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2

Für Leute, in deren Köpfen noch die Musik von Rigoletto und verschwommene Bilder eines Soupers im Savoy herumspukten, kam nur der eine Sonntagszug in Betracht, der nicht zu früh am Morgen von London abfuhr. Er bummelte gemächlich durch Buckinghamshire, vorbei an High Wycombe und den Chiltern Hills. Sie blieben in ihrem Abteil erster Klasse allein, und Jim hatte sich auf seinem Polster zum Schlafen eingerichtet, während vor Olivers träumenden Augen die helle Landschaft durch den sauberen kleinen Rahmen des offenen Fensters hindurch wie eine Fuge aus grünen, zarten Harmonien abrollte, verschwenderisch in wechselndem Licht und Schatten mit Schafen, Kühen, Hecken, Gräben und ländlicher Stille.

In Oxford war weder an dem häßlichen Bahnhof, noch in seiner häßlichen Umgebung ein geeigneter Wagen zu finden; der einzige Droschkenkutscher weigerte sich, mit seinem uralten Gaul und dem wackeligen kleinen Gefährt so weit hinaus bis nach Iffley zu fahren. Jim war verärgert, weil er nun nicht großartig auftreten konnte, und brummte, daß eben nichts anderes übrig bliebe, als die Tram zu nehmen. Sie könnten in Carfax umsteigen und, da ihre Koffer glücklicherweise leicht waren, das letzte Stück Weg bis zum Pfarrhaus zu Fuß gehen. Das ließ sich nun nicht ändern; und im stillen war es ihm nicht einmal unlieb, daß diese Lösung ihm wenigstens zehn Schilling ersparte; denn wenn man auch die Eisenbahnkarten dem Doktor als Reisespesen berechnen konnte, so mußte Jim in seinem eigenen Wohnort immerhin darauf bestehen, den Gastgeber zu spielen. Übrigens ließ sich, wie er Oliver erklärte, die Stadt vom Dach des Trambahnwagens aus viel besser betrachten als aus einer geschlossenen Droschke.

Sie fuhren an mehreren Kirchen vorbei, und Jim zeigte seinem aufmerksam, aber etwas verständnislos zuhörenden jungen Freund sechs oder sieben College-Gebäude und die Türme von Saint Mary und Magdalen; Oliver fragte, wenn er etwas besonders Schönes bewundern sollte, regelmäßig, wie alt es sei, oder wie der Name geschrieben würde. Als sie endlich heiß und mit einiger Verspätung im Pfarrhaus ankamen, erfuhren sie von dem schlampigen Küchenmädchen, die ganze Familie sei beim Nachmittagsgottesdienst in der Kirche. »Komm«, sagte Jim, »wir wollen auch hingehen und die Predigt meines alten Herrn mit anhören. Er predigt immer nur sehr kurz und wird sich riesig freuen.«

Der Geistliche bemerkte sie sofort, als er bei den Worten: »Hier endet das zweite Kapitel«, aufblickte. Die erwartungsvolle Verhaltenheit, mit der die kirchliche Betonungsweise diesen Satz verklingen läßt, schien einen Augenblick sein ganzes Wesen zu erfüllen. Die Freunde waren geräuschlos durch die kleine nördliche Tür eingetreten, die im Sommer gewöhnlich offen stand; ein Abendsonnenstrahl kam mit ihnen herein und vergoldete ihre beiden blonden Köpfe, Jims eigensinnig krause Locken, die ins Kastanienbraune spielten, und Olivers von Natur mattes und schlichtes Haar, das im Augenblick jedoch von der Reise verwirrt war und das goldene Licht in sich einfing.

Der Pfarrer, ein magerer, hochgewachsener Mann mit tiefliegenden blauen Augen unter dicken, grau und buschig gewordenen Brauen, wartete ab, bis die beiden jungen Männer Platz genommen hatten. Sie ließen sich auf zwei kleinen Stühlen vor dem Taufstein nieder, wo die Sonne wieder auf sie fiel. Es schien auch, als warte der Geistliche noch auf etwas anderes – etwas, das in ihm Gestalt annehmen und ans Licht treten sollte. Schließlich faltete er seine Hände – große, rauhe Hände, denn er war sein eigener Gärtner – von neuem über dem geöffneten Buch und begann sehr gedämpft, als spräche er mit sich selbst:

»In diesem Kapitel hörten wir die Worte: Ein Engel des Herrn. Lasset uns für einen Augenblick betrachten, was mit diesen Engeln gemeint ist. Ich will nicht auf die Ansichten der Kirchenväter über die Natur der Engel eingehen. Das sind gelehrte, fromme, verehrungswürdige Theorien; aber was jedes Ding der Schöpfung – einerlei ob Engel, Mensch oder stofflicher Gegenstand – seiner eigenen Natur nach wirklich ist, das weiß mit Gewißheit nur Gott allein. Für uns ist ein Engel im wesentlichen ein Bote, wie es das griechische Wort in der Tat bekundet; und es ist des Engels Botschaft, die uns als der eigentliche Engel entgegentritt. Ich meine nun, meine lieben Freunde, alle Dinge sind Engel! Ihr dürft euch jedoch nicht jeden Engel als ein holdes, lächelndes Kind vorstellen, das heiter im Licht schwimmt und die Strahlen des Lichtes von seinen Fittichen schüttelt. Es gibt auch Engel, die ein Schwert tragen, und gefallene Engel, mit denen die Versuchung sich naht. Auch in ihnen vermögen wir die Boten des Herrn zu erkennen, freilich nicht unmittelbar, als wären die Gedanken, die sie uns einflüstern, oder die Taten, zu denen sie uns treiben, von Gott gewollt, sondern nur mittelbar, insofern als sie unter Gottes Zulassung zu uns kommen und unter gewissen Bedingungen doch den göttlichen Auftrag haben, uns durch Warnung, Leiden, Mühen oder Opfer zu Ihm zurückzuführen. Glaubt mir, es gibt nichts in der Welt, was nicht denen, die Gott aufrichtig suchen, zum Mittler werden und denen, die Ohren haben, seine Stimme zu vernehmen, als sein Orakel dienen könnte. Daß das Leid ein Sakrament der Versöhnung sein kann, wißt ihr alle aus eigener Erfahrung; doch gibt es noch düstere Engel, die ebenso unwillkommen zu uns treten und dennoch ebenso reich an Gnaden sind. Nehmen wir zum Beispiel die Wahrheit. Die Wahrheit ist ein fürchterliches Ding. Sie ist viel finsterer, viel trauriger, viel unedler, viel unmenschlicher und hohnvoller, als die meisten unter uns zugeben wollen, oder sich auch nur vorstellen können. Welche christliche Familie, welcher junge Mann, welche junge Frau, die äußerlich wohlbehütet vor jeglichem Bösen leben, würden im Angesicht der Wahrheit nicht irgend ein unschönes Geheimnis enthüllen müssen? Wir sind allzumal elende Sünder. Wir sind alle unglücklich in unserm Herzen. Und auch die Wahrheit der natürlichen Tatsachen, die Wahrheit der Wissenschaft ist uns ein Stein des Anstoßes. Wie angstvoll, wie unsicher strebt die Kirche danach, den Schatz ihres Glaubens vor dieser erbarmungslosen Sturmflut zu retten! Doch alle Wahrheit bleibt ein Engel des Herrn, sogar ein Teil des göttlichen Wesens; denn der heilige Augustinus sagt, daß Gott nicht nur gut, sondern die Güte selbst ist; nicht nur wahr, sondern die Wahrheit selbst. Wir denken nur in unserer Oberflächlichkeit, die Wahrheit könnte gefährlich sein, sie könnte das Dasein Gottes widerlegen. O, welcher Unglaube bei uns Gläubigen! Wäre die Wahrheit nicht wahrhaftig, wie es unsere Vorurteile annehmen, oder wie es unsere selbstischen Leidenschaften wünschen, warum sollte dann die Religion danach streben, dieses Vorurteil aufrechtzuerhalten und dieser verhängnisvollen Leidenschaft Vorschub zu leisten? Erhebt lieber eure Herzen und reinigt den Kelch eures Innern! Maßt euch nicht an, Gott vorzuschreiben, was Gott sein soll, oder was er tun soll. Lauft ihm entgegen, wie ein Kind dem Vater entgegenläuft; gleicht eure Wünsche seinem ewigen Ratschluß an, nehmt den Platz und die Beschaffenheit, die er euch zugeteilt hat, willig aus seiner Hand, dann wird sich eure Schande in Ruhm verwandeln, und selbst inmitten dieses irdischen Lebens und seines Elends werdet ihr unter seinen Engeln leben. Sommer und Winter, Jugend und Alter, Reichtum und Armut werden Seine Boten sein, die zwar nur einen Augenblick verweilen, aber euch in diesem einen Augenblick das Gewebe der Ewigkeit erkennen lassen. Und der Tod ist der letzte, der erhabenste Engel von allen. Mit mächtigen Fittichen eilt er ungebeten und gefürchtet herbei; denen aber, die innerlich der Welt entsagt haben, bringt er Frieden, Heilung und die geistliche Vereinigung mit den himmlischen Gütern; während er die, die nicht entsagt haben, mit dem Schwert des Zornes und des unheilvollen Untergangs schlägt.«

Das war alles, oder wenigstens alles, was Oliver behalten konnte; denn zuweilen ließ ihn gerade die Aufmerksamkeit, mit der er einem Wort nachhing, das folgende überhören; dazu zwang ihn die ganze Umgebung durch ihre einheitliche Stimmung unwiderstehlich in ihren Bann: die enge, massive, altersdunkle kleine Kirche, die paar Dutzend bescheidener Andächtiger, von denen jeder in sein eigenes Gebet vertieft schien; des Geistlichen klare, vornehme Stimme mit ihrer kirchlichen Modulierung; die geöffnete Tür, das Sonnenlicht im stillen Kirchhof draußen, wo nur ein paar Vögel in den dichten Bäumen gleichsam in den Gottesdienst mit einstimmten; und endlich Jim, der ihm zur Seite saß, Jim in einer Kirche, und auch hier keineswegs fehl am Platze.

Nach dem Gottesdienst folgte Mr. Darnley seinem bescheidenen Chor von zwei Männern und vier Knaben in die Sakristei, die nicht viel mehr war als ein Schrank, in dem das Kirchenbuch aufbewahrt wurde und die Chorhemden hingen; und nachdem er sein Chorhemd abgelegt hatte, wandte er sich verlegen zu Oliver.

»Ach ja. Da sind Sie. Das freut mich. Es hat mich gefreut, daß Sie zur Abendandacht kamen.«

Der Pfarrer war ein ganz anderer, wenn er nicht auf der Kanzel stand. Die ruhige Kraft, Leichtigkeit und Inspiration seiner Rede hatten ihn dann völlig verlassen. Er wirkte wie ein rauher, knochiger, ziemlich grober Schulmeister, der nur die alltäglichsten Gespräche führt und die alltäglichsten Dinge darin sagt. Eine kleine schwarzgekleidete Frau drückte sich unschlüssig in seiner Nähe herum. Oliver hielt sie zuerst für irgend ein armes Gemeindemitglied oder eine Beschließerin, aber es stellte sich heraus, daß es Mrs. Darnley war. Niemand kümmerte sich um sie. Jim, der seinen Vater begrüßt hatte, schien sie nicht zu beachten. Und da stand auch Rose, unverkennbar mit demselben Haar wie auf der Photographie: ein hochgewachsenes, freundlich ruhiges Kind, das sich gleich stillschweigend an Jim schmiegte und vertrauensvoll zu Oliver aufsah, als gehöre auch er zu ihrem Reich.

»Kommen Sie nur auf Ihr Zimmer«, sagte sie und nahm ihn bei der Hand, »nachher will ich Ihnen gleich den Garten zeigen. Wir hätten Ihnen eigentlich das blaue Zimmer geben müssen, weil es das hübscheste ist; aber wir dachten, Sie wollten lieber neben Jim schlafen, weil Sie doch sein bester Freund sind, und so haben wir Sie im Giebelzimmer untergebracht. Aber wir haben ein paar Sachen aus dem blauen Zimmer hineingestellt, um es netter zu machen, und ich hab alle Vasen mit Blumen gefüllt.«

Als sie vor dem Giebelzimmer angekommen waren, ließ die kleine Hausfrau seine Hand los, blieb stehen, rief den Hund zurück, der vor ihnen herlief, lächelte und schloß diskret die Tür hinter dem jungen Herrn. Er hörte ihren leichten Schritt auf der Treppe, und einen Augenblick später sah er sie drunten im Garten dem Hunde nachjagen.

»Nein wirklich, du hast ja den Choral wie eine Lerche gesungen, wahrscheinlich war's zufällig einer, den du kanntest«, bemerkte Jim, als sie zusammen wieder hinuntergingen. »Und hast du gemerkt, was der Alte gemacht hat? Er hat in aller Eile einen ganz andern Predigttext genommen, als er uns kommen sah. Ich sagte dir ja gleich, er würde entzückt sein. Die Engel, das waren du und ich – nette Engel, was? – er mußte den Organisten ein anderes Lied spielen lassen, damit es paßte.«

»Es war eine wundervolle Predigt, wirklich inspiriert.«

»So ist der Alte immer, wenn er allein ist und richtig in Schwung kommt. Zu Hause geht das natürlich nicht, Mutters wegen. Sogar Rose stört ihn etwas, denn Rose ist nicht religiös; sie ist eine kleine Heidin, ein Heimchen, eine Gartenelfe, die für ihn sorgt, aber sie glaubt kein Wort von dem, was er sagt; macht sich eher ein bißchen über ihn lustig. Sie wird über dich auch lachen, wenn sie dich philosophieren hört. Für sie sind alle Erwachsenen harmlose Idioten, wie zwitschernde Vögel. Der Alte aber versteht es nicht, mit Eleganz von seiner Kanzel herunterzusteigen; er fühlt sich in dieser Welt schrecklich unbehaglich und gehört auch wirklich gar nicht hinein. Nur in der Kirche ist er echt; bei ihm ist's genau umgekehrt wie bei allen andern Pfarrern, die ich kenne.«

Im Garten – den Rose ihm zu zeigen vergaß – fühlte sich Oliver etwas verloren. Rose, Jim und der Hund spielten und unterhielten sich miteinander, als ob er gar nicht da wäre; vielleicht erwarteten sie, daß er sich ihnen anschließen sollte, doch wußte er nicht recht, wie. Dann kam der Pfarrer aus seinem Studierzimmer und rief ihn zu sich. »Sie haben unsere Kirche von innen gesehen; nun möchte ich Ihnen noch unser Westportal zeigen. Es wird oft von Touristen photographiert. Sie sehen, es ist ein Überbleibsel aus einem rauhen Zeitalter. Die Ornamente waren damals mit Rot und Blau und Grün und hellem Braun bemalt, das muß sehr grell und heftig gewirkt haben. So wie es jetzt ist, verwittert, ausgewaschen und von der Zeit zernagt, kann seine Derbheit immerhin als Strenge und Kraft gelten. Die Zeit schmeichelt zuweilen der Vergangenheit, indem sie sie halb verwischt. Diese Architektur sollte gar nicht düster wirken, sondern prächtig; aber das vorhandene Material war rauh und die Künstler unerfahren.«

»Sie wirkt jedenfalls sehr dekorativ«, sagte Oliver, bemerkte aber, daß er im Tone Letitia Lambs sprach und wünschte, er hätte ganz geschwiegen.

»Ernste, ehrliche Arbeit«, fuhr der Pfarrer fort; »und von der Baukunst verstanden sie noch mehr als von der Ornamentik. Betrachten Sie die Gewölbe und den älteren Teil der Mauern; die sind großartig. Und das Beste daran ist der Geist; diese einfachen Männer brachten es fertig, mit so hingebungsvollem Werkeifer zum Ruhme Gottes und zum Heil der Seele zu schaffen, daß ihr Gebäude seinem ursprünglichen Zweck ununterbrochen bis heute gedient hat und wir uns mit ihnen im Glauben und im Gebet zusammenfinden können, während alles andere aus ihrem Leben mit der Zeit verschollen ist oder uns schrecklich vorkommt. Ich möchte wohl wissen, ob die großen Bauten, die sie drüben in Amerika errichten, ebenso für die Ewigkeit zu brauchen sind, und ob in tausend Jahren Ihre Wolkenkratzer noch dastehen und denselben Zweck erfüllen wie heute.«

»Die Wolkenkratzer sind nicht auf die Ewigkeit berechnet, aber wir bauen auch Universitäten.«

»Universitäten sind nicht ganz dasselbe wie Kirchen; es sind vieldeutige Institutionen. Sie werden ja die verschiedenen Colleges hier in Oxford sehen. Teilweise sind sie alt und nach der Meinung mancher Leute viel zu altmodisch in ihren Einrichtungen und Lehrmethoden; und doch wären ihre Gründer heute über sie entsetzt, weil sie nicht einfach Gott und der menschlichen Seele geweiht sind, sondern dem beruflichen Vorteil und dem Wettkampf der Eitelkeit dienen. Man lehrt wohl auch heute noch – und das ist das Gebot unseres Herrn – daß dem Nächsten dienen soviel heißt wie Gott dienen und ihn lieben. Aber das gilt nur, wenn wir im Nächsten dessen Teilhaberschaft am göttlichen Leben, sein Streben nach irgend einer Art von Vollkommenheit lieben und pflegen. Wenn wir ihn wegen seiner Schwäche lieben, weil er sich uns unterwirft, oder ihn in seiner Torheit unterstützen, dann dienen wir nur seinem Laster. Dann sind wir sein und zugleich Gottes schlimmster Feind; wir hassen seine Seele und zerstören sie.«

»Glauben Sie, daß wir alle eine Seele haben, Sir? Jim meint, er habe gar keine, sondern nur Leben.«

Mr. Darnley lachte.

»Hat Jim das nachgeplappert, um Sie damit zu verwirren? Das ist einer meiner kleinen Späße. Natürlich haben alle Menschen und selbst die Tiere und Pflanzen eine Seele. Das Leben selbst ist ein Triumph der Seele. Doch es ist eine Vermittlung nötig, um die besondere Art von Glück, dessen jede Seele fähig ist, vom Himmel herab auf die Erde zu bringen. Manchen Seelen gelingt es nicht, den Körper zu durchdringen; das Stoffliche ist zu viel für sie, und sie sterben jung oder werden krank. Andere wieder gehen in der Welt verloren. Der arme Jim! Ich sage immer zu ihm, daß er keine Seele hat, weil er kein Bedürfnis nach geistigen Dingen verspürt und unter diesem Mangel nicht zu leiden scheint; aber wenigstens erfüllt seine Seele ihre körperlichen Aufgaben wundervoll.

Die Seele kann ja zu den verschiedensten Aufgaben berufen sein. Manche Seelen sind glücklich und schön im Bereiche des Körpers, andere in der Welt, andere nur im Geist. Doch hat die Vollkommenheit des bloß körperlichen Lebens oder die Meisterschaft in den weltlichen Künsten etwas Tragisches. Das war die Tragödie der Griechen, und deswegen zittere ich auch für Jim. Ich liebe ihn zärtlich, weil er mir mitten in der trübsten und verworrensten Zeit meines Lebens geschenkt wurde; und seine Schwierigkeiten haben mir immer mehr Kummer gemacht als meine eigenen. Seine Tüchtigkeit liegt im Körperlichen, sein Reiz liegt im Körperlichen, und auch sein Glück liegt ein für allemal im Körperlichen. Dadurch aber, daß er einfach seine natürlichen Fähigkeiten übt – und was können wir gerechterweise mehr von einer freien Seele verlangen? – muß er der Welt mißfallen und den Geist vernachlässigen. Niemand kann alle Tugenden in sich vereinen. Unser Herr selbst konnte weder Soldat, noch Athlet, noch Liebhaber, noch Gatte, noch Vater sein; und das sind doch die Hauptvorzüge des natürlichen Mannes. Wir müssen wählen, was wir opfern wollen. Es kommt darauf an, daß wir mit wahrer Selbsterkenntnis wählen.

Sie, mein Freund, sind, wenn ich nicht irre, ein ἀνὴρ πνευματικός, ein geborener Mann des Geistes; ich weiß nicht, inwieweit Sie, ohne an Ihrem besseren Teil Schaden zu nehmen, Athlet, Soldat oder Liebhaber sein könnten. Jetzt, wo Sie noch so jung sind, scheint alles möglich; aber es ist nicht alles miteinander möglich. Ich fühle, daß Sie zu Höherem berufen sind. Ich sah es während der Predigt. Als ich einen Ausspruch des heiligen Augustinus oder eines andern Kirchenvaters anführte, schauten Sie auf; ein Licht erschien in Ihren Augen; Sie hatten verstanden. Nicht daß es uns leicht wird, einen Gedanken genau so nachzuerleben, wie er einst in dem Herzen eines andern Menschen aufstieg. Wie sollte uns das gelingen? Oder wenn es uns gelingt, wie könnten wir es wissen? Aber wir können immerhin im gleichen Meere schwimmen; wir können die Propheten verstehen, wie wir die Dichter verstehen, jedesmal wieder anders, indem wir nach allen Richtungen hin weiter und weiter in die göttliche Harmonie der Dinge eindringen und ihre heiligen Siegel lösen. Sie haben Verständnis, und Sie können auch singen. Das ist eine Gabe; Sie haben eine schöne Stimme, und doch liegt etwas darin, was vielleicht der Schulung widerstrebt. Es mag sein, daß Sie niemals sagen können, was Sie nicht fühlen, und deshalb nie ein Künstler werden. Ja, mein lieber Oliver, Sie sind ein ἀνὴρ πνευματικός. Es ist ein großes Vorrecht, ein tragisches Vorrecht. Denn ebenso wie der natürliche Mensch tragisch endet, weil der Geist in ihm erstickt wird, so lebt der geistige Mensch tragisch, weil sein Fleisch, sein Stolz und seine Hoffnungen frühzeitig unter den heißen Strahlen der Erkenntnis verwelken. Selbst die Kirche bietet dem Geist keine Heimstätte. Wir Gläubigen müssen untereinander duldsam gegen unsere Eingebungen sein. Wir müssen zusammen beten. Dadurch wächst wohl unsere Begeisterung, sie brennt mit heißerer Flamme, aber nur dank einer Beeinflussung durch die Sinne. Die Religion bedeutet dann nicht mehr Bekehrung und Reinigung des Herzens von Grund auf, sondern ein Erbe, das seinen Raum braucht, eine Gefühlsäußerung in der Öffentlichkeit, eine letzte menschliche Illusion, die der Geist noch von sich abschütteln muß.«

Ein zersprungenes Glöckchen läutete wütend vom Pfarrhause her. Der Geistliche seufzte.

»Ach so. Wir werden zum Abendessen gerufen.« Und als sie über den Rasen auf das Haus zugingen, murmelte er, nicht etwa klagend, sondern als sinne er über eine ewige Wahrheit nach: »Sie werden sehen, daß ich mit den Gütern dieser Welt nicht überschüttet worden bin.«

Im Eßzimmer sprach Jim mit seiner Mutter, während Rose das Futter für den Hund auf einen weißen Teller tat und ihm nicht eher erlaubte, sich darüber her zu machen, als bis sie es fein säuberlich auf eine mit Fliesen belegte Stelle des Fußbodens niedergestellt hatte.

»Nun, was gibt es heute, Mutter? Vielleicht etwas Schweinebraten?« Jim fragte es mit behaglichem Lachen.

»Immer mußt du sticheln«, brummte Mrs. Darnley, im stillen dadurch besänftigt, daß sie den Arm ihres Sohnes um ihre Hüfte spürte. »Immer mürrisch und unzufrieden, als ob ich dir nicht das Beste von allem gönnte. Und wenn die reichen Leute das wenige nicht mögen, was wir ihnen anbieten können, so sollen sie zu Hause bleiben und von ihrem goldenen Geschirr essen. Es gibt heute bei uns dasselbe wie immer: Brot und Käse genug und einen schönen, frischen Kopfsalat; und da ich die Jugend kenne, weil ich selbst ja auch mal jung gewesen bin, so gibt es noch einen Rest geräuchertes Rindfleisch; und wenn ihr erst darüber herfallt, wird wohl nichts mehr davon übrig bleiben.«

»Wir hätten vielleicht ein kleines Steak oder sowas machen können«, murmelte der Pfarrer, als tadle er sich selbst für seinen Mangel an Vorsorge.

»Du hättest auch eine ganze Hammelkeule haben können, wenn du es mir nur gesagt und mir das Geld dafür gegeben hättest. Du verlangst doch wohl nicht, daß ich die Kuh zum Metzger treibe und ein Filet für dich herausschneiden lasse? Woher sollten wir dann die Milch nehmen, die Rose trinken muß?«

Oliver fand das geräucherte Rindfleisch und den Salat ausgezeichnet und Brot mit Käse sehr sättigend, besonders da ihm Rose erlaubte, von ihrer Milch zu trinken, statt von den zahlreichen Pinten Bier, die Mrs. Darnley für die Herren bereithielt und von denen sie sich auch selber eingoß.

Nach dem Festmahl kündigte Jim an, daß Vater, da heute Sonntag sei, Rose noch etwas Hübsches aus den Apokryphen vorlesen werde, während Mutter sicher ein Schläfchen machen wolle. Oliver und er dagegen seien den ganzen Tag im Eisenbahnabteil eingeschlossen gewesen und wollten deshalb noch etwas frische Luft schnappen. Rose ging darauf zu ihrem Bruder, um ihm einen Gutenachtkuß zu geben; dann wandte sie sich zu Oliver, und nach kurzem Zögern küßte sie ihn ebenfalls. »Ich bringe Ihnen morgen früh den Tee ans Bett, wenn ich Jim seinen bringe.« Oliver murmelte: »O, danke sehr«, bat sie aber, sich keine Mühe zu machen. »Es ist keine Mühe, ich tu's gern. Ich bringe Vater sonst immer den Tee, weil er ihn so früh haben will, aber jetzt sind Ferien, und ich brauche nicht zur Schule, darum kann ich auch den für Jim und Sie machen, ganz gleich, wie spät es wird.«

Der arme Oliver erklärte ihr sehr ungern, daß er des Morgens im Bett weder Tee, noch sonst etwas zu sich nähme, aber was konnte er anderes sagen, da es doch die Wahrheit war?

Rose murmelte »O«, und schien ein wenig erstaunt und enttäuscht; und während die jungen Männer durch die Gartentür verschwanden, fragte sie sich, warum nur der liebe Gott manche Menschen so querköpfig und dumm gemacht habe.


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