam wie die Wirkung einer glanzvollen Musik oder einer religiösen Begeisterung. Er bewahrte diese Einsicht gleichsam als Orientierungspunkt und als Hochwassermarke der zurückweichenden Vergangenheit; er wußte, daß er einen Augenblick sich selbst verstanden und mit prophetischem Blick den Pfad erkannt hatte, den er beschreiten mußte. Doch die deutliche Vision war vorbei. Sein Organismus war zu schwerfällig, er zersplitterte sich zu sehr in kleinen Pflichten und Gewohnheiten, als daß er immer im Licht hätte leben können. Er konnte seine Organe und sein Wissen nicht dazu bringen, Schritt miteinander zu halten. Nur ein einziger Gedankengang glänzte im verwirrten Zwielicht des täglichen Lebens auf, ein einziger elektrischer Draht, der mit den zufälligen Interessen des Augenblicks verbunden war. Selbst diese trivialen oder zwangsmäßigen Gedankenzüge lebendig zu erhalten, fiel seinem geblendeten Geist schwerer und schwerer. Er machte sich doppelte Skrupel über seine körperliche Bewegung und richtige Diät. Es war seine Pflicht, seine Gesundheit zum Besten seiner Arbeit zu pflegen und fortwährend beschäftigt zu sein, damit es ihm nicht einfalle zu fragen, ob seine Arbeit der Mühe wert sei.

Als er sich wieder bei seinem Stab meldete, sahen der Oberst und der Arzt einander bedenklich an. »Alden, mein lieber Junge«, sagte der Kommandeur, »Sie haben sich entweder in Paris nicht gut genug oder allzusehr amüsiert. Der Arzt hier muß Sie nochmals untersuchen, um zu sehen, wieviel Sie sich zutrauen dürfen.«

Die Untersuchung ergab, daß Oliver mager, blaß und erschöpft war; aber seine Organe erwiesen sich als gesund, wenn sie auch etwas matt schienen. Trotzdem fand er nachts keinen Schlaf, schien aber den ganzen Tag halb zu schlafen und zu träumen. Nach einer Weile kam er wieder auf die Krankenliste und wurde in ein Erholungsheim nach Arcachon gesandt. Arcachon war in normalen Zeiten der denkbar schäbigste Badeort, mit kleinen Pappdeckelvillen, Kinos und Vergnügungsetablissements; aber das Meer war friedlich und blau und strafte den schlechten Ruf des Golfs von Biscaya Lügen, und ausgedehnte Pinienwaldungen kreuzten die endlosen Ketten der Hügel und Täler der Dünen. Der warme, mit Piniennadeln bestreute Sand, die brennende Sonne, die Einsamkeit und die Meerluft erzeugten eine tiefe Harmonie, auf die man ein kummervolles Leben wohl abstimmen konnte; nur war sie für einen so fein besaiteten Menschen wie Oliver vielleicht zu lastend und zu eintönig. Hier konnte er besser schlafen und essen. Er konnte im mageren Schatten der Pinien liegen oder lange Wanderungen an der Küste machen; doch erholte er sich nur langsam. Die Februarsonne begann höher zu steigen und in diesem geschützten Winkel schon allzu heiß zu brennen; sein Regiment war bereit zum Kampf und der Gegner bereit zum letzten Vorstoß, bevor Oliver mit Mühe und Not wieder felddienstfähig war.

Er hatte reichlich Zeit gehabt, seinen Betrachtungen nachzuhängen, und auch ohne besondere Erkenntnisblitze war es ihm – nur dadurch, daß er sich an dem Faden im Labyrinth seiner Gedanken entlangtastete – gelungen, über sich und seine Pflicht Klarheit zu gewinnen.

»Ich habe dieser Frau gesagt, ich sei nicht frei. War das bloß eine Notlüge, die mir Mario nahegelegt hatte, und die mir aus einer peinlichen Lage helfen sollte? Ich war ja nicht in Amerika verlobt, wie sie sofort glaubte. Ich liebte keine andere. Und doch entsprach es im Grunde der Wahrheit, daß ich gewissermaßen nicht frei war. Ich log also nicht, sondern konstatierte nur eine grundlegende Tatsache. Ich war nicht frei, denn an dieser Art von Liebe, die sie von mir erwartete, hindert mich meine tiefste Natur. Man könnte behaupten, die Sardinen und die Gurken seien daran schuld gewesen. Aber das ist Unsinn. Wenn ein Mann frei ist – ich habe das tausendmal hier bei der Armee und auf unserer Weltreise beobachtet – wenn nichts in seinem Innern seine Begierde zügelt, dann schrecken ihn derartige kleine Zufälligkeiten und selbst größere Hindernisse, Schmutz, Häßlichkeit, Ansteckungsgefahr, nicht ab; oder wenn sie ihn abschrecken, dann auf dem Wege der Überlegung, der Vorsicht, nicht rein instinktiv, nicht im Sinne eines so völligen Stimmungswechsels, wie es bei mir der Fall war. Und nicht zum ersten Mal, nicht zufällig kam es so. Wären die Gurken und Sardinen nicht gewesen, so hätte später etwas anderes die gleiche Wirkung getan: Widerwille, Entsetzen, die lebhafte Vorstellung, daß ich einen Leichnam umarmte, wären auf alle Fälle über mich gekommen, hätten meiner eigenen Wahl widersprochen und mein eigenes Sehnen vernichtet; vielleicht erst nachher, und wenn nicht als Abscheu, dann wenigstens als Scham. Denn kein Vorurteil, kein Grundsatz, kein äußerer Hinderungsgrund hält mich zurück, sondern einzig mein eigener Wille. Ein Beweis dafür ist die Tatsache, daß das alles mir schon einmal nahezu in der gleichen Art vor zehn Jahren geschah, aber damals waren keine Zufälligkeiten im Spiel, damals war alles nur ein Traum, der gänzlich meinem eigenen Geist entstammte und nur meine geheimsten Gefühle ausdrückte. Der Pfarrer von Iffley möchte nicht, daß ich an Vorahnungen glaube. Wenn ich ihm erzählen würde, wie mir einmal in einem Traum Mrs. Bowler ihre Liebe angetragen hat, fast genau so, wie es neulich die Baronin in Wirklichkeit tat, und wie ich sie mit demselben Widerwillen zurückstieß, dann würde er nicht gelten lassen, daß in diesem Traum die zukünftige Wirklichkeit sich angekündigt hat. Gut, sagen wir, das sei ein zufälliges Zusammentreffen gewesen. Aber dann wird es nur um so klarer, daß der gleiche Impuls in mir beide Erfahrungen geformt und einander ähnlich gemacht hat, indem ich vor zehn Jahren in meiner Phantasie genau so reagieren konnte, wie ich vor kurzem in Wirklichkeit reagiert habe. Schon der Blick Mrs. Bowlers, die bloße Andeutung ihrer Beziehungen zu Jim genügten, um mich den Abgrund dieser Dinge fühlen zu lassen, und mir zu zeigen, wie wenig Macht tausend heuchlerische Frauen oder abenteuernde Pariserinnen über mich gewinnen können.«

Ein andermal nahmen Olivers Gedanken vom gleichen Ausgangspunkt aus eine andere Wendung. »Ich habe gesagt, ich sei nicht frei; aber wenn mich etwas zurückhielt, dann muß auch etwas in mir gewesen sein, was mich vorwärts trieb, etwas, das seinen Lauf genommen hätte, falls ich frei gewesen wäre. Und ist Freiheit nicht ein Segen? Ist das naturgegebene Leben, wenn es harmonisch und rein ist, nicht das Allerschönste, die Quelle aller Schönheit? Warum soll ich also nicht frei sein? Warum soll ich die Kraft, die mich beunruhigt und die ich nicht ohne Bitterkeit und Unrast unterdrücken kann, nicht befreien? Warum soll ich diesem Trieb nicht folgen, ihn mit den andern Trieben, die ihm jetzt noch widerstreben, möglichst in Einklang bringen und frei werden, ohne ausschweifend zu sein? – Ich sollte heiraten.«

Auf dem Tisch in der Rue de Saint Simon hatte er einen dünnen alten Band mit den mehr oder weniger galanten Versen eines vergessenen alten Dichters gefunden, und seine Augen waren an folgenden Zeilen hängen geblieben:

Jüngling, jetzo brich die Rose,
Gram sonst erntest du statt Glück,
Frisch und frei mit Freuden kose,
Auf, versuche dein Geschick!
Selbst im flücht'gen Augenblick
Weilet Amor noch, der lose.
Jüngling, jetzo brich die Rose,
Gram sonst erntest du statt Glück.

Ach, er war kein Jüngling, sondern ein ratloser Mann mit schwerem Herzen, arm inmitten aller Reichtümer, eingespannt in das Joch nutzloser Mühen. Aber das Wort ›Rose‹ hatte etwas in ihm aufgeweckt. Es fand in seinem persönlichen Leben ein Echo, das nicht zufällig schien. Da waren die roten Rosenblätter, die auf sein Kissen gefallen waren, als er im Hospital in Harvard lag: ans Bett gefesselt und innerlich doch so frei wie nie mehr vorher und nachher, überzeugt davon, daß er in Edith und Mario seine natürlichen Gefährten gefunden hatte, die alle seine Tage verklären und alle seine Grenzen erweitern sollten. Jetzt hatte sich ihm Edith freiwillig entzogen, weil sie vornehme Heucheleien und schwächliche Kompromisse dem kühlen Hauch der Wahrheit vorgezogen hatte; und Mario drohte sich ihm unfreiwillig zu entziehen, indem er in den Strom der europäischen großen Welt geriet, wohin Oliver ihm nicht folgen konnte und wollte. Und noch viel dringlicher klang der Ruf seiner weißen Rose von Iffley zu ihm herüber; das war freilich keine Rose, die man brechen mochte, keine schwerduftende Blume, die ein leichtsinniges Insekt in Versuchung führen konnte, sondern eine echte englische Rose, wie sie an ländlichen Hecken blühen: einfach, offen, vom Regen betaut, mit zartem Duft, den man liebevoll einatmen mußte, und von einer klaren Schönheit, die nie verbleichen, nie übersättigen würde, sondern die man auf ewig als Schild vor seinem Herzen tragen konnte. Nein, er wollte den Ratschlägen dieses alten kupplerischen Dichters, den er bei Mario gefunden hatte, nicht folgen; der war vermutlich ein haltloser Wüstling ohne Philosophie gewesen. Er wollte sich nicht in Gefahren niedriger und gemeiner Art begeben. Mit einem einzigen Kuß wollte er sein Glück besiegeln, seinen Geist von allen Giften reinigen, den Krampf seines Innern lösen und sich befreien.

Daher beschloß er, den Rest seines Urlaubs in England zu verbringen, Rose Darnley zu heiraten und ihr in seinem Testament sein ganzes Vermögen zu vermachen. Dann konnte er mit reinem Gewissen an die Front gehen. Um den Weg gehörig vorzubereiten, schrieb er ihr folgenden Brief:

Meine schöne Rose!

Ich bin krank gewesen, ich bin sehr unglücklich gewesen, und ich habe fast ein Vorgefühl, daß ich nicht mehr lange leben werde. Ich möchte die Beziehungen zwischen uns nicht so lassen, wie sie jetzt sind. Ich komme nächste Woche, um Dich, wenn auch nur für ein paar Stunden, zu sehen. Unser Regiment geht an die Front. Wenn meine Gesundheit besser und mein Geist klarer gewesen wäre, hätte ich früher zu Dir kommen und Dir mehr Zeit lassen sollen. Denn ich komme nicht nur, um Dir Lebewohl zu sagen. Ich komme, um Dir etwas anderes zu sagen, was mir immer im Sinn gelegen hat. Ich möchte Dich bitten, mich zu heiraten. Ja, mich gleich zu heiraten, sofort, nur für einen Tag, damit ich in der Sicherheit fortgehen kann, daß Du mein bist, daß unser beider Leben untrennbar verbunden ist, und daß Du, wenn ich fallen sollte, richtig versorgt bist. Sei also nicht überrascht, wenn Du mich am Dienstag siehst, und halte Dich am Nachmittag für die Hochzeit bereit. Ich werde die Heiratslizenz mitbringen, und Dein Vater kann uns trauen. Je weniger Zeremonie damit verbunden ist, um so besser. Oder tut Dir das leid? Mir wäre es lieber so. Die wirkliche Hochzeit, die Festtagsglocken, das Wunder, die Freude der Vereinigung, die Lösung aller Rätsel, das Gefühl, den Höhepunkt des Lebens erreicht zu haben, das alles werden wir ja im Herzen erleben. Bis dahin auf ewig

Dein


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