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Dreiunddreißigstes Kapitel.
Meine Amazonengarde.

Herrlich und kühl war der Morgen des 2. September nach 13,3 Grad in der Nacht. Die Mücken taten, was sie konnten, um mich im Schlafe zu stören; es wäre schön gewesen, ein Moskitonetz zu besitzen; aber was schadete es, ich hatte meine Stiche weg und war immun!

Eine lärmende Musik von Trommeln, Zimbeln und Posaunen von den Tüchern des oberen Klosters in Kanam weckte mich in der Morgenfrühe, und als ich aus dem Zelte schaute, stand dort eine neue Schar Kulis und wartete auf unser Gepäck. Sie wollten zeitig aufbrechen, damit sie nicht während der heißesten Stunden des Tages zu marschieren brauchten. Nur zwei waren Männer, alle andern waren Weiber in Röcken aus grobem Gewebe und schwarzen, braunen oder grauen Westen, die Arme und Schultern bloß ließen; silberne Gehänge baumelten an ihren Ohrläppchen, Armbänder aus Messing schmückten ihre Handgelenke, und ich bewunderte ihre nackten Füße – weil sie durch scharfkantigen Schutt auf ungebahnten Pfaden wandern konnten, auf denen sogar die Pferde sich wundliefen. Aber ihre Fußsohlen sind durch fleißigen Gebrauch gegerbt und ebenso unempfindlich wie die Fußschwielen der Kamele. Mit dem Wasser des Baches von Kanam waren meine edlen Trägerinnen nie in Berührung gekommen, aber dennoch waren sie lustig, frisch und niedlich. Im Handumdrehen hängten Mütter und junge Mädchen sich das Gepäck an Stricken und Riemen auf den Rücken und verschwanden damit in Kanams schattigen Gassen.

Eine Weile später folgen wir ihren Spuren längs des Randes eines Kanals, den dichtbelaubte Walnußbäume beschatten. Segensreicher Sommer, liebliche Vegetation, wie lange habe ich solchen Reichtum nicht gesehen! Bald sind wir aus den Labyrinthen von Kanam heraus; das denkwürdige Dorf und seine malerischen, an Schwalbennester erinnernden Häuser verschwinden zwischen den Bergen, und es geht wieder abwärts, zu der über einen Bach führenden Brücke hinunter und an ihrer andern Seite nach dem Dorf Kjap hinauf. Auch an Pill und andern Dörfern vorüber ziehen wir auf unserer Straße, die noch immer schlecht ist; ich bediene mich lieber meiner eigenen Beine als der des Pferdes, umsomehr als mich gelegentlich ein gewaltiger, überhängender Felsblock zwingt, den Kopf seitwärts über einen gähnenden Abgrund hinauszubeugen. Wir sind jetzt nicht mehr so hoch über den dahineilenden Wasserwirbeln des Satledsch wie früher. Die Strömung ist hier nicht mehr so schnell, man fühlt sich ordentlich versucht, es einmal mit einem Floß auf diesem unruhigen Wasser zu probieren.

Wir sind an der scharfen Ecke, wo sich das mächtige Nebental Kirang nach dem Satledsch hinunterzieht. Die Brücke über den Nebenfluß liegt ziemlich hoch oben im Tale, und die Straße bildet daher einen spitzen Keil. Zuerst ziehen wir von der Ecke aus abwärts. Die Landschaft ist hinreißend großartig. Über uns wölben uralte Tannen ihre erfrischend duftenden Kronen, unter uns stürzen die Felswände sehr steil nach dem Kirangflusse ab, den sie uns einstweilen noch verdecken. Nur in zwei Windungen seines Bettes sieht man ihn in welßschäumenden Fällen und Stromschnellen über Blöcke und Schwellen tosen, und wir sehen, wie das reine, kalte Wasser des Kirang infolge seiner größeren Schnelligkeit und seiner gewaltigen Masse imstande ist, einen klargrünen Halbmond in den grauschmutzigen Satledsch hineinzuschieben. Talaufwärts zeigen sich Felder und Dörfer, unter ihnen Kirang. Gerade bei der festen Brücke bildet der Fluß donnernde Wasserfälle, die über riesengroße, rundgeschliffene Blöcke stürzen. Wohin man sich wendet, überall fällt der Blick auf ein bezaubernd schönes Bild. Verweilen wir einen Augenblick im Schatten eines Felsens, um einen Becher des kalten Wassers aus dem Kirang zu trinken, das der hier unten herrschenden Wärme frische Grüße von Gletschern und Firnfeldern bringt! Das Leben ist doch schön!

Hier könnte man aller seiner Pflichten vergessen, um jahrelang hier zu bleiben, wie Csoma aus Körös es getan hat. Aber ich muß weiter, den rechten Uferhang hinauf, wo der Weg durch prachtvollen Nadelholzwald führt. Hier konnte ich zu Pferde steigen. Von der Kirangbrücke an ist die Straße vorzüglich. So weit ist nämlich die von der indischen Regierung angelegte Handelsstraße nach der tibetischen Grenze fertig; auch oberhalb Kirang hatte ich an mehreren Stellen vorbereitende Wegarbeiten gesehen. Wird die tibetische Regierung auf der andern Hälfte, von der Grenze bis Gartok, diesem Beispiele folgen? Ja, wenn sie durch einen Vertrag dazu gezwungen wird; sonst nicht. Auf der tibetischen Seite sind auch viel größere Schwierigkeiten zu überwinden. Doch wie es jetzt ist, seufzt der Fremdling aus Tibet erleichtert auf, wenn er das Kirangtal hinter sich zurückläßt. Er betritt eine meisterhaft angelegte Straße, die keine lebensgefährlichen, schroffen Wände oder jähabstürzenden Böschungen duldet, sondern überall regelmäßige, allmähliche Steigung hat.

Und hier! Wieder eine Erinnerung an Englands Macht und an die Nähe der Zivilisation. Eine kleine schwarze Tafel an einem Meilenstein trägt in weißer Ölfarbe die Inschrift »Simla 165«, und um noch größere Gewißheit zu geben, verkündet ein helles Brettchen mit schwarzen Ziffern noch einmal 165! So viele englische Meilen trennen mich noch von meinem Ziel. Man betrachtet den Meilenstein mit einer gewissen Ehrfurcht; er wußte mehr als ich. Er hat 164 Kameraden, und ich muß an ihnen allen vorüber. Mit steigender Spannung beobachten die Pilger, wie die Ziffern sinken und der Abstand sich verkürzt. Noch 275 Kilometer bis Simla – das ist ja eine reine Bagatelle, wenn ich an die Wege denke, die ich zurückgelegt habe.

Wie verzaubert sitze ich träumend auf meinem Schimmel. Die ganze Luft singt, es saust und braust im Walde und in der Tiefe des Tales. Was ist denn das? Aha, meine Amazonengarde erklimmt die Höhen. Seht dort zwischen den Bäumen, wie sie in langer Reihe mit schweren, kräftigen Schritten und wiegendem Gange vorwärtsschreiten! Wie bezaubernd klingt der Gesang aus jungen, beinahe noch kindlichen Kehlen, und wie fröhlich stimmt er. Ehe wir sie eingeholt haben, sind sie stehen geblieben, um auszuruhen. Gulam und Kuntschuk, die sie begleiten, haben sich nie in ihrem Leben so gut amüsiert; sie tanzen vor Vergnügen und sind eitel Ausgelassenheit.

Doch ich will sie wieder singen hören und warte daher, bis sie ihre Schritte unter dunklen Fichten weiter lenken. Der rhythmisch klingende Gesang hallt im Walde wider und wird nicht einmal durch das Rauschen des Satledsch übertönt. Es ist, als ob man sich im Theater befinde. Und in was für einem Theater! Seht diesen Hintergrund, den das Gebirge auf der linken Seite des Satledsch bildet, seht jene Kulissen aus dunkelgrünen Nadelholzbäumen! Die Staffage ist aber doch das Beste! Und ringsum sausen linde, nach Wald duftende Lüfte, und das Rauschen des siegreichen Flusses schwebt überall zwischen den Bergen. Wir ziehen wie zu einem Feste in diesem himmlischen Himalaja dahin. Wie ungleich Tibet, dem öden, wo keine Wälder meine Straße beschatteten, keine Flüsse sich nach dem Meere sehnten und keine Frauen sangen!

Ich reite voraus. Der Gesang wird schwächer und verhallt in der Ferne. Nur dann und wann, wenn wir, ich und der Chor der Sängerinnen, uns gerade zu gleicher Zeit auf vorgeschobenen Felsenvorsprüngen befinden, sind noch einige schwache Töne zu hören. Aber jenseits der nächsten Bergecke aus Glimmerschiefer vernehme ich den Gesang nicht mehr.

Als ich in dem Dorfe Gjangring anlangte, grasten unsre Pferde und Maulesel schon auf einer Wiese, und ich ritt zu unserm ersten Bungalow, dem letzten Unterkunftshause der Tibetstraße, hinauf. Der Aufseher stellt sich breit vor die Tür und erklärt mir, daß ich ohne Erlaubnisschein aus Simla im Bungalow nicht übernachten dürfe. Einen Erlaubnisschein, wenn man aus Tibet kommt! In Totling wurden die Türen vor uns verschlossen, hier aber waren wir ja auf englischem Boden. »Aus dem Wege, Alter!« Das Schloß muß in Unordnung gewesen sein, denn es ging auf, sowie man den Drücker anfaßte, und in einer Minute hatte ich mich in einem gemütlichen Zimmer mit Bettstelle, Tisch und Stühlen häuslich eingerichtet. Der Hof, wo die Leute ihr Zelt aufschlugen, liegt wie eine Plattform über der Taltiefe, und die Aussicht über den Satledsch ist entzückend.

Unsere weiblichen Kulis legten ihre Lasten vor dem Bungalow ab und setzten sich hin, um auf ihren Lohn zu warten. Und warten mußten sie eine Weile, während ich einige von ihnen abkonterfeite. Nachher wurde ihnen ihr hübsches, fröhliches Singen noch besonders bezahlt.

Kleinpuppy brachte mich zum Lachen, als er sich mit außerordentlich großer Vorsicht anschickte, die Schwelle des Bungalowzimmers zu überschreiten. Er glaubte augenscheinlich, daß sie eine Art Brücke sei. »Das ist gewiß wieder so eine neue Teufelei«, wie Sancho Pansa in einem historischen Augenblick im »Don Quijote« sagt, der mir manchen Winterabend in Tibet verkürzt hat. Als Kleinpuppy sich jedoch überzeugt hatte, daß die Fußbodendielen nicht schwankten wie die Brücken des Satledsch, faßte er Mut und legte sich drinnen im Schatten nieder.

Am 3. September wurden meine Lasten nicht von Amazonen, sondern von Eseln getragen, ein schreiender Kontrast. Aber der Satledsch blieb uns treu und der Weg unveränderlich schön. Am andern Ufer öffnet sich das große Nebental Rangri, und im Hintergrund sehen wir Schneeberge schimmern. Oberhalb der Dörfer Morang und Risba erhebt sich zwischen den Wolken der Kailas oder Keila, wie der Name hier ausgesprochen wird, ein gewaltiger Dom aus Schnee und Eis und ein Kreis scharfer Felsenspitzen, die der Krone eines Königs ähneln.

Wir sind etwas tiefer angelangt, das Tosen des Flusses ist stärker. Hinter uns bleibt das Dorf Apek liegen, unter uns Aren; an Riberang auf dem linken Ufer und an Rarang ziehen wir vorüber. Ich verschmähe das Bungalow des letzteren, wende aber seinem Tschortenportale und seinen Manimauern meine Aufmerksamkeit zu; sie überzeugen uns, daß der Lamaismus hier noch seinen Boden behauptet. Ein herbeieilender Mann überreicht mir eine große Weintraube; die Beeren sind recht sauer, erfrischen aber doch, und die Hauptsache, es sind wirkliche Weintrauben. Die Hitze ist nicht arg; es geht ein Wind, und der Wald ist dicht; die dunkelbraunen oder grauen Stämme der Nadelholzbäume erheben sich oft zwischen großen Granit- und Glimmerschieferblöcken. Da wo infolge von Bergrutschen und des Morschwerdens des Holzwerkes die Straße beschädigt ist, sind Arbeiter mit Spitzhacken und Spaten beschäftigt, und jedesmal bitten sie um ein Scherflein für ihre Mühe zum Besten der Reisenden. Jetzt sind wir dem Satledsch ganz nahe, und sein Getöse ist geradezu betäubend; der Fluß ist größer, als ich ihn bisher gesehen habe, und schäumt überall in flockigen Stromschnellen; hier ginge man in den Tod, wenn man eine Fahrt auf einem Floß versucht.

Zwei Fußgänger in indischer Uniform treten grüßend an mich heran. Der eine trägt auf dem Schulterriemen eine Blechplatte mit der Inschrift: » His Highness the Raja of Beshahr«.

»Was wünschen Sie?« fragte ich.

»Der Tesildar von Tschini schickt uns, um Sie auf den Stationen zu bedienen und die Transporte zu besorgen.«

»Woher konnte er wissen, daß ich kam?«

»Deva Ram in Poo hat einen Eilboten geschickt.«

Und nun geht es wieder bergauf. Doch nur eine Weile. Als wir wieder zum Flusse hinabsteigen, bildet die Straße eine Doppelschleife in Form einer Acht. Tschutar-kar ist ein großes Nebental mit einem prächtigen Flusse; eine Brücke mit zwei Bogen führt hinüber. Das Tal ist zwischen lotrechten Felswänden eingesenkt; sein Gefälle ist stark, seine Rinne voller Blöcke. Der Fluß erkämpft sich daher in wildester Raserei seinen Weg und bildet eine Reihe weißschäumender Wasserfälle. Hier macht man eine Weile halt, um dem Kampf des Wassers mit dem Gestein zu betrachten. In diesem Donnergetöse erstirbt das Rauschen des Satledsch vollständig.

Jenseits der Brücke folgt wieder eine Strecke herrlichen Nadelholzwaldes, der so dicht ist, daß unter seinen Kronen Dämmerung herrscht. Nur hin und wieder dringt ein Sonnenstrahl hindurch und läßt einen hellen Granitblock wie Feuer leuchten. Am schönsten ist die Gegend jedoch an den Stellen, wo nichts anderes zu sehen ist als auf allen Seiten senkrechte Felsenwände. Hier ist die Straße in das Gestein eingesprengt, und oft bilden der Schiefer, der Gneis oder der Granit eine gewölbte Decke über meinem Scheitel. Das Gestein liegt infolge der Sprengschüsse in einem frischen Aufschluß frei; an der Außenseite gewährt eine niedrige Steinmauer mit kleinen Abflußlöchern der Straße Schutz.

In einer Talweitung am linken Ufer erscheint das Dorf Pundam mit seinen Hütten, Feldern und Hainen. Auf unserer Seite nimmt der frische, dunkelgrüne Wald an Umfang zu, und man freut sich über den starken Tannenduft. Die Straße gabelt sich; ihr rechter Arm führt zu dem bequemen Bungalow des Dorfes Pangi hinauf, wo man sich in den Liegestühlen auf dem Balkon dehnen und strecken kann und wo weiße Vandalen ihre unbekannten Namen in der Tischplatte verewigt haben. Illustrierte Zeitungen und zerlesene Romane zeugen ebenfalls von Touristenbesuchen.

Am folgenden Morgen in der Frühe lag das ganze Satledschtal in dichtem weißem Nebel, aus dem nur die nächsten Baumkronen schwach hervorschimmerten – im übrigen hätte der Balkon von Pangi ebensogut ein Luftschiff zwischen lauter Wolken sein können. Bald zerteilten sich die Dünste, die Kailasgipfel wurden wieder sichtbar, scharf durch die Morgensonne beleuchtet, mit einem türkisblauen Himmel als Hintergrund.

Eine kleine Strecke jenseits des Bungalow ziehen wir an dem Dorfe Pangi vorbei und darauf durch das wasserreiche Tal Kodschang, in welchem klappernde Mühlen und saubere Gehöfte liegen. Weiter abwärts gelangen wir nach Tschini. Während die Karawane nach Rogi weiterzieht, gehe ich hinauf, um den Missionaren, Herrn und Frau Bruske, einen Besuch zu machen und eine Weile über das Schneeland mit ihnen zu plaudern, die lange vergeblich auf eine Gelegenheit gewartet haben, nach Tibet zu reisen und Buddhas Anhängern das Evangelium zu predigen. Ich konnte sie in ihrer Hoffnung auf bessere Zeiten und auf offene Wege über die Grenze nicht bestärken. Sie beabsichtigten, ihren festen Wohnsitz aufzugeben und in den Dörfern umherzureisen, um Ansprachen an die Leute zu halten. In Tschini herrscht das ewige » Om mani padme hum« nicht unumschränkt über die Seelen der Menschen. Wir befinden uns hier in einer Gegend, wo der Lamaismus seine Macht verliert und das Hindutum siegt. Nur der vierte Teil der Bevölkerung ist lamaistisch, und es gibt hier ein Lamakloster gegen zwei Hindutempel. Mehrere neue Tschorten und Manimauern schienen einen zufälligen Aufschwung zugunsten der tibetischen Religion anzuzeigen. Das Dorf soll ein halbes Tausend Einwohner zählen, die zu einem Stamme gehören, der Kanauri heißt und in drei Sekten zerfällt, von denen jede ihre eigene Sprache hat oder jedenfalls einen scharf von den beiden andern abweichenden Dialekt sprechen soll, in den mehrere tibetische Worte ausgenommen sind.

In angenehmer Gesellschaft entflieht die Zeit schnell, und allzu früh mußte ich dem freundlichen Missionarpaare Lebewohl sagen und auf einer Straße weiterreiten, die großenteils in senkrechte Felsenwände eingesprengt ist und eine mit Zinnen versehene Brustwehr hat. Es ist nicht mehr weit bis Rogi, in dessen Bungalow ich mich häuslich niederlasse. Der Lagerplatz trägt die Nummer 490; nur zehn Tagereisen trennen uns noch von Simla! Da wäre es doch Pech, wenn mich noch der tolle Hund bisse, der die Straßen dieser Gegend, nach einem warnenden » Cave canem!« auf einem angenagelten Papierfetzen zu schließen, unsicher macht.

Wir sind hier in 2850 Meter Höhe. Das nächtliche Minimum ging auf 14,3 Grad herunter, und die Luft ist hier frischer, als sie es höher oben gewesen war. Noch sehen wir die Gipfel des Kailas, die teilweise in dichte Wolkenmäntel gehüllt sind. Granit umgibt uns, und auch schwarzer, nach Norden einfallender Glimmerschiefer.

Ich schreibe den 5. September. Wieder erfüllt undurchdringlicher milchweißer Nebel das Tal, aber bereits um 9 Uhr ist er größtenteils verschwunden und hat nur dünne Fetzen leichter, luftiger Wölkchen zurückgelassen. Der Wald wird lichter, Sie Straße führt durch Gegenden mit nacktem Gestein, der Satledsch ist nicht sichtbar, aber sein geheimnisvoll Berg und Tal umschwebendes Rauschen hört man immer. Ich muß mich bezwingen, um einen Ausruf zurückzuhalten, als wir an der Wegecke stehen, wo die unbeschreiblich großartige Perspektive des Flußtals wieder sichtbar wird. Die Straße wird mit jedem neuen Tag, der die Kämme der Berge vergoldet, immer schöner. Seht nur auf der andern Seite jenes wilde Nebental Bosba-garang, dessen mächtiger Fluß sich dem Satledsch auf Gnade und Ungnade ergibt. Der Hauptfluß wächst mit jedem neuen Wasseropfer, dessen Wellen sich mit den seinen vermischen. Hört ihn nur tosen. Seht, wie er arbeitet, um immer tiefer durch den Leib des Himalaja zu schneiden. Bedenkt die Wucht dieser Wassermasse und erinnert euch daran, daß sie in beständiger Bewegung ist und Blöcke und Geröll durch das Bett hinabwälzt. Da ist es kein Wunder, daß das Tal so tief ist und daß die Landschaft die unser Auge entzückenden, großzügigen und wildzerklüfteten Formen angenommen hat (Abb. 159, 161).

159. Himalajalandschaft. (S. 371.)

161. Aus den Bergen des Himalaja. (S. 371.)

In einem kleinen, abschüssigen Nebental mit einem munter plätschernden Bache begegnen wir einer Mauleselkarawane, deren Lasten nur einem weißen Manne gehören können. Dort naht er auch schon, der Besitzer, zu Fuß, in sommerlich leichtem Scoutanzug, einen weißen indischen Helm auf dem Kopfe. Ich steige natürlich ab, und wir begrüßen einander. Es ist Oberstleutnant W. W. Norman vom 22. Kavallerieregiment des Grenzkorps, mit welchen! zu reden ich die Ehre hatte. Wir verplauderten wohl eine Stunde im Schatten, ehe wir, jeder in seiner Richtung, weiterzogen.

Wir sind wieder tiefer gelangt, und das Getöse des Flusses nimmt an Kraft zu. Aha, es kommt ein neues Nebental, die tiefe Rinne des Jula-garang, der sich mit rasender Gewalt in das anstehende Gestein eingeschnitten hat. Jenseits seiner Brücke geht es wieder bergauf, Zum Bungalow des Dorfes Urni hinauf. Ich frage mich, ob auf der ganzen Erde wohl ein Lagerplatz schöner liegen könne als dieser, der über dem Tale des Satledsch schwebt und eine entzückende Aussicht über den riesenhaften Korridor flußaufwärts beherrscht. Man hat die Stationshäuser absichtlich an den schönsten Punkten erbaut. Dadurch werden Touristen aus Simla ins Gebirge gelockt.

Auch in Urni bot die Atmosphäre ein eigentümliches Schauspiel. Das Tal füllte sich plötzlich mit weißen Nebeldünsten, welche die ganze Umgegend vollständig verhüllten und nicht einmal durch den dichten Regen zerteilt wurden, der anderthalb Stunden lang vom Himmel herabrieselte. Doch als der Regen aufgehört hatte, fegte eine leichte Brise den Nebel schichtweise weg, und weiße Wolkenfetzen kamen wie Drachen einhergesegelt, während andere in Glocken- und Ballform sich langsam wie Ballons erhoben. Die Taltiefe blieb noch immer mit Dunstwolken angefüllt. Das Ganze war im höchsten Grade verwirrend und seltsam. Ein Milchmeer, aus welchem Inseln herauszugucken schienen. Die Luft, das Wasser, die Erde, alles lebt im Himalaja! Im Herzen Tibets hat nur die Luft Leben, und das Wasser wird nur dann aus seiner starren Ruhe erweckt, wenn der Sturmwind über die Seen saust und die Brandung ihre melancholischen Lieder gegen das Ufer rauscht.

Der nächste Meilenstein verkündet, daß wir noch 126 englische Meilen zurückzulegen haben. Wir sind 2400 Meter über dem Meer, sagt der Höhenmesser. Und das Minimumthermomeier behauptet, daß wir in der Nacht auf den 6. September 16,4 Grad gehabt haben.

Nun geht es wieder abwärts, und nach zwei Stunden sind wir kaum zwanzig Meter über dem Flusse, dessen Getöse jetzt überwältigend ist.

»Wie heißt dieser Fluß?« frage ich den Führer.

»Ganga«, erwidert er.

»Nicht Langtschen-kamba?«

»Nein, diesen Namen habe ich noch nie gehört.« Von der Grenze an hört die tibetische Benennung auf. Die Antwort des Führers könnte wie eine neue Verwechslung des Satledsch mit dem Ganges klingen, aber »Ganga« bedeutet einfach »der Fluß«.

Unser Weg geht am Ufer entlang. An einer Stelle sind drei ungeheure Felsenblöcke in den Fluß hinabgestürzt, und zwischen ihnen strömt das Wasser wie durch ein eigenartiges Tor. Auch längs des linken Ufers, wo ein kleines, tief eingesägtes Tal, das Ramni-kar, einmündet, zieht sich ein Pfad hin, der mehr als bedenklich aussieht.

Der Gneis steht in jähen, dem Flusse zugekehrten Felswänden an, und immer öfter liegen auf dem Bettgrund gewaltige Blöcke, gleich Warnungszeichen vor der Gefahr, die Wanderern und Karawanen dort stets droht. Indessen sieht man an ihrer Gestalt, daß sie nicht erst kürzlich unten angekommen sind. Das Wasser hat sie benagt, bis es sie rundgeschliffen hat, und ein geduldiger Wasserstrahl hat an ihren Seiten Schalen und Vertiefungen, glatte Flächen oder geschweifte Rücken ausgehöhlt – gutta cavat lapidem! Es ist ihr Schicksal, daß sie mit der Zeit vernichtet und durch neue Blöcke ersetzt werden. Rings um sie her tanzt das Wasser in schäumenden Wellen, die Sprühtropfensträuße spritzen in zischenden Kaskaden durch enge Öffnungen, und über einigen Schwellen bilden sich kleine Wasserfälle in blanken Glocken, die sich beim Hinabgleiten in schäumende Strudel und kochende Hexenkessel auflösen. Hier dürfte man es nicht mit einem Floß versuchen. Es würde hier im Nu zersplittern, wäre es auch noch so stark gebaut.

Eine neue Überraschung wartet meiner an einer Stelle, wo die Bergwand senkrecht oder schwach überhängend zum Flusse abstürzt. Das Einsprengen einer Galerie in ihre Seiten wäre zu kostspielig geworden, da die Strecke an hundert Meter lang ist. Man hat sich damit begnügt, starke Eisenkrampen in der Felswand zu befestigen und eine offene Brücke mit einem Geländer an der Außenseite darüber zu legen (Abb. 160). Die Höhe dieser Brücke über dem Flusse mag vierzig Meter betragen, und wenn man sich über die Brüstung neigt, so hat man den Satledsch gerade unter sich. Hier ist die Aussicht prachtvoll, beinahe beklemmend.

160. Straße in der Satledschschlucht. (S. 373.)

Jenseits der an der Bergwand klebenden Masse drängt sich das Tal zusammen, obgleich alle Maße kolossaler Art sind. Grotten und Riesentöpfe, die das Wasser des Flusses einst ausgehöhlt hat, gähnen trocken und leer auf beiden Seiten des Tales und verkünden, wie tief sich der Fluß, nachdem er sie gebildet gehabt, in die Erde eingeschnitten hat.

Wieder ertönt vor uns ein donnerähnliches Rauschen. Das Nebental Pabe-kar läßt seinen großen Fluß in den Satledsch fluten. Ein stattlicher, weißer Wasserfall tost oberhalb der über den Pabe führenden Brücke herab. Diese Brücke verdirbt das Landschaftsbild nicht. Sie ruht aus natürlichen Pfeilern und Steinmauern, auf Blöcken, die in das Bett hinabgestürzt sind. Von Erstaunen und Bewunderung ergriffen, bleibe ich stehen und opfere zwei der letzten Kupfermünzen.

Die nächste Überraschung bietet die prächtige Wangtu-Brücke, die, von zehn in den Felsen verankerten Stahldrahtkabeln getragen, ihren soliden Bogen über den Satledsch spannt. So tief wie hier (1634 Meter) haben wir uns lange nicht befunden; wir sind nur zwei Meter über dem Flusse. Aber die Freude dauert nicht lange, denn am linken Ufer schlängelt der Pfad sich wieder zu den Höhen hinauf, wo mich das Unterkunftshaus des Dorfes Ratschar erwartete.

Eines meiner Pferde aus Bongba rastete mit seinem Führer an einer Biegung des Weges. Dort stand es auf zitternden Beinen und wieherte freundlich und froh, als es seinen weißen Reisegefährten und seinen Landsmann vorbeikommen sah. Doch es erblickte mich zum letztenmal, und sein Wiehern war ein Abschiedsgruß. Weshalb blieb es mitten im glühenden Sonnenbrand stehen, da zwischen ihm und dem dichten Walde mit seinem kühlen Schatten nur noch eine englische Meile lag? Es konnte nicht weiter, es hatte ausgedient. Seinen Blick werden bald andere Schatten verdunkeln, dichtere als die des Waldes!


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