Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5

Trotz dieser Vorahnungen ließ Oliver nicht von dem Entschluß ab, sich höheren Aufgaben zu widmen. Wenn die Natur mit ihrer Auslese gegenwärtig keinen Sinn für diese höheren Aufgaben hatte und sie zu verdunkeln drohte, so war das ein betrüblicher Umstand, aber an der Treue eines geistigen Menschen, eines ἀνὴρ πνευματικός, wie Mr. Darnley Oliver genannt hatte, konnte das nichts ändern. Die höheren Ziele blieben doch stets die höheren; die Mißachtung, mit der sie im Augenblick betrachtet wurden, war nur durch örtliche und zeitliche Umstände bedingt; und in späteren, glücklicheren Tagen würden andere Menschen ihnen wieder näherkommen, sie vielleicht sogar erreichen, falls man selbst nicht mehr so weit gelangte. Inzwischen aber blieben sie kraft eines unaustilgbaren Hanges der Menschheit die Ziele des Lebens, aller menschlichen Verwirrung und Blindheit zum Trotz. Hoch droben überwölbten und verbanden sie das Streben aller Seelen, die der Selbsterkenntnis fähig waren, und schufen zwischen ihnen geistige Freundschaft.

Da Oliver jung, reich und kräftig war, fand er diesen geistigen und moralischen Interimszustand entschieden erträglich; es lag sogar ein gewisser herber Stolz darin, in der Nachhut zu kämpfen und das Recht in der dunkelsten Stunde zu verteidigen, wo es zum Untergang bestimmt schien. Wenn er sang » Here's a health to King Charles« – und er sang das großartig – so fühlte er, daß im zwanzigsten Jahrhundert den Puritanern die Rolle zukam, die im siebzehnten Jahrhundert die Kavaliere innegehabt hatten: Märtyrer einer poetischen und ritterlichen Sache zu sein. Es war aber nicht im mindesten eine verlorene Sache; denn Wahrheit und Vernunft waren keine historischen Zwischenfälle wie das Haus der Stuarts und konnten niemals aussterben oder ihr ewiges Recht verscherzen. Daher lag etwas Gemächliches, still Ironisches und völlig Unabenteuerliches in Olivers Gewißheit, daß er auf der richtigen Seite stand. Sein Geist mißtraute allen überspannten Radikalismen oder Utopien; er begnügte sich mit einem festen Richtungsgefühl, das ihn sicher auf seiner heimatlichen Bahn geleitete.

Der Beinbruch war ein Signal für eine innere Wandlung gewesen, nicht für eine überstürzte, von Reue begleitete Bekehrung, sondern für eine friedliche Umformung, die manches Verbrauchte abstreifte, um Neues hervorzubringen. Sein hartes körperliches Training konnte er seiner Gesundheit wegen nicht aufgeben, und deshalb nahm er sich wie Mario ein Pferd; doch wollte er allen Wettspielen, allem öffentlich organisierten Sport den Rücken wenden. Er mußte auch weiter studieren, aber er wollte die ganze Tretmühle von Kursen, Prüfungen und akademischen Graden so rasch wie möglich erledigen und aus den Augen verlieren, natürlich auf dem vorgeschriebenen Wege; denn sein Sinn für Gesetzmäßigkeit verlangte, daß er vollendete, was er einmal begonnen hatte, und es nicht unfertig beiseite legte. Am Williams College wollte man ihn nach drei Jahren promovieren lassen; dieses Zugeständnis war in seinem Falle nicht mehr als gerecht; offiziell würde er sich aber um den Grad erst ein Jahr nach seinem Abgang bewerben, wenn sein ganzer übriger Jahrgang ihn auch empfing; dann sah es nicht so aus, als hätte er sein College und seine Kameraden im Stich gelassen. In Harvard wollte er ein neues Leben beginnen, das Leben eines armen, unbekannten, einsamen Studenten.

Im September, als dort alles noch verlassen war und Mario sich noch in Europa befand, hatte er eine Pilgerfahrt nach Cambridge unternommen, eigens um sich nach einem geeigneten Quartier umzusehen. Er wollte kein Verbindungshaus, kein vornehmes Dormitorium, nicht einmal eine Pension. Denn dort würden dauernd lärmende erste Semester aus- und eingehen, Radau machen, alles mögliche borgen und ein allgemeines Tohuwabohu anrichten. Für einen Einzelgänger wie ihn würde das offizielle Zimmervermittlungsbüro wohl kaum etwas Passendes haben. »Nein«, sagte der Angestellte dort in nachlässigem, hochmütigem Ton, »wir haben kein Zimmer für Sie, aber es steht zufällig in Divinity Hall im Parterre eins leer. Das können Sie kriegen, wenn Sie wollen.«

»Divinity Hall«! Der Name hatte für Olivers Ohren einen ansprechenden Klang. Das war es vielleicht, was er suchte. Mit Hilfe eines Planes gelangte er zu einer ungepflasterten Seitenstraße, die nirgendwohin zu führen schien, aber von großen Bäumen beschattet war. Sogar Gras wuchs hier; und auf der einen Seite stand ein ziemlich plumpes altes Backsteingebäude mit großen quadratischen Fenstern. Auch das fragliche Zimmer war quadratisch, niedrig und recht geräumig; doch hatte es keine Schlafgelegenheit, kein Bad, keine Zentralheizung, kein fließendes Wasser, nur einen einfachen kleinen Ofen, und die billige Tapete löste sich bereits von den Wänden. Ging das wohl so? Was würde seine Mutter sagen, wenn sie das sähe? Aber sie würde es ja nicht sehen. Er dachte daran, wie warm und gemütlich ihm das Kohlenfeuer in Eton vorgekommen war, und wie stets ein summender Wassertopf darauf gestanden hatte. Er konnte die Wände weiß streichen lassen, wie die von Jims Kabine auf der Jacht, er konnte sich ein Sofa verschaffen, das in der Nacht als Bett dienen würde, und einen Wandschirm, um die Waschgelegenheit in der Ecke zu verbergen. Die eine elektrische Birne, die an einem Draht von der Decke hing, war leicht durch eine grüne Schirmlampe zu ersetzen, die am besten über einem großen Schreibtisch angebracht wurde. Baden konnte er nach seinem Training im Bootshaus oder in der Turnhalle; außerdem sagte der Hausmeister, daß draußen im Gang Duschen vorhanden seien. Ja, das Zimmer würde wunderschön werden, es war so abgelegen und bescheiden und vor allen Eindringlingen sicher. Ganz in der Nähe von Divinity Hall befand sich eine neue Bibliothek, ein idealer Arbeitsplatz, wo er alle die deutschen Philosophen lesen konnte, deren Werke zum häuslichen Studium zu umfangreich waren; dort gab es auch alle gelehrten Zeitschriften und alle Wörterbücher, dort herrschte die Atmosphäre innigen, hingegebenen Studiums. Er wollte also in Divinity Hall wohnen.

Gerade warf er einen letzten Blick aus dem Fenster, das auf Norton's Woods und Shady Hill ging, da hörte er den Hausmeister sagen:

»Ralph Waldos Name steht nicht da. Er hat wohl keinen Diamanten zum Einritzen gehabt.«

Auf einem der Fensterflügel waren in der Tat verschiedene Namen, Daten und Initialen zu sehen, die von früheren Bewohnern des Zimmers ziemlich unleserlich dort eingekratzt waren.

»Ralph Waldo?«

»Jawohl, Ralph Waldo Emerson. Er soll in diesem Zimmer gewohnt haben. Das war nicht zu meiner Zeit. Ich kann's nicht beschwören.«

Wie seltsam, dachte Oliver, daß er, ohne es zu wissen, sich Emersons Zimmer ausgesucht hatte. Irma und seine Mutter würden das – abgesehen davon, daß Aberglaube unrecht war – für ein Werk der Vorsehung halten. Alle Einwände gegen das Unvornehme und Unbehagliche seiner Wohnung konnten nun mit dem einen Wort beschwichtigt werden: »Was gut genug für Emerson war, ist auch gut genug für mich.«

In dieses Paradies einfachen Lebens und erhabenen Denkens hielt Oliver in seinem Eifer noch vor dem vorgeschriebenen Termin seinen Einzug. Sein Ruderboot war vorausgeschickt und im Bootshaus untergebracht worden. Am ersten Nachmittag in Cambridge war er früh hinausgerudert, um den oberen Fluß zu erforschen. Diesen hatte man gerade erst ›verschönert‹; an seinen Ufern waren kleine Deiche angelegt, die seine Windungen korrigierten; Pfade aus neuem gelbem Sand und eine Reihe junger Bäumchen zogen sich an beiden Seiten entlang. So floß der träge ›Charles‹, neubelehrt über seine Wegrichtung, meerwärts durch die Gegend, die allmählich in eine Landschaft oder doch in eine vorstädtische Parkanlage verwandelt werden sollte. Während Oliver geruhsam die Kreise seiner Ruder beim Eintauchen beobachtete, kam er an den altbekannten Stätten vom vorigen Jahr vorüber: da war das kahle und verlassene Stadion auf der andern Seite von Soldier's Field und das Stillman-Krankenhaus, dessen Rot und Weiß nun schon weniger leuchtend schien, während seine jungen Baumanlagen dichter geworden waren. Er erkannte das breite Fenster, an dem sein Bett gestanden hatte.

Es war erfreulich, die Schmerzen los zu sein, sich im vollen Besitz seiner Körperkräfte ungehindert bewegen zu können, frei und doch ausgefüllt, einsam und doch nicht ohne Freund zu leben. Erfreulich war es, einen neuen Fluß, eine neue Stadt, eine neue Universität, neue Ideen und neue Lebensformen zu erforschen; aber nicht wie ein Landstreicher ohne eine bestimmte Geistesrichtung und ohne eigene Hilfsquellen, sondern wohlwollend, beobachtend und mit scharfem Blick; ähnlich wie Faust, wenn er am Sonntagmorgen unter den braven Frankfurter Bürgern einherwandelte und sich wunderte, warum ihm dieser kleine Teufelspudel da immer zwischen die Beine lief.

Aber Faust wurde nicht wirklich jung. Mephisto betrog ihn und verjüngte ihn nur äußerlich. Im Herzen blieb er alt, ein Verdammter mit bitterem Geschmack auf der Zunge und einem angekränkelten Geist, der sich künstlich dazu zwang, intensiv zu leben, und der alles zu wissen und zu erfahren suchte. Wäre er wirklich ein junger Gentleman gewesen und rudern gegangen – was entschieden für die Erholung des Gehirns besser war als einer Dienstmagd den Hof zu machen – dann hätte er es nicht nötig gehabt, die Nase zu rümpfen über die ›Gemütlichkeit‹ des Ratskellers oder über das reizende Lied vom Floh, der zum Schneider geht. Man war nicht immer in der richtigen Laune für lustige Gesellschaft, Oliver selbst war es selten; aber darauf konnte man nicht stolz sein. Es war eine Unfähigkeit. Nicht jeder konnte sein wie Mario, der an allen möglichen Possen und Tollheiten seinen Spaß hatte, ohne daß sie ihn im geringsten berührten und beschmutzten; denn er faßte sie mit Handschuhen an, genau wie wenn er seinen Wagen schmierte, und die Handschuhe konnte er stets ausziehen und wegwerfen. Aber sich überlegen fühlen, weil man einfache Freuden haßte, das hieß prüde sein; es hieß, sich an der Welt zu seinem eigenen Schaden dafür rächen, daß man nicht in ihr zu leben verstand.

Während diese Gedanken wie Wolken durch die oberen Gefilde seines Kopfes zogen, genoß Oliver den vereinten Rhythmus seiner Beine und seines Rückens, seiner Arme und seiner Ruder. Auf dem Heimweg ruderte er, da er sich nicht müde, sondern nur warm und geschmeidig fühlte, besonders gut und bezwang die verschiedenen kleinen Unbehaglichkeiten, die jeder Endspurt mit sich bringt, voller Freude darüber, daß er diese Sache nur um ihrer selbst und seiner eigenen Genugtuung willen so fein machte. Er wäre über das Bootshaus hinausgesaust, hätte er nicht plötzlich die Ruder fest im aufgewühlten Wasser angehalten und auf diese Weise das Boot genau vor der Anlegestelle abgestoppt. Ein solcher Abschluß bildete in früheren Tagen den Stolz eines erstklassigen Kutschers, der in schlankem Trabe vorfahrend seine feurigen Pferde mit einem Ruck vor der Tür seines Herrn zum Stehen bringt.

Als der alte Silas, der Bootshausdiener, ihm sein Boot versorgen half, bemerkte Oliver am andern Ende der Landungsbrücke zwei hochgewachsene Männer in Flanellanzügen. Der eine war offenbar ein Student in den ersten Semestern, der andere mochte dreißig Jahre oder etwas älter sein; und wie sie nun ihr ernstes, anscheinend endloses Gespräch fortsetzten, blickten sie aufmerksam zu ihm herüber, als überlegten sie, wer er wohl wäre. Zehn Minuten später, als er angezogen herunterkam und sich schon aufs Dinner freute, standen sie noch da, tief in die gleiche wichtige Diskussion versunken; doch jetzt trennte sich der Jüngere von dem andern und trat auf Oliver zu.

»Verzeihen Sie«, sagte er mit gleichgültiger Stimme, als wollte er einen Schutzmann nach dem Weg fragen, lächelte dabei aber wie zur Entschuldigung über seine eigene Neugier. »Sind Sie nicht Mr. Alden?«

»Ja, der bin ich!«

»Doch nicht der Alden aus Williams, der – der den touch-down gemacht hat?«

»Doch. Ich bin dort weggegangen und für mein letztes Studienjahr nach Harvard gekommen.«

»Aber wir haben gar nicht gewußt, daß in Williams überhaupt gerudert wird. Wir haben nie gehört, daß dies College auch Wassersport treibt.«

»Das tut es auch nicht. Ich habe nur zu Hause gerudert, als ich noch zur Schule ging, und später in den Ferien.«

»Aber wie ist das möglich? Dr. Wilcox und ich – dies hier ist Dr. Wilcox, der uns trainiert –« und Oliver mußte jetzt dem älteren Mann die Hand schütteln, wobei er feststellte, daß dieser ein Kinn und einen roten Schnurrbart wie Mr. Theodore Roosevelt hatte – »Dr. Wilcox und ich haben Sie soeben beobachtet und Ihre Ruderkunst bewundert.«

Oliver lachte. Nach diesem touch-down schienen es die Leute kaum für möglich zu halten, daß er auch noch etwas anderes könnte. Mußte er stets erklären, daß er nicht bloß ein Rugby-Spieler sei?

»Ich habe bei Denis Murphy, dem ehemaligen Weltmeister, rudern gelernt. Er hat jetzt ein Bootshaus in Great Falls, Connecticut, wo ich zu Hause bin.«

Als Dr. Wilcox Denis Murphys Namen hörte, geriet er ganz außer sich und rief, das erkläre natürlich alles. »Es geht doch nichts darüber, vom richtigen Mann geschult zu werden«, schrie er, indem er sich auf die Brust schlug und seinen Freund mit der Miene übertriebener Selbstzufriedenheit anstieß. »Mr. Remington, der dies Jahr der Kapitän unserer Mannschaft ist« – und da dies eine Art Vorstellung des jungen Mannes, der ihn vorher vorgestellt hatte, zu bedeuten schien, so hätten Oliver und Remington sich vielleicht die Hände schütteln müssen, aber in gegenseitigem, schweigendem Einverständnis unterließen sie es – »Mr. Remington und ich hätten eigentlich Denis Murphys Methode auf den ersten Blick erkennen müssen; aber Ihr Stil ist doch noch etwas anders; er hat etwas Persönliches, und natürlich sind Sie auch nicht so schwer wie er. Ihr Stil ist glatter, weniger ruckartig, ohne deswegen an Gewalt zu verlieren« – und Dr. Wilcox schickte sich an, alle seine Rezepte zu wiederholen, mit denen er jeden binnen sechs Wochen in einen vollkommenen Ruderer zu verwandeln sich anheischig machte. Aber dann sah er plötzlich nach der Uhr und schrie »verflucht!« – er glaube, er habe um sechs eine Verabredung und es sei schon sechs – »sehr erfreut, Sie kennengelernt zu haben«; verflucht, er hatte seine Tasche vergessen und lief hinauf, um sie zu holen. »Hoffe, Sie bald wiederzusehen. Leben Sie wohl bis dahin!«

Das Gesicht des energischen Doktors war schon jetzt vor Eile erhitzt, seine lange Krawatte flatterte, seine weiten Hosen schlugen an seine hastenden Beine, und als er verschwunden war, sahen Remington und Oliver sich an und lachten ein wenig. Sie waren froh, daß Dr. Wilcox fort war und sie sich miteinander allein fanden.

Der Teil von Cambridge, wo das Bootshaus stand, war damals noch halb Wüstenei, halb Armenviertel: Schuttabladestellen, Negerbehausungen, gelegentlich ein schiefgeneigter Laternenpfahl – das alles machte ihn zu einer Art von Neusiedlerlandschaft oder einem Museum von Hinterhof-Architektur; heute ist nichts mehr davon zu sehen, aber in den Außenbezirken von Paris trifft man ein ähnliches Milieu noch an. Eine einzige lehmige Straße führte von dort nach Harvard Square und dem Yard, und so fügte es sich, daß Oliver am ersten Tag in seinem neuen College mit dem Kapitän der Universitätsrudermannschaft durch die Stadt gehen mußte. Er hatte zwar keine geringe Meinung von seinem eigenen Wert und seiner eigenen Stellung; aber trotzdem benahm es ihm fast den Atem, sich solcherart plötzlich auf der obersten Sprosse der Rangleiter zu finden, und er war ganz still. Remington aber redete munter und ungezwungen weiter, als unterhalte er sich mit sich selbst.

»Merkwürdig, wie ausgestorben hier noch alles ist, obwohl das Semester in zwei Tagen anfängt. Keine Seele in ganz Cambridge! Der alte Silas sagte, Sie hätten Ihr eigenes Boot mitgebracht und hätten vor, jeden Tag aufs Wasser zu gehen, bis es zufriert. Ein hübsches Boot übrigens. Wir schauten es an, während Sie oben waren. Ich habe schon immer gefunden, daß Skinners die besten Schiffbauer sind, aber unser engerer Kreis hält es im allgemeinen mit der andern Firma. Ich kann mir übrigens nicht denken, daß es Ihnen hier gelingen wird, außerhalb der Saison zu rudern. Der Fluß friert zwar nicht immer zu; aber im Winter rudert hier niemand, und das Bootshaus ist geschlossen. Wir halten die Rudermannschaft durch Dauerläufe in Form und üben an den Maschinen. – Mit Maschinen üben mögen Sie wohl nicht, wie? – Natürlich, da Sie zum Vergnügen und allein rudern, können Sie es sich leisten, einfach so herumzufahren, um die frische Luft zu genießen und den Sonnenuntergang zu bewundern; wir dagegen müssen trainieren. Wir sind nicht zum Vergnügen bei der Mannschaft, sondern um das Yale-Rennen zu gewinnen

Remington brachte diese letzten nachdrücklichen Sätze in einem ganz andern Tone vor als sein übriges zwangloses Geplauder. Er wurde geradezu angriffslustig. Offenbar stammten diese Maximen nicht von ihm selbst, sie trugen den Stempel des offiziell betriebenen Sports und vergewaltigten sein angenehmes Temperament. Er war nun einmal ein starker junger Mann ohne ausgesprochene Neigungen; so hatte man ihm gesagt, er könne »was aus der Mannschaft machen«, es sei seine Pflicht, sein möglichstes zu tun; und wenn es sich zeigte, daß er etwas zu Wege brächte, müßte er Kapitän werden und mit Leib und Seele bei der Sache sein. Er war im stillen nicht ganz sicher, ob er wirklich mit Leib und Seele dabei war; aber was half das? Er hatte sich nun einmal darauf eingelassen!

Oliver verstand die Lage seines neuen Freundes sofort; er kannte sie aus eigener Erfahrung. Sein Instinkt verriet ihm, daß es Remington im Grunde riesig gefallen würde, wenn er diesem offiziellen Gerede widerspräche.

»Um das Yale-Rennen zu gewinnen? Meinen Sie, daß Sie es auf diese Art gewinnen werden? Das ist nicht unwahrscheinlich; denn die Yale-Leute haben auch keine andern Maschinen und dieselben Einpauker. Auch sie werden getrieben, nur vielleicht noch etwas schärfer. Aber ist dies ganze System nicht falsch? Training ist sehr gut, um stark zu werden und kleine Unarten zu korrigieren, die man sich beim Sport leicht angewöhnt. Training verhütet nutzlose Kraftvergeudung. Aber die Sache selbst, das eigentliche Rudern, muß von innen her kommen. Es hat keinen Zweck, an die Sache von außen her heranzugehen und einem Manne vorzuschreiben, wie er rudern oder schwimmen oder singen oder dichten soll. Und ich glaube nicht, daß das für das Rudern im Achter weniger gilt als für das Rudern im Einer. Im Gegenteil, es besteht dann nur um so größere Gefahr, daß man nicht miteinander übereinstimmt. Wenn es einem Mann, der allein marschiert, einfällt, unregelmäßig zu gehen und zurückzuschauen, dann schadet das nicht viel, außer daß er an Geschwindigkeit verliert und sich wie ein Esel vorkommt; aber wenn er innerhalb einer Kolonne aus dem Gleichschritt fällt, dann bricht das Ganze auseinander. Der allgemeine Zusammenhalt muß von einem Mittelpunkt ausgehen; jeder muß das gleiche fühlen. Sonst ist kein Leben im Boot. Das ist der Zweck der Militärmusik und auch der Kirchenmusik.

Man kann eine Schar von Riesen heranzüchten und sie an den Maschinen so lange drillen, bis sie wie ein Uhrwerk funktionieren; sie würden auf dem Wasser doch nichts taugen, wenn nicht etwas wie ein elektrischer Strom durch alle hindurchginge und sie in ein einziges Wasserinsekt mit acht Beinen verwandelte. Haben Sie nicht das Gefühl, als gehörten die Ruderstützen und die Ruder mit zu Ihrem Körper, und als bewegten Sie sich darauf wie eine Art Grashüpfer fort? Aber woher soll beim Achter der elektrische Strom kommen? Von dem armen kleinen Einpauker? Der hat wahrscheinlich nicht einmal genug Elektrizität, um seinen eigenen Körper vorm Erkalten zu bewahren, geschweige denn um acht große, starke, schwerfällige Kerle, die alle noch träger sind als er selbst, in Feuer zu versetzen. Sie werden natürlich sagen, die Elektrizität solle vom Kapitän ausgehen; aber wie soll er das fertig bringen – durch Reden etwa? Es muß aus der Bewegung an sich kommen, wenn er dabei seiner selbst sicher ist und Magie genug hat, um die andern zu beherrschen. Das Zentrum des Lebens muß seinen Sitz an einem festen Fleck haben und nicht vage herumwandern und sich an acht oder neun verschiedenen Stellen niederlassen; das geschieht nämlich sehr leicht, denn jeder Mann ist in sich selbst vollständig und besitzt sein eigenes Lebenszentrum, daher muß er unter einem ungeheuer starken Einfluß stehen, sonst macht er sich unabhängig. Ein Jockey bringt das leichter fertig, denn es liegt in der Natur der Sache, daß er Träger dieses Lebenszentrums ist, und sein Pferd ist nur eine Stute oder ein Wallach. Ein Wallach kann körperlich so schnell sein, wie Sie wollen; aber ohne den Reiter, der eben kein Wallach ist, würde er niemals ein Rennen machen. Ein Ruderschlag soll nun nicht so sein, als versuchten acht Pferde in einer Reihe zu laufen; der Jockey muß auch mit dabei sein, der oben auf dem Ganzen reitet, und er muß unbedingt genug vitale Kraft haben, um alle andern zu magnetisieren, damit sie von seinem Zentrum nicht abschweifen.«

Remington lächelte ungläubig. Er fand Gefallen an Oliver, aber er vermochte sich keine fremden Ideen anzueignen, vor allem nicht so ausgefallene mystische Ideen über eine so einfache Sache wie Rudern.

»Magnetisieren, so? Ich wußte immer, daß man rhythmisch arbeiten muß, aber ich dachte nicht, daß man deswegen magnetisiert werden müßte. Ich habe zweimal bei Viermeilenrennen mitgerudert, und beim ersten Mal wurde mir zuletzt schlecht, aber ich habe nie gemerkt, daß ich magnetisiert war. Es stimmt ja«, fügte er mit dem Lachen eines vergnügten Zynikers hinzu, der sich über sich selbst lustig macht, »es stimmt ja, wir haben auch nie gewonnen.«

Sie lachten beide. Neckereien und Scherze dieser Art – kleine, krause Wellen auf der Oberfläche des Geistes – gaben Oliver ein machtvolles Gefühl von stillen Tiefen, die solche spaßhaften Reden erst belachenswert und heiter erschienen ließen. Remington regte ihn zu solchem Lachen mehr an als irgend ein anderer seiner Bekannten. Olivers Lachen hatte mit dem seines Vaters Ähnlichkeit; vielleicht hatte sein Vater in seiner Jugend mit Menschen wie Remington verkehrt und mit ihnen gelacht.

»Sie werden nun fragen«, fuhr Oliver fort, »wenn jeder Ruderer sein eigenes Lebenszentrum hat, wie gelangt man an das heran, um ihn zu magnetisieren? Das weiß ich nicht, aber es kommt vor. Man kann das naturhafte Sympathie oder Herdeninstinkt oder Ansteckung nennen; ähnlich wie man ja auch auf dem Eise leicht ausgleitet, wenn jemand vor einem gerade ausgeglitten ist, oder wie man manchmal im voraus weiß, was ein anderer sagen wird. Oder es ist wie bei einer Vogelschar, die gemeinsam auffliegt und in geschlossener Formation dahinzieht. Die Bewegung ist elastisch und balanciert sich von selbst aus. Die Vögel haben sich nicht an Maschinen geübt und machen es ohne Trainer und Kapitän.«

»Und, Gott sei Dank, ohne Einpauker.« Remington war nicht im Zweifel über ihr gegenseitiges Einverständnis und gab seine Geheimnisse ohne das Gefühl einer Indiskretion gleich nach der ersten Bekanntschaft preis.

Sie hatten die Mount Auburn Street erreicht. »Wohnen Sie vielleicht zufällig auch in Claverley Hall?« fragte Remington, indem er an den Sandsteinstufen des Eingangs stehen blieb.

»Nein. Aber kennen Sie meinen Vetter Mario van de Weyer? der wohnt hier.«

»Nein. Ich kenne ihn nicht.« Der Ton dieser Entgegnung war so scharf, drückte einen so unendlichen Abstand und so feste Entschlossenheit aus, diesen Abstand zu wahren, daß eine plötzliche Kälte zwischen ihnen entstand. Doch ebenso plötzlich verging sie wieder, und Oliver setzte hinzu:

»Ich wohne in Divinity Hall.«

»Ach, wirklich? Ist das nicht irgendwo jenseits von Memorial Hall? Von meinen Bekannten hat da nie jemand gewohnt.«

Diese entlegene Gegend bedeutete für Remingtons Begriffe nur das eine: daß der junge Mann arm war. Wie konnte jemand, der sein eigenes Ruderboot hatte und so vornehm wirkte – denn das tat Oliver trotz seiner Einfachheit – in der Dunkelheit und Verbannung von Divinity Hall leben? Auf alle Fälle tilgte diese Gedankenverbindung jede Beziehung zu Mario van de Weyer und seiner tadelnswerten Lebensweise.

»Ich weiß wohl, daß meine Wohnung weit abgelegen und altmodisch ist«, erklärte Oliver. »Nur deswegen habe ich dort noch ein Zimmer bekommen. Ich wollte allein und in Ruhe leben. Ich bin nach Harvard gekommen, um Philosophie zu studieren.«

»Hat man Sie noch nicht für die Rugby-Mannschaft gekeilt?«

»Das wird auch nicht geschehen. Ich habe Rugby ein für allemal aufgegeben. Ich will bloß etwas rudern und später vielleicht Golf spielen, nur wegen der frischen Luft und der Bewegung – um einen klaren Kopf zu behalten.«

»Und um das Lebenszentrum zu stärken«, brummte Remington und hielt ihm die Hand hin. »Wollen Sie nicht morgen um drei zum Bootshaus kommen und mit mir zusammen im Zweier rudern? Seien Sie pünktlich, damit wir ungeschoren wegkommen. Ich warne Sie: wenn Dr. Wilcox uns starten sieht, wird er uns herumkommandieren.«


 << zurück weiter >>