Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

3

»Schau, Oliver, hier kommt ein Besuch für dich! – deine Kusine Edith!«

Seit vierundzwanzig Stunden lag unser Freund mit einem Gipsverband um das linke Bein im Bett; er hatte ziemliche Schmerzen, und noch mehr litt er unter der Nachwirkung der Betäubungsmittel, die er schon auf dem Rugby-Platz bekommen hatte, als man ihn auf die Tragbahre legte, und dann nochmals hier im Krankenhaus, als das gebrochene Bein eingerichtet wurde. Doch war er durchaus nicht unglücklich, sondern fühlte sich für seinen fiebrigen, elenden Zustand entschädigt durch den Gedanken: »Kein Rugby mehr für dieses Jahr! Überhaupt nie mehr Rugby!« Ein großer Friede kam über ihn. Eine Pflicht war endlich zu Ende und ein für allemal erledigt, ein alter Feind war besiegt und glorreich besiegt.

Aber da war ja Vanny wieder, der auch den ganzen verflossenen Abend und heute den ganzen Morgen bei ihm gewesen war, und mit ihm kam Edith, jene Edith, von der er immer erzählt hatte. Oliver schaute sie, wie man es bei einem Kranken wohl entschuldigt, mit ziemlich hilflosen großen Augen an. Im Augenblick war er wieder ein Kind, und man konnte nicht von ihm erwarten, daß er seinen Kopf vom Kissen hob oder ihr die üblichen Höflichkeiten erwies. Er sah ein hochgewachsenes junges Mädchen von etwa fünfundzwanzig Jahren vor sich, eine majestätische Erscheinung. Ihr blasses Gesicht war halb in ihrem Pelz vergraben. An dem großen, flachen Muff, der ihr an einer Kordel um den Hals hing, bemerkte er einen Strauß hochroter Rosen.

Inzwischen sprach sie zu ihm mit klarer, lebhafter Stimme. »Ja, Mario und ich, wir sind auf ein paar Minuten zu dir hereingekommen. Die Schwester sagt, du hättest in der Nacht etwas Fieber gehabt, das ist bei einem gebrochenen Bein ganz natürlich. Du mußt völlige Ruhe haben. Aber eigentlich siehst du sehr gut aus,« und ihre klugen Augen ruhten auf ihm mit einem forschenden Blick, der gleichzeitig ärztliches Verständnis, höfliche Aufmerksamkeit und herzliche Sorge ausdrückte. »Wirklich, sehr gut siehst du aus«, wiederholte sie nochmals lächelnd, »ganz und gar nicht wie dein Bild in diesen schrecklichen Zeitungen.« Und dabei schob sie mit der zierlichen Spitze ihres Schuhs einen unordentlichen Haufen von Sonntagszeitungen, die den Boden bedeckten, beiseite. In jeder Ausgabe berichteten riesige Überschriften und riesige Bilder von dem Rugby-Kampf des vorhergehenden Tages. »Wir wollen das Zeug wegräumen. Es ist eine wahre Schande für die Zivilisation.« Mario half ihr, und in einem Augenblick hatte sie die unzähligen Blätter gesammelt, gefaltet und sauber in eine Ecke geschichtet.

»Kein Wunder, daß er nicht so imposant aussieht wie auf dem Bild«, sagte Mario. »Das ist nämlich gar nicht Oliver, sondern ein Mann namens Otto Altstein, der letztes Jahr für Columbia gespielt hat. Von unserem O. A. hatten sie keine Photographie vorrätig, da haben sie den andern Mann genommen, weil er dieselben Initialen hatte.«

»Es kann auch ein ganz gutgläubiger Irrtum gewesen sein«, warf Oliver versöhnlich dazwischen. »Altstein klingt auf Englisch ziemlich ähnlich wie Alden. Und sie konnten kein Bild von mir in den Rugby-Akten finden, weil's da gar keins von mir gibt.«

Die junge Dame merkte, daß er mit ruhiger, leiser Stimme sprach und seine Worte mit einem leichten Lächeln begleitete, als weilten seine Gedanken in der Ferne bei etwas, das den Vordergrund des Lebens unwichtig und albern machte. Er war kein alltäglicher Mensch. Er hatte Geist.

»Und wie fühlst du dich jetzt?« fragte sie und wandte sich ihm von neuem zu. »Ganz behaglich? Wenigstens hast du vom Bett aus eine schöne Aussicht, und ich hoffe, du bist auch in guter Pflege.«

»O ja. Es war sehr freundlich, daß man mich hierher gebracht hat, statt in das gewöhnliche Hospital. Mr. Stillman – du weißt wohl, er hat der Universität Harvard gerade erst dieses Krankenhaus gestiftet – Mr. Stillman also war zufällig in der Nähe, als ich verletzt wurde. Er bestand darauf, daß ich hierher käme, obwohl ich kein Recht darauf habe, da ich kein Harvard-Student bin, wenigstens bis jetzt noch nicht.« Wieder kam in seine Augen jenes stille Leuchten, als spiegle sich in ihnen ein Licht aus weiter Ferne.

»Sie haben sich mächtig geschämt«, fiel Mario ein, »und hatten auch allen Grund dazu. Es war eine Gemeinheit. Sie haben dir mit Absicht gegen das Bein gehauen, die Schufte. Jeder hat es gesehen, und jeder weiß es, aber natürlich darf man es nicht laut sagen.«

»So etwas geschieht nicht auf Verabredung«, sagte Oliver. »Es passiert einfach in der Hitze des Gefechts. Bei diesem Sport muß man mit derartigen Unfällen rechnen, das liegt in der Natur der Sache. Rugby fordert den Kampfgeist heraus, da tut man Dinge, die man kalten Blutes niemals tun würde. Und gerade dafür konnte ich mich ja nie begeistern. Deshalb war ich ja auch nie ein sehr guter Spieler.«

»Kein guter Spieler!« rief Mario, halb entrüstet, halb bewundernd aus. »Aber hör mal! Du sollst kein guter Spieler sein, wo du doch gerade den wunderbarsten touch-down Der touch-down ist beim Rugby der »Gelungene Versuch« eines Spielers, den eiförmigen Ball hinter der Torlinie des Gegners niederzulegen. Jedem »Gelungenen Versuch« folgt der »Erhöhte Versuch«, bei dem der Ball von dem gleichen Spieler durch den oberen Teil des gegnerischen Tores geschossen werden muß. Anm. d. Übers. gemacht hast, den man je auf Soldier's Field gesehen hat – das sagt doch jeder – und ganz allein Sieger gegen ein großes College geblieben bist.«

»Dieser touch-down war eigentlich nur Glückssache.«

»Unsinn! Gar keine Glückssache! Bist du nicht durch das ganze Harvard-Team durchgebrochen, indem du hier einem auswichst, da einen niederwarfst, den dritten abschütteltest, der dich schon gepackt hatte, bis du freies Feld vor dir sahst, dich herumwarfst und den Ball genau außerhalb der Torlinie plaziertest? Ich habe überhaupt noch nie einen Spieler so schnell und gescheit und überlegt handeln sehen. Du hast die Gelegenheit erspäht, hast die Zähne zusammengebissen und bist davongesaust. Und die ganze Zuschauermenge erkannte, daß nichts dich aufhalten konnte, daß du alle Trümpfe in der Hand hattest, und daß die Sache in dem Augenblick, wo du losgingst, schon gemacht war. Genialer Überblick, geniale Technik, und diese Geschwindigkeit! Und als du dann zurückkamst und dich schußfertig machtest, da bestand doch nicht der leiseste Zweifel, daß dir das auch mit Leichtigkeit gelingen würde. Nie warst du mehr ganz du selbst als in diesen fünf Minuten. Und so was nennst du Glückssache! Die Harvard-Spieler haben ja auch erwartet, daß du sofort wieder losgehen würdest, wenn du den Ball wiederbekämst. Nur deshalb sind sie beim nächsten Mal so scheußlich über dich hergefallen und haben dir das Bein kaput gemacht. Da ist immer irgend ein Schuft bei der Hand, genau wie in der Politik; die Rohlinge haben die Führung und reißen die andern mit. Sie peitschen sich auf, ohne recht zu wissen, warum, und dann können sie sich nicht mehr zurückhalten.«

»So ist das Leben«, sagte Oliver und dachte an seinen Vater. »Ich meine auch nicht, daß es ein Glückszufall war, daß ich bei dem ›Erhöhten Versuch‹ das Tor geschossen habe. Das gelingt mir gewöhnlich, wenn ich in guter Form bin und nicht gerade ein starker Wind geht, und gestern war es ja nicht sehr windig. Aber du irrst dich, wenn du meinst, ich könnte einen solchen Schuß wie gestern nach Belieben wiederholen. Dazu ist die Sache zu kompliziert. Ich könnte mich zwar ebenso darum bemühen, aber ein zweites Mal würden alle Umstände nicht wieder so zusammentreffen. Deshalb sagte ich, daß es gestern zum Teil Glückssache gewesen ist. Es machte sich wie von selbst. Es riß mich einfach fort. Ich fühlte mich ganz leicht auf den Füßen und brauchte ihnen bloß nachzugeben. Ich habe es eigentlich gar nicht geschafft. Ich wußte nur, es würde geschafft werden und mußte geschafft werden.«

»Es mußte geschafft werden, meinst du, weil du den Ball hattest.«

»Natürlich gibt jeder das her, was in ihm steckt. Aber Rugby-Spielen hat niemals wirklich in mir gesteckt. Es ist mir nur aufgezwungen worden.«

»Sicherlich«, sagte Edith, »muß es ein großes Risiko sein, einen Schlag zu führen, der schon für uns Zuschauer so aufregend war.«

»Du bist auch dagewesen?«

»Mario bestand darauf«, und sie machte ein etwas unbehagliches Gesicht, als sei sie in eine Falle geraten. »Ich kann nicht sagen, daß das Spiel mir im großen und ganzen gefällt. Es ist brutal. Es liegt etwas Verstecktes und Fanatisches darin, fast etwas Lasterhaftes.«

»Ja«, sagte Oliver leise und bewunderte ihre Einsicht. »Solche großen, begnadeten Augenblicke, wo alles wie von selbst geht und recht wird, kommen so selten. Gewöhnlich ist alles, was man treibt, erzwungen, berechnet und ausgeklügelt, und man wird gegen seinen Willen hineingezerrt. Eine entsetzliche Tyrannei! Und wozu das alles? Nur um zu gewinnen – als ob es nicht ganz gleich wäre, wer gewinnt! – und natürlich, um die Sonntagszeitungen zu füllen.«

»Aber warum spielst du dann Rugby, wenn es dir keinen Spaß macht und du es sinnlos findest? Ihr Männer seid eigentlich feige. Ihr wagt es nicht, euch selbst treu zu bleiben.«

»Ich konnte mich nicht weigern, für meine Schule zu spielen. Ich konnte mich auch nicht weigern, für Williams zu spielen. Sie brauchten mich. Sonst hätte es ausgesehen, als wäre ich ein Egoist und Weichling. Aber jetzt ist es zu Ende. Für diese Saison bin ich erledigt, und nächstes Jahr werde ich hier in Harvard sein und überhaupt nicht mehr spielen, sondern nur arbeiten.«

Während Edith sagte: »Das wird auch sicher viel angenehmer für dich sein«, machte sie einige kaum merkliche Bewegungen, schaute nach der Tür, schob ihren Pelz zurecht, lächelte Oliver zu und deutete auf diese Weise an, daß sie sich zu verabschieden wünschte. »Wir dürfen dich nicht ermüden. Es war wirklich eine Schande, daß wir uns noch gar nicht kannten, obwohl wir doch ganz nahe miteinander verwandt sind. Nächstes Jahr, wenn ich bei meiner Tante, Mrs. Brimmer, zu Besuch bin, muß Mario dich recht oft zu uns mitnehmen. Morgen werden wir dir ein paar Blumen bringen. Vielleicht solltest du in den nächsten Tagen lieber noch nicht lesen. Inzwischen lasse ich dir diese Rosen hier, sie werden sich wohl bis morgen halten.« Und während sie sprach, nahm sie die dunkelroten Rosen von ihrem Muff – alle bis auf eine – und ordnete sie flink in einem Glase, das sie im Handumdrehen vom Tisch genommen und mit Wasser gefüllt hatte.

»Da sieht man, wie die Frauen Brutalität bewundern, einerlei, was sie darüber sagen mögen«, bemerkte Mario, indem er seine Augen zum Himmel erhob. »Da besuchst du also einen fremden jungen Mann in seinem Schlafzimmer und überhäufst ihn mit zarten Aufmerksamkeiten, alles bloß, weil er diesen lächerlichen Schuß gemacht hat.«

»Krankenbesuche sind doch nichts Besonderes. Wir ›Schwestern der Heiligen Elisabeth‹ gehen regelmäßig in die Krankenhäuser und Gefängnisse. Und wir stellen immer wieder fest, daß gerade die derbsten jungen Männer unsere Beweggründe am besten zu verstehen scheinen und am dankbarsten und respektvollsten sind. Die Frauen, besonders alte Frauen, machen sich manchmal über uns lustig; aber auch das müssen wir ertragen; das bringt die soziale Tätigkeit nun einmal mit sich. Du mußt wissen«, fügte sie zu Oliver gewendet hinzu, »daß ich als Pflegerin ausgebildet bin und ebenso mein Diplom habe wie die gute Frau, die dich hier pflegt.«

»Dann wollte ich, du wärest an ihrer Stelle. Sie meint es gut, aber sie ist so dick und ungeschlacht, daß sie das ganze kleine Zimmer ausfüllt und mich fast erdrückt.«

Die große, weiße Gestalt der vortrefflichen Frau erschien jetzt in der Tür, als wollte sie diese Beschreibung bestätigen. Der Arzt hatte nicht erlaubt, daß Besucher länger als zehn Minuten blieben.

»Also leb wohl bis morgen und gute Nacht!« Und während Edith das sagte, strich sie wie zum Beweis ihrer fachlichen Erfahrung die Bettdecke schön ordentlich zurecht, wobei sie mit einem leichten freundlichen Druck Olivers Rippen streifte.

»Morgen früh werde ich Jimmy, den Haarschneider, zu dir schicken«, sagte Mario, »er kann dich auch rasieren, wenn du meinst, du hast es nötig.« Er lachte über den blonden Flaum auf Olivers Lippen und Kinn. »Auf alle Fälle brauchst du nun nicht länger wie ein Hottentotte auszusehen. Das ist ja scheußlich«, und er fuhr mit den Fingern durch den dichten Wald von blondem Haar, den sich Oliver als Rugby-Spieler zum Schutz gegen Kopfverletzungen hatte wachsen lassen. Aber Marios Bewegung, die als Neckerei begonnen hatte, endete in einer Liebkosung.

Das Bett, in dem Oliver lag, stand der Länge nach an einem breiten Fenster oder vielmehr einer Reihe von Fenstern, die fast eine Glaswand bildeten. Jenseits einer Biegung des Charles-Flusses, den man gerade unterhalb erblickte, war zwischen den Nebelschleiern, die die sumpfigen Wiesen bedeckten, die graue Masse des Stadions sichtbar, und der Rauch einiger Fabrikschornsteine verdüsterte den Himmel. Auf der andern Seite stieg der Wald des Mount Auburn mit seinen entlaubten, violetten Stämmen auf; und in der Mitte loderte in scharlachroten und kupferfarbigen Streifen das Feuer eines winterlichen Sonnenuntergangs. Diese Abendstunde mit ihrer Stille nach dem vielen Reden, das Betäubungsmittel, das noch immer in Oliver wirkte, um die beständig anklopfenden Schmerzen zu verscheuchen, das Gefühl völliger Erlösung von jeder Sorge, alles vereinte sich zu einer Stimmung von sanfter Träumerei, einem Schlummer mit offenen Augen, in dem vergangene und zukünftige Dinge wie Figuren eines verblaßten Wandteppichs ineinander übergingen und undeutliche Bilder bewegter Szenen in einer Prozession an ihm vorüberzogen.

»Rosen«, sagte eine Stimme in ihm, »dunkelrote Rosen. Die Blütenblätter werden an den Rändern schon ein wenig violett. Ein paar sind schon auf den Tisch gefallen. Diese Rosen hat er ihr gestern gegeben, als er sie mit ins Stadion schleppte, damit sie mich als Helden kennenlernte. Ich habe Harvard besiegt, aber das spielt für die Leute hier weiter keine Rolle. Ein Zufall, es war nur ein Übungsspiel! Williams hat Harvard bisher noch nie besiegt und wird es auch vermutlich nie wieder besiegen. Nun habe ich die Farbe von Harvard, wenn auch etwas verblichen, als Geschenk, als Preis bekommen. Man empfängt mich hier angemessen, hier bin ich an dem Ort, wo ich hingehöre. Denn ich werde nach Harvard gehen, und dann ist Dunkelrot auch meine Farbe. Oder wird mein Dunkelrot am Rande gleichfalls ein wenig bläulich sein? Werde ich je ein echter Harvard-Mann werden oder nur ein abtrünniger Williams-Mann bleiben? Muß ich mich immer von meiner Umgebung abwenden, um meinen wahren Platz erst zu suchen? Muß meine Heimat immer in der Ferne sein? Wie soll ich jemals Ruhe finden, wenn es irgendwo noch etwas Besseres gibt? Und wenn ich das Bessere sehe und ergreife, mache ich es dann nicht zu meinem Eigentum, beweise ich dann nicht, daß es kraft göttlichen Rechts von jeher mein gewesen ist? Warum bleibt es mir trotzdem zur Hälfte fremd und befriedigt mich nicht? Wenn ich es nun versuchte, mich in der gleichen Welt wie Mario und Edith zu bewegen – denn schließlich sind wir verwandt, und ich besitze alle irdischen Glücksgüter – würde ich dann nicht versagen? Würden sie nicht immer etwas über mich lächeln, weil ich in ihren Augen nicht wirklich von ihrer Art bin, sondern nur ein Vetter vom Lande, zu dem sie gern freundlich sein möchten?

Wenn sie sich durch ihre kleinen Randbemerkungen, diese schnell hingeworfenen Stichworte, miteinander verständigen, scheinen sie eine fremde Sprache zu sprechen, als wäre ich ein Ausländer oder ein Kind, das nicht verstehen soll oder nicht verstehen kann, wovon die Rede ist. Zwischen den beiden existiert eine Art Telegraphie, eine Geheimsprache; dieselben Dinge fallen ihnen gleichzeitig auf, und sie sehen an allem die gleiche komische oder verrückte Seite. Sie flöten wie ein Liebespaar, und sie scheinen über mich ebenso wie über jeden andern zu lachen; aber in Wirklichkeit ist es anders. Ich bin sicher, daß sie mich einen Augenblick ihm vorzog; sie fühlte, daß ich stärker, vertrauenswürdiger und bemitleidenswerter bin ... Ja, und Mario ging es genau so. Er behauptet, in sie verliebt zu sein, aber in Wahrheit liegt ihm mehr an mir, viel mehr. Ihr gegenüber ist er ganz Rücksicht, ganz Aufmerksamkeit, ganz Verehrung, geht auf ihre Vorschläge ein, verkehrt mit ihren Freunden, scheint sich zu ihren Ansichten zu bekehren, nimmt vor ihr, der Herzenskönigin, die Rolle des bezauberten Pagen an; was alles ihn durchaus nicht daran hindert, mit den andern Pagen Murmeln zu spielen und mit den Kammerzofen zu scherzen. Die ganze Sache ist eine galante Komödie. Aber wenn er mir gegenübersteht, ist er ernst. Dann haben alle seine Späße nur den einen Zweck, seine wahren Gefühle wegzulachen.

Daß sie mich beide so verhätschelten – Edith nicht weniger als Mario – taten sie das nur, weil ich verletzt bin und hilflos wie ein kleines Kind hier liege? Bedeutete es nichts, oder bedeutete es sehr viel? Es bedeutete sehr viel; vielleicht nicht für sie – sie haben so viele verschiedene flüchtige Gefühle – aber für mich: nämlich, daß ich endlich hier meine natürlichen Freunde gefunden habe, Menschen meiner eigenen Art, mit denen ich schon immer hätte zusammenleben sollen. Nicht Mutter, nicht Vater, nicht Irma, nicht Jim, sondern Mario und Edith gehören zu mir. Bei ihnen fühle ich mich endlich zu Hause. So ist es, trotz aller Verschiedenheiten, trotz aller Schranken.

Was würden aber auch Schranken und Verschiedenheiten ausmachen, wenn ich in mir selbst eine Welt besäße, zu der ich gehörte, und wüßte, wo ich stehe! Dann würde sich alles zusammenschließen und einordnen. Habe ich nicht noch eine ganz andere Rose in Iffley, eine weiße Rose, eine feste, harte kleine Rosenknospe? Sie wird niemals so stark duften wie diese scharlachroten Rosen. Sie wird sich nicht in einem New Yorker Treibhaus öffnen, sondern in einem kühlen englischen Garten unter mildem Regen, im zarten romantischen Lichte der Wolkenschlösser, die die Sonne über dem Meere aufgebaut hat.

Wolkenschlösser! Vielleicht gibt es in der Welt gar nichts anderes! Mr. Darnley lebt in seinem eigenen Wolkenschloß, das gewiß erhaben und sehr logisch ist, viel erhabener und logischer als die Kirche, zu der er angeblich gehört; und doch ist seine kleine Tochter zu klug, um an das Wolkenschloß ihres armen, träumenden Vaters zu glauben, und sie lacht über den Gedanken, daß man in der Luft leben könne. Die kleine Materialistin glaubt auf der festen Erde zu stehen, und sie ist stolz darauf, daß sie nichts von Visionen weiß. Und doch: was ist die Erde anderes als wiederum ein Wolkenschloß? Warum soll man über Wohnungen streiten, die vom Wind errichtet und vom Wind verweht werden? Wie kann es den Geist, den reinen, anschauenden Geist in mir anfechten, ob Mutter oder Vater, Liebchen oder Freund mir gerade zulächeln oder mir gerade grollen? Alle diese Bilder sind veränderlich, nebelhaft und trügerisch; was dauert, ist nur der Geist, dieser beständige Zuschauer, der über alle Erscheinungen staunt, die eine genießt, durch die andere leidet und sie alle fragwürdig macht. Wenn ich mir diesen Geist frei bewahre, wenn ich ihn rein erhalte, dann mögen die Rosen rot oder weiß sein, dann mögen die Rosenkriege nie ein Ende haben, denn, ob ich nun die Rose von Lancaster oder die Rose von York trage, keine wird meiner Seele die Farbe ihrer Partei aufzwingen. Bin ich etwa violett geworden, weil ich auf dem Rugby-Platz Violett trug, oder werde ich dunkelrot werden, wenn ich eines Tages diese Farbe trage? In welche bunte Jacke man mich auch stecken mag und welchen Beinamen man mir auch geben mag, immer kann mein Geist von allen irdischen Hüllen frei unter den Sternen schweifen, und mein wahres Ich wird immer namenlos bleiben.«


 << zurück weiter >>