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Nun weiden meine Pferde und Maulesel im Lager 236 in dem spärlichen Grase, das an der Indusquelle wächst. Der Steinmann, den ich an dieser bedeutungsvollen Stelle errichtet hatte, stand auf einer Terrasse von weißem, porösem Kalkstein (Abb. 1). Rechts unterhalb der Terrasse entspringen mehrere Wasseradern, die den Quellarm des Indus bilden.
1. Die Indusquelle. (S. 1.)
Skizze des Verfassers.
Klangvoll lallt der neugeborene Fluß zwischen den Steinen seines Bettes, und ich höre ihn vor meinem Zelte wie die Orgeltöne einer klassischen Frühmesse. In steigendem Rhythmus wird sein Gesang auf dem Wege durch den Himalaja zu dröhnendem Donner anschwellen, aber immer bleibt es dieselbe Melodie. Bei den Tönen der Wellen des Indus siegten einst die Mazedonier über die Völker des Ostens!
Mit seinen eisernen Pflöcken ist mein Zelt in einem Boden verankert, auf den noch nie ein Europäer seinen Fuß gesetzt hat. Ich bin stolz darauf, der erste an der Indusquelle zu sein, aber auch demütig dankbar. Von diesem Punkte aus, wo der Fluß dem Schoße der Erde entspringt, eilen die wachsenden Wassermassen ihren Weg nach dem Meere hinab. Die Höhe ist schwindelerregend. Ich raste 5165 Meter über dem Spiegel des Ozeans. Ein Eiffelturm auf dem Gipfel des Montblanc! Nicht allein der ewige Fluß – nein, nahezu die ganze Erde liegt zu meinen Füßen. Zum viertenmal habe ich nun den Transhimalaja überschritten, und endlich ist es mir gelungen, an das erwünschte Ziel vorzudringen.
Über die Indusquelle wußten die Geographen des Altertums, Griechen und Römer, und auch die Araber nichts. Das Mittelalter kümmerte sich wenig darum. Der erste Europäer, der Indien besuchte, hatte recht verschwommene Vorstellungen über die Herkunft des Flusses. Seit dem Tage, an welchem der britische Löwe zuerst das Land der Hindus mit seinen Krallen packte, ist die Wiege des Indus friedlos bald hierhin, bald dorthin zwischen den Bergen verlegt worden. Schließlich sandten englische Offiziere eingeborene Späher aus, um sie auszukundschaften. Diese fanden den Quellarm, aber nicht die Quelle. Und jetzt lauschte ich ihrem eintönigen Rauschen!
Ich hatte nur fünf meiner besten Leute aus Ladak bei mir. Sie hatten mich auf dem an Stürmen reichen Zuge durch ganz Tibet begleitet, sie hatten einen schneidend kalten Winter ertragen und den Transhimalaja auf unbekannten Pässen besiegt; sie waren von Andacht ergriffen gewesen, als der Tempelgesang in den Klosterhöfen von Taschi-lunpo widerhallte, und sie hatten die Ufer des heiligen Sees besucht und hatten auf dem Gipfel des Kailas ihre Blicke zu dem Paradiese Siwas emporgesandt.
Ich sprach mit meinen Leuten dschaggataitürkisch, im Tibetischen war Rabsang mein Dolmetscher. Tundup Sonam hatte unsere Flinten in seiner Obhut, und Adul rührte in den Töpfen, die über dem Küchenfeuer brodelten.
Ein glückliches Geschick hatte mir einen tibetischen Nomaden namens Pema Tense in den Weg geführt (Abb. 3). Angelockt durch die verführerische Vergütung, die in blanken Rupien in meiner Hand klimperte, hatte er seine Kameraden laufen lassen und mir seine Dienste auf dem Wege nach Nordosten durch unbekanntes Land angeboten. Von ihm mietete ich acht Schafe, deren Gerstenlasten ich kaufte. So würden unsere eigenen Lasttiere nicht über Gebühr beladen werden und konnten doch hin und wieder eine gute Mahlzeit erhalten, in einem Lande, das nackt und kahl ist wie nach der Sündflut.
3. Pema Tense, mein Führer zur Indusquelle und nach Jumba-matsen. (S. 2.)
Skizze des Verfassers.
Am Morgen des 11. September 1907 brachen wir auf, und wieder klapperten die Hufe auf dem hartgefrorenen Boden. Die Temperatur war während der Nacht auf 11,5 Grad Kälte heruntergegangen. In Tibet ist der Winter ein Gast, der frühzeitig einkehrt und lange bleibt. Der Himmel war rein und hellblau; die Regenzeit, die wir kaum verspürt hatten, war jetzt vorüber. Aber dennoch heulten und klagten die Winde des Südwestmonsuns über dem Hochland, und da, wo der Boden locker war, wirbelte der Staub hinter den Hufen der Pferde auf.
Flach und offen liegt das Land vor uns da. Es ist die » Nordebene«, das Tschang-tang der Tibeter, das Hochplateau mit seinen flachen Bodenformen. Hinter uns erhebt sich der Transhimalaja mit wilden, schroffen Felsen. Das Tal, dem wir folgen, ist breit und zwischen hohen, ungleichmäßigen Bergen eingeschlossen. Der Bokar-tsangpo,einer der Quellbäche des Indus, gleitet lautlos zwischen seinen eisumsäumten Ufern hin. Sein Wasser ist kalt und kristallklar; man sieht ihm an, daß es aus Schneefeldern und Quellen und nicht von Gletschern stammt.
In einer Erweiterung zwischen den Bergen zur Linken unseres Weges glänzen weiße Salzringe um den kleinen sterbenden See Dschekung-tso herum. Seinen Namen trägt auch die Paßschwelle, zu der der Weg in einer Schlucht zwischen nackten, verwitterten Felsen hinaufführt. Der Bokar-tsangpo ist hinter uns zurückgeblieben, aber in Ostsüdosten sehen wir die bläulichen Höhen, deren dünne Schneefelder der Bach zu seinen Ahnen zählt.
Auch jenseits des Passes befinden wir uns noch immer im Flußgebiete des Indus; denn das Bächlein, das sich zwischen schmalen Wülsten gelbgewordenen Grases das Lamo-latse-Tal hinabschlängelt, vereinigt sich mit dem Bokar-tsangpo.
Pfeifend und singend watschelt Pema Tense hinter seinen acht Schafen her und ist immer bereit, mir die Aufklärungen zu geben, die ich von ihm verlange.
»Wie heißt dieser Platz?« frage ich an einem Punkte, wo sich eine mit Manisteinen bedeckte Reihe Steinmale über den Weg hinzieht (Abb. 2).
2. Manimauer. (S. 3.)
Skizze des Verfassers.
»Schantse gong«, antwortet er. »Hier begrüßen die Pilger die Götter des Kang-rinpotsche, denn von hier aus sieht man zuerst die eigentliche Spitze des heiligen Berges.« Diese Geschichte hatte sich Pema offenbar von jemand aufbinden lassen; nicht ein Schimmer des Berges ist von den Steinmalen aus zu sehen!
Durch das gelbe Moos, die einzige Vegetation, die wir sehen, rieseln noch einige Rinnsale dem Lamo-latse-Bach zu. Ich erwähne ihrer nur, weil das östlichste Rinnsal vielleicht als die eigentliche Quelle des Indus anzusehen ist.
Wieder stellt sich uns ein Hindernis in den Weg, und steil führt der Pfad zu dem in einen Kamm aus Quarzporphyr eingesenkten Passe Lamo-latse hinauf. Hier ist die Wasserscheide des Indus. Im Osten dehnt sich das Hochland aus, das keinen Abfluß nach dem Meere hin hat. Wir befinden uns jetzt in 5426 Meter Höhe. Die Paßhöhe zieren zwei Steinmale, die mit Yakhörnern und Lumpen bedeckt sind, den Opfergaben frommer, abergläubischer Pilger. Die heiligen sechs Silben sind mit schwarzer Farbe auf bunte Wimpel gezeichnet, und wenn der peitschende Wind sie flattern und klatschen läßt, glaubt man ein vielstimmiges » Om mani padme hum« zu hören, das der Wind über das öde Hochland hinträgt, damit es den Scharen der Pilger Segen und Wohlfahrt bringe.
Ja, hier droben sauste der Sturmwind tüchtig. Man mußte sich mit dem Rücken nach dem Wind stellen, um nicht beim Ablesen der Instrumente weggeweht zu werden. Und welche Aussicht nach Ostnordosten hin! Aber man glaube ja nicht, daß sie schön sei! Verzweifelt öde ist sie, beinahe unheimlich! Ich fühle mich so vereinsamt und verloren wie inmitten des Meeres, eines versteinerten Meeres, dessen glockenförmige Dünungen in meiner Nähe schwarz und rot schillern und in weiterer Entfernung in Gelb, Grün und Violett übergehen. Ich selbst glaube auf einem Wellenkamme zu stehen, von dessen Höhe mein Blick alle die andern Bodenwellen bestreicht. Ein Bild der Unendlichkeit! Jahr und Tag müßte ich hier umherziehen, um alle diese Einzelheiten auf meinen Kartenblättern wiedergeben zu können! Hier beherrscht man eine unendlich große Scholle der Erdrinde mit einem einzigen Blick. O wie öde, kalt und einsam! Keine Menschen, keine Tiere, keine Pflanzen! Aber die Sonne leuchtet über der Erde, und der Wind klagt zwischen den Felsen. Kein anderes Zeichen des Lebens gibt es hier.
Es ist schön, nach einem solchen Tage zu lagern (Lager 237). Man kann die Zelte nicht schnell genug aufschlagen und darin Schutz vor dem Sturme suchen, der draußen wie ein scharfer Besen über den Boden fegt. Die Luft ist trotzdem klar. Denn von diesem Boden, den der Wind Millionen von Jahren hindurch poliert hat, gibt es nichts Loses wegzufegen. Vergeblich spähen wir nach einer gelblichgrünen Schattierung aus, die Weidegrund sein könnte. Dafür wird eines der Schafe von seiner Gerstenlast befreit.
Wenn man schon um 2 Uhr Lager schlägt, wird der Nachmittag lang, und die Stunden der Einsamkeit wollen gar kein Ende nehmen. Ich trage die Beschreibung des Stückchens Erde, das ich seit dem Aufgang der Sonne kennen gelernt habe, in mein Tagebuch ein. Die Gesteinsproben, die ich mit dem Geologenhammer aus den Bergen genommen habe, werden mit Nummern versehen und in Papier eingewickelt. Und dann muß mir Pema Tense eine Weile Gesellschaft leisten.
»Wie heißt dieses Tal?« frage ich ihn.
»Es heißt Lamo-latse-lungpe-do und mündet nach drei Tagereisen in eine große Ebene.«
»Wo ist deine Heimat, Pema?«
»Mein Zelt steht in Gertse, Herr.«
»Wie weit ist es dorthin?«
»O, wohl fünfzehn Tagemärsche. Wir rechnen von Zumba-matsen nach Gertse elf Tagereisen.«
»Gibt es in Gertse viele Nomaden?«
»Meine Stammesgenossen lagern in zwei- bis dreihundert schwarzen Zelten, und wir besitzen große Schafherden; sie sind unser einziger Reichtum.«
»Erzähle mir ein wenig von dem Ertrag, den ihr von eueren Schafen erzielt.«
»Nun, sehen Sie, einige Nomaden scheren selber ihre Schafe in Gertse und befördern die Wolle dreizehn Tagereisen weit auf Yaks nach Tok-dschalung, wo sich Kaufleute aus Ladak und Hindostan zur Handelsmesse einstellen. Andere lassen die Schafe ihre Wolle zu Markte tragen und sie dort von den Käufern scheren. Am besten stehen sich jedoch die Nomaden, die Salz aus dem Bette ausgetrockneter Seen brechen, ihre Schafe mit den Salzstücken beladen und im Hochsommer den weiten Weg auf die Messe in Gyanima und nach dem Ufer des Tso-mavang wandern, wo die Schafe geschoren werden. Denn sie verdienen sowohl an dem Salz wie an der Wolle. Und wenn sie dann wieder heimwandern, sind die Schafe mit der Gerste beladen, welche die Nomaden sich eingetauscht haben. Eine solche Handelsreise hin und zurück nimmt den größten Teil des Sommers in Anspruch. Die Schafe grasen unterwegs, und wir Nomaden aus Gertse schonen unser eigenes Gras für den Winter.«
Das Goldfeld Tok-dschalung ist mit seinen 4980 Meter Höhe einer der höchsten ständig bewohnten Plätze der Erde. Pema Tense war oft dort gewesen und er erzählte mir, daß um die Gruben herum zur Sommerszeit dreihundert Zelte aus der Erde zu wachsen pflegten, weil dann Goldgräber aus Lhasa und andern Orten dorthin kämen. Während des Winters ständen dort nur einige dreißig Zelte. Es sei schneidend kalt, und manchmal sause ein Schneetreiben mit feinem Pulverschnee über die weiten Flächen hin.
Pema Tense guckte durch die Zeltöffnung ins Freie. Als er sah, daß die Dämmerung sich auf die Erde senkte, stand er auf und ging hinaus, um seine Schafe zu suchen und sie für die Nacht bei den Zelten anzubinden. Nachdem er am Lagerfeuer der Ladakis noch eine Stunde verplaudert hatte, rollte er sich in seinem Pelze wie ein Igel zusammen und versank in festen Schlaf. Er hatte mir ein für allemal gesagt, daß er spurlos zu verschwinden gedenke, sobald uns Wanderer begegneten oder wir ein Zelt erblickten. Denn erwische man ihn dabei, daß er mit Fremdlingen umherziehe und ihnen den Weg in das verbotene Land zeige, so werde er so gewiß, wie zwei mal zwei vier sei, enthauptet werden. Daher müsse er jeden Abend seine Rupien ausgezahlt erhalten; er bekam sie auch stets ohne jeden Abzug.
Der Sturm leistete uns die ganze Nacht Gesellschaft. Er ist recht lästig, dieser ewige Wind, der nach Pema Tenses Behauptung noch volle acht Monate anhalten wird! Das dünne Zelttuch klatscht und schlägt wie ein Segel, es pfeift und ächzt in seinen Tauen, und kalte Zugluft zieht auf dem Boden hin, wo ich liege, in Pelze und Filzdecken eingewickelt. Die Temperatur sank auf 7,7 Grad Kälte, aber schon um 7 Uhr hatten wir 4,6 Grad Wärme.
Ich schlüpfe schnell in die Kleider. Kaum bin ich fertig, tritt Adul mit dem Frühstück herein, das aus zwei Rückenwirbeln des zuletzt erlegten Wildschafes, frischem Brot und Tee besteht. Draußen beschlagen die Ladakis mein weißes Reitpferd, das treue Tier, das mich viele tausend Kilometer weit durch das öde Tibet getragen hat. In diesem schwierigen Gelände, das aus feinem, dicht gepacktem Schutt besteht, werden die Pferde hufkrank und müssen sorgfältig behandelt werden.
Man sehnt sich aus einer Gegend fort, die nichts anderes als Wasser und Wind zu bieten hat. Der Pfad schlängelt sich deutlich erkennbar wie ein helleres Band hin. Zahllose Menschen und Tiere haben ihn ausgetreten und in den Boden eingestampft. Aus Gertse, Senkor, Jumba-matsen und andern Gegenden im Herzen Tibets sind die Pilger nach dem heiligen Berge und dem wundertätigen See gewandert. Hier und dort sieht man Spuren ihrer Lager, eine vom Feuer geschwärzte Felsplatte und drei Steine, zwischen denen blaue Flammen über Yakdung geflackert und das Wasser in einem Kessel zum Kochen gebracht haben.
Eine Stunde nach der andern schreitet unsere kleine Gesellschaft vorwärts. Selten erregt etwas Ungewöhnliches unsere Aufmerksamkeit. Dort liegt der gebleichte Schädel eines Wildschafes, des Ovis Ammon, mit seinen schweren, schöngewundenen Hörnern. Das Tal mündet in eine Ebene aus, und wir wenden uns von dem Bache ab, der im Norden verschwindet. Sein Wasser rieselte melodisch unter einer dünnen Eishaut. Eine kleine Herde von Wildeseln oder Kiangs tummelte sich auf der Ebene, räumte aber das Feld, als wir unsere Zelte im Lager 238 an einer richtigen Mauer aus trocknem Yakdung aufschlugen (Abb. 4). Die Nomaden, die dieses Feuerungsmaterial gesammelt hatten und nun in irgendeiner andern Gegend ihre Herden weideten, werden bei ihrer Rückkehr sicherlich sehr verwundert sein, zu finden, daß ihr Feuerungsvorrat zum größten Teil verschwunden war. Denn wenn wir hier kein anderes Vergnügen haben konnten, so wollten wir uns wenigstens am Abend an großen lodernden Feuern erfreuen.
4. Augenblicksbilder aus dem Lager. (S. 6.)
Skizzen des Verfassers.
Der folgende Tagemarsch führt über einen kleinen Porphyrpaß; auf seiner andern Seite geleitet uns Pema Tense durch ein tief eingeschnittenes Tal zwischen wilden, verwitterten Felswänden, dessen Boden eine hohe Schicht scharfkantigen Schuttes bedeckt. Gelegentlich zeigt sich ein kleiner Fleck gelben Grases, dessen Halme hart und spitz sind wie Nähnadeln. In zwei geschützten Schluchten kämpften einige behaarte, zottige Brennnesseln um ihr Dasein. Im übrigen ist das Land überall grauenhaft steril, ausgedörrt und wüst.
Jenseits einer zweiten Schwelle, die aus Kalkstein bestand, begegneten wir endlich einem einsamen Wanderer.
»Woher kommst du?« fragte ihn Rabsang.
»Aus Jumba-matsen«, erwiderte er kurz, seine Schritte beschleunigend.
»Wohin gehst du?«
»Nach einem Zelte nicht weit von hier.«
»Was hast du da zu tun?«
»Ich habe dort meinen einen Stiefel vergessen«, antwortete er und eilte so schnell wie möglich weiter. Entschieden ein zerstreuter Herr! Pema Tense glaubte, daß der Mann zu einer Räuberbande gehöre.
Ein langsam ansteigender Pfad führt zu dem Passe Tsalam-ngopta-la (5078 Meter) hinauf, den zwei Steinmale und die gewöhnlichen Gebete zieren. Die Aussicht zeigt rings um den Horizont nirgends etwas Neues. Noch immer nach allen Seiten hin dasselbe öde Land. Keine schwarzen Zelte, keine Herden. Sechs Tage sind wir nun nordostwärts gezogen, und nur ein einziger Wanderer ist uns begegnet.
Hier laufen wir wenigstens nicht Gefahr, durch gebieterische Gouverneure und Milizaufgebot angehalten zu werden. Wir fühlen uns selbst als die Herren des Landes. Hätte ich nur eine stärkere Karawane, mehr Leute und mehr Lebensmittel, so könnte ich ungehindert noch sehr weit nach Osten ziehen. Es liegt ein seltsamer Reiz in den verbotenen Wegen mit ihren Abenteuern und ihrer Spannung. Doch das Ziel dieses Ausfluges, die Indusquelle, ist erreicht, und die Hauptkarawane erwartet uns in Gartok. Nun gut, mag sie warten! Noch zwei Tagereisen weit wollen wir, da alles so gut geht, nach Nordosten vorzudringen versuchen. Gemächlich ziehen wir die steilen Abhänge des Passes hinunter und bereiten uns in der Gegend Gjambotsche im Lager 239 auf die kommende Nacht vor.
Beim Aufbruch am 14. September machte ich mir klar, daß es meine nächste Aufgabe sein müsse, das Zelt des Häuptlings von Jumba-matsen aufzusuchen, der nach Pema Tenses Ansicht ganz in der Nähe weilte. Jeder Hügel, der eine weite Aussicht zu bieten schien, wurde von einem unserer Gesellschaft bestiegen. Manchmal glaubten wir, fern im Nordosten schwarze Zelte zu erblicken. Doch das Fernglas verwandelte sie schnell wieder in Schutthaufen oder Ringmauern, welche die Nomaden als Schafhürden benutzen. Das einzige, was wir entdeckten, war der kleine See Njanda-nakbo-tso.
Seltsames Land! Die Gebirge bilden keine fortlaufenden Ketten, sie erheben sich in Gestalt runder Wecken aus Verwitterungsschutt oder als steile Höcker aus anstehendem Gestein, scheinbar ohne irgendwelche Ordnung. Sie schillern gelb und rot, violett, grau und schwarz. Die Erdoberfläche ist bunt, aber die Farben sind gedämpft und vornehm.
Die Bevölkerung des Landes scheint vor uns geflohen zu sein. Aber gerade heute zeigen sich doch menschliche Spuren. Der Weg zieht an zwölf Manimauern vorbei, deren Steine ihr ewiges » Om mani padme hum« rufen. Um einen offenen Tümpel herum sind vier solcher Opfermale errichtet. Auch das Tierleben kündet glücklichere Gegenden an. In dem Gerölle eines Abhangs rief ein Rebhühnervolk, und fünf von den Tieren wurden eine willkommene Verstärkung unseres Proviants. Sie wurden sofort gerupft, und ihre Daunen und Federn wirbelten davon wie vom Winde fortgetragener Rauch. Die Eingeweide wurden während des Marsches herausgenommen, und die zusammengebundenen Vögel auf dem Rücken des weißen Maulesels befestigt, wo schon der Kopf eines an der Indusquelle geschossenen Wildschafes thronte, der bei jedem Schritte des Maulesels nickte. Auch Wildesel traten jetzt häufiger auf als bisher.
Wieder wird die Aussicht nach vorn durch einen kleinen Landrücken versperrt, an dessen Fuß das Gras um eine Quelle herum üppiger steht, als wir es bisher gesehen haben. Eine lange, gut erhaltene Manimauer zieht sich den Abhang hinauf; nicht weit davon zeigen sich wohl ein Dutzend Steinmale, die in einer Reihe stehen. Hier muß es Menschen geben! In gespannter Erwartung eilen wir zum Kamme hinauf, auf dessen anderer Seite wir schwarze Zelte zu erblicken hoffen. Aber nicht einmal das Fernglas konnte einen einzigen Tibeter entdecken. Nur Wildesel irrten auf der Ebene umher, an einem Abhang liefen zwei Hasen, und einige blauschwarze Raben kreisten gemächlich über unsern Häuptern. Im übrigen breitete sich, soweit der Blick reichte, die Wüste des Hochlandes schweigend und öde vor uns aus, und im Hintergrund erglänzte der kleine See.
Enttäuscht ziehen wir wieder abwärts. Wir nähern uns dem Seebecken, die Luft wird milder; wenn nicht ein so greulicher Wind wehte, könnten wir uns hier noch eines letzten Abschiedsgrußes des entschwundenen Sommers erfreuen.
Nach einer Weile wird die Wüstenei durch 500 Schafe belebt, die in derselben Richtung wie wir weit vor uns trippeln. Aha, das sind unsere Freunde von Singi-buk, Pema Tenses Kameraden, und ihre Karawane. Sie sind eine andere Straße gezogen als wir, und nun folgen wir ihrer Spur. Gertse ist ihr Ziel. Die Schafe tragen kleine Gerstenlasten, welche die Hirten gegen das billige Salzgeld eingetauscht haben, das sie dem Boden entnommen hatten.
Jetzt sind wir an der Ufersteppe des Sees angelangt, wo Heuschrecken knarrend die Luft durchschneiden und Eidechsen lautlos über den Sand huschen. An einem Abhang am andern Ufer erblicken wir 15 Manimauern. Erstaunt darüber, sie so weit von der Straße aufgestapelt zu sehen, frage ich Pema Tense, was sie bedeuteten, und er behauptet, es seien Grabmäler toter Tibeter.
Hinter einem kleinen freistehenden Kalksteinhügel zeigte sich jetzt ein zweiter See. Dorthin lenkten wir unsere Schritte. Das Wasser ließ sich trinken, wenn man es nicht zu genau nahm. Aber wir brauchten unsere Magen nicht auf die Probe zu stellen, denn Ische, einer unserer Ladakis, hatte am Ostufer eine Süßwasserquelle entdeckt. Dort möblierten wir uns die Wüstenei so, daß sie uns über Nacht als Heim dienen konnte (Lager 240). Die Einrichtung hatten zum guten Teil schon die Nomaden besorgt, die hin und wieder ihre Zelte am Seeufer aufschlagen und ihre Yaks und Schafe auf der guten Weide ernähren. Hier erhebt sich eine steile Wand aus phyllitartigem Schiefer, der sich leicht in Tafeln spalten läßt. Mehrere kleine Manimauern sind daraus hergestellt worden. Zu oberst auf der einen thronte ein Yakschädel mit gewaltigen Hörnern; in seine weiße Stirn waren die heiligen sechs Silben eingeschnitten und mit Ocker ausgefüllt, so daß sie rot wie Blut leuchteten. Ein alter Pelz und eine Unterjacke waren zwischen den Steinen liegen geblieben.
Draußen auf dem See schnatterte eine Entenschar, und in der Dämmerung ließen sich 20 Wildgänse auf das seichte Wasser hinab. Da krachte ein Schuß, und mit ihrem Frieden war es vorbei. Drei der weitgereisten Gäste landeten in unserer Küche. Als sich das nächtliche Dunkel auf die Erde herabsenkte, hörte ich wieder eine eifrige Unterhaltung zwischen wohl 60 Wildgänsen, die teils im Wasser plätscherten, teils sausend ihre Flügel über dem Wasser schlugen. Sie kamen aus Südwesten und brachen am nächsten Morgen früher auf als wir. Bald wird die Kälte eine Eishaut über den Bodenschlamm ziehen und die Wildgänse zur Rückkehr in tieferliegende, wärmere Gegenden zwingen.
Als die Sonne untergegangen war, stiegen im Osten grellviolette Schatten auf, der Zenit erstrahlte noch eine Weile in der Farbe der Türkisen, und über dem westlichen Horizont loderten schwefelgelbe Flammen. Sie verblaßten und erloschen bald, und die Lagerfeuer brannten nun um so heller. Draußen in dem See, dessen Boden sich vom Ufer aus sehr langsam senkte, hörte man platschende Schritte. Tundup Sonam war es, der mit seiner Beute zurückkehrte. Am Fuße des Schieferfelsens standen die Hunde und bellten ihr eigenes Echo an. Kurz und gellend durchdrang ihr Lärm die sonst so stille Nacht.