Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Auf Erden gibt es keinen schöneren Ring als den, welcher den Namen Manasarovar, Kailas und Gurla-mandatta trägt; er ist ein Türkis zwischen zwei Diamanten. Die großartige, vornehme Ruhe, die um die unzugänglichen Berge herum herrscht, und der unfaßbare Reichtum an kristallklarem Wasser, der den See zur Mutter der heiligen Flüsse macht, die mühselig zu erklimmenden Felsenpfade, die über die Höhen des Himalaja dorthin führen: alles eignete sich dazu, diese wunderbare Gegend seit uralten Zeiten zu einem der heiligsten Wallfahrtsorte oder »Tirta« der Hindus zu erküren. Wer reinen, erleuchteten Sinnes in den Wellen des Manasarovar badete, der erlangte dadurch die Kenntnis der den andern Sterblichen verborgenen Wahrheit. Noch heute bleibt der Fremde nachsinnend und gedankenvoll am Seeufer stehen und betrachtet die Schar der Pilger, wenn sie in das den Göttern geweihte Wasser hineinwaten, um dort die Wahrheit und die Erklärung des Lebensrätsels zu suchen.
Mânasa Sarôvara heißt »Mânasa, der schönste der Seen«. Mânasa bedeutet »durch die Seele erschaffen«, denn der See ist durch Brahmas Seele erschaffen worden.
Im Skanda Purana gibt es eine Erzählung über den Manasarovar, die Manasa-Khanda heißt. In Form eines Zwiegesprächs wird darin der heilige See und seine Erschaffung geschildert. Prinz Dschanamedschaja fragt den Suta, einen Schüler des Viasa, wie die Welt erschaffen worden sei. Suta erzählt unter anderm, daß Dattatreja Rischi, eine der sieben menschlichen Inkarnationen des Wischnu, nachdem er den Himalaja besucht, sich nach Benares begeben und vor dem Radschah Danvantari die Herrlichkeit des Himalaja laut gepriesen habe. Er habe jenen Himalaja gerühmt, in welchem Siwa weile und wo der Ganges sich, gleich einer Lotosblume von ihrem Stengel, von dem Fuße des Wischnu loslöse.
»Ich sah den Manasarovara, wo Siwa in Gestalt eines Radschahansa, eines Königsschwans, wohnt. Diesen See bildete Brahmas Seele; daher erhielt er den Namen Manasa-sarovara. Dort wohnen auch Mahadeva und die Götter, von dorther strömen die Sardschu (der Karnali, bei den Tibetern Map-tschu, der Pfauenfluß, genannt) nebst andern weiblichen Flüssen und der Satadru (Satledsch) und andere männliche Flüsse. Derjenige, dessen Leib mit Erde vom Manasarovar berührt wird und der in seiner Flut badet, wird Brahmas Paradies erlangen, und wer das Wasser trinkt, der wird zu Siwas Himmel emporsteigen und von den Sünden von hundert Wiedergeburten reingewaschen sein; sogar Tiere, die den Namen Manasarovar tragen, werden in Brahmas Paradies eingehen. Das Wasser des Sees gleicht Perlen. Es gibt kein Gebirge, das dem Himalaja gleichsteht, denn im Himalaja sind der Kailas und der Manasarovar. Wie der Tau von der Morgensonne weggetrocknet wird, so die Sünden der Menschen durch den Anblick des Himalaja ausgetilgt.«
Über die Erschaffung des Manasarovar heißt es:
»Brahmas Söhne begaben sich in die im Norden des Himalaja liegenden Gegenden und unterzogen sich auf dem Kailas einer Kasteiung. Dort sahen sie Siwa und Parvati, und dort hielten sie sich unter Beten und Kasteien zwölf Jahre lang auf. Um jene Zeit fiel wenig Regen, das Wasser war knapp, und in ihrer Not gingen sie zu Brahma und beteten ihn an. Da fragte sie Brahma, was sie wünschten. Sie antworteten: Wir sind auf dem Kailas mit Andacht beschäftigt und müssen von dort immer zum Baden nach Mandakini gehen; bereite uns einen Platz, wo wir baden können. Da erschuf Brahma durch eine seelische Anstrengung den heiligen See Manasa. Sie gingen wieder heim, freuten sich über den Erfolg ihrer Reise und gaben sich auf dem Kailas wieder dem Gebete und der Kasteiung hin, wobei sie das goldene Befruchtungssymbol anbeteten, das sich in der Mitte des Sees über der Wasserfläche erhob.«
Als der Prinz fragt: »Welcher Weg führt zum heiligen See?« da zählt Dattatreja die Hauptorte auf und spricht von den Pflichten der Pilger, worunter folgende am Seeufer erfüllt wurden: »Er soll dort baden und den Manen seiner Vorfahren Wasser darbieten und den Mahadeva (Siwa) in Gestalt eines Königsschwans anbeten. Er soll dort die Parikrama oder die Umwandlung des heiligen Manasasees ausführen, den Kailas betrachten und in allen benachbarten Flüssen baden.«
Der Kailas ist der Göttersitz der indischen alten Welt, ein Tummelplatz der Heldengestalten der mystischen Dichtung. An seinem Fuße träumt der heilige See, bald still und blank wie ein Spiegel, der die Bilder der Sonne und der Sterne auffängt, bald singend ans Ufer schlägt im Takte mit dem eilfertigen Tanze der Monsunwolken auf ihrer himmlischen Straße von den stickigen Ebenen Indiens nach dem Herzen des hohen, frischen Tibets (s. Abbildung auf Einbanddecke).
Von Südwesten her kommen die Wolken über den Himalaja gezogen. Der Fremdling, der in seinem Kahne über den See fährt oder von einem Kloster zum andern die Seeufer umwandert, kennt den Zug der Wolken und weiß, was sie bedeuten. Sie sind die Herolde des Südwestmonsun, der Tibet erst im Spätsommer erreicht. Sie sammeln über dem Meere ihre Wasserdämpfe, liebkosen die Küste zwischen Ceylon und der Indusmündung, bringen den Palmen und Dschungeln neues Leben, entlocken der Erde Saaten und schenken den Menschen Kühlung. Sie eilen zu den Südabhängen des Himalaja und lösen sich in ergiebige Regenfälle auf. Nur ein geringer Teil der wasserführenden Wolken überschreitet die Schranke und benetzt die Abhänge des Transhimalaja, um auch den Weideplätzen der Nomaden zugutezukommen. Durch die Gebirge gebrandschatzt und ausgedrückt wie ein Badeschwamm zieht der Rest der Wolken über dem Hochland weiter und wird in der Atmosphäre vernichtet, bevor er in die Wüstengebiete Zentralasiens hinausgelangt ist.
Nach der Mythologie der Hindus sind die Jakschas eine Art göttlicher Wesen niederen Ranges, die dem Kuvera, dem Gotte des Reichtums, dienen, der selber die im Kailasberge verborgenen Schätze bewacht. Dort wohnt der mächtige Kuvera mit seinem Götterhofe. Kuvera hatte einem Jakscha die Pflege der goldenen Lotoslilien im Manasasee anvertraut. Durch die Liebe zu seiner schönen Gattin in Anspruch genommen, vernachlässigte der Pfleger seine Pflicht, und eines Nachts wurden die Lilien durch die an den acht Ecken des Weltalls Wache haltenden Weltelefanten zertreten. Da wurde Kuvera zornig, und zur Strafe verurteilte er den Jakscha dazu, ein ganzes Jahr von seiner geliebten Gattin getrennt zu leben. Von Gram und Sehnsucht verzehrt, verbringt der Verbannte seine einsamen Tage fern im Süden in den heiligen Wäldern des Ramaberges.
Die Sage ist ein paar tausend Jahre alt. Ihr Motiv hat Kalidasa, einen der größten Meister der Hindu-Literatur, den Dichter der Sakuntala, begeistert, und mit den heiligen Bergen um den Manasarovar als Hintergrund hat er ein lyrisches Gedicht verfaßt, das Meghaduta, der Wolkenbote, heißt. Es glüht von orientalischer Pracht und kühnen Liedern, strotzt von Liebe und Sehnsucht und enthält eine Fülle der üppigsten, großartigsten Naturschilderungen.
Eines Tages segelt eine der regenschweren Wolken des Monsun über den Gipfel des Ramaberges, und der verbannte Jakscha ruft dem Regenspender zu, daß er seiner Gattin im Kailasgebirge einen Gruß bringen möge. Denn die Wolken sind Indras Gesandte, und Indra ist der Gott des Himmels. Zuerst huldigt der Jakscha dem Wolkenboten mit einer Blumenspende, dann schildert er den bevorstehenden Zug der Wolke mit dem Monsunwinde vom Ramaberge nach dem Kailas, wo die Verlassene wohnt. Er spricht in stimmungsvollen Versen zu dem Boten, der seinen stolzen Donner zwischen den Hügeln rollen läßt und von den königlichen Schwänen, den Radschahansas, begleitet wird, die nach dem Spiegel des Manasasees ziehen, wenn in Indien die Regenzeit eintritt. Im Gewände der Dichtung verwandeln sich die Wildgänse, die jeden Frühling auf den Inseln des Rakas-tal nisten, in Schwäne.
Kalidasa entrollt vor unsern Augen ein außerordentlich entzückendes Panorama von Ebenen und Wiesen, Wäldern und Hainen, Städten und Flüssen, die der Wolkenbote auf seiner Luftreise erblickt. Oft sind diese Erscheinungen mit einem wahren Stacheldrahtnetze mythologischer Anspielungen und pomphafter oder liebestrunkener Bilder umsponnen, aber ebenso oft erkennen wir auch die Stellen wieder, über die der Schatten der Wolke hinstreicht.
Dies gilt besonders dem Reiseziele des Wolkenboten; der Sang lautet nach der Übersetzung des berühmten Sanskritforschers Max Müller (Königsberg 1847):
Der Berg Kailâsa, dessen Haupt vom Arm des Râvana gespalten.
In dessen Spiegelglanze sich beschau'n die himmlischen Gestalten,
Der rings im dichten Glanze strahlt, als säh' man Siwas Antlitz lachen,
Er wird Dir in dem Blütenschnee der luft'gen Höh'n ein Lager machen.
Trink dann die Well'n des Mânasa, auf dem die goldnen Lotos prangen,
Laß Deine Wolkenschleier mild Airâvatas
Der östliche Weltelefant, den die Wolke vor der Sonne schützen sollte. Gesicht umfangen,
Der Kalpabäume
Bäume im Himmel des Indra. Blätterkleid magst Du mit feuchtem Wind' durchwehen,
Und dann dem Fürsten des Gebirgs
Der höchste Gipfel des Kailas., dem spiegelhell'n entgegengehen.
Verkennen wirst Du nicht die Stadt, die freundlich an den Berg sich schmieget.
Um welche, wie ein lockres Kleid der Gangâ helle Flut sich bieget,
'S ist Alakâ
Die Stadt des Kuvera und des Jakscha.; so oft Du kehrst, schmückt sie mit Wolken ihre Zinnen
Und durch die dunklen Locken läßt sie Perlentropfen niederrinnen.
Den Teich in meinem Garten dort umschließen rings smaragd'ne Stiegen
Und goldne Lotos siehst Du sich auf dunklen Lazurstengeln wiegen;
Die Schwäne, die bei Deinem Nah'n beglückt die stille Flut durchschneiden,
Sie möchten nie zum Mânasa von ihrer alten Wohnung scheiden.
Auf jenen Hügel steig' herab, doch soll die Last ihn nicht erdrücken,
Leicht, wie ein junger Elefant, tritt dann auf seinen schönen Rücken.
Von dort lass' dann des Blitzes Blick in ihre fülle Kammer fallen,
So wie mit leisem, leisem Glanz' Glühwürmchen durch die Lüfte wallen.
Die dunklen Locken der Maid sind die Wolken, ihr herabgefallener Schleier ist der Ganges, der Alakâ umfließt und von welchem also in Kalidasas Gedichte angenommen wird, daß er seine Quellen auf dem Kailas habe. Wenig mehr als hundert Jahre ist es her, daß dieser falsche Glaube für immer aus der Welt geschafft worden ist.
Der Jakscha ermahnt den Wolkenboten, nach vollzogenem Auftrag seine lange Reise in Elefantengestalt auf dem Kailasgipfel zu beschließen. Auch bei den Tibetern, deren Weisheit aus Indien entlehnt ist, spielt der Elefant in dieser Gegend eine gewisse Rolle. Im Kloster Njandi am Westfuße des Kailas sind zwei Elefantenzähne, Langtschen-salarapten, vor dem Altäre aufgestellt; das einzige, was die Mönche über sie mitzuteilen wissen, ist, daß sie dort so lange stünden wie das Kloster selbst. Am Nordufer trägt ein Kloster den Namen des Elefanten, Langbo-nan. Und schließlich heißt der Satledsch, der zeitweise dem See entströmt, Langtschen-kamba, der Elefantenfluß.
Verlassen wir indessen die Welt der Sage und der Dichtung, wo wir vergeblich nach festem Boden umhertasten, und erforschen wir lieber die geschichtlichen Urkunden, um zu sehen, was sie von dem heiligen See zu melden haben.
In dem Heerzuge des großen Makedoniers spielte der Manasarovar keine Rolle. Ptolemäus kannte den See nicht. Marco Polo und andere Reisende aus dem Mittelalter hatten seinen Namen nicht gehört. Die Wanderungen der Völker schlugen andere Wege ein und ließen den Manasarovar in ungestörter Ruhe, ein Dornröschen zwischen unzugänglichen Bergen. Jahrhundertelang flogen die Wildgänse wie früher über den Himalaja, und die Pilger lenkten ihre Schritte nach dem Ufer des Sees der Wahrheit und der Aufklärung, ohne daß sein Name auf den Schwingen des Gerüchts ins Abendland getragen wurde.
Wenn wir endlich in verhältnismäßig neuerer Zeit einen Schimmer des Sees zu gewahren glauben, sehen wir uns dennoch in Ungewißheit gelassen und wissen nicht, woran wir sind. Im Jahre 1533 schickte der Chan von Jarkent seinen Feldherrn Mirza Haidar mit einem Kriegsheer von Leh nach Tibet, um die Götzentempel in Lhasa dem Erdboden gleichzumachen. Das Heer wütete in den Ländern, welche es durchzog, wie die Pest, wurde aber selber dezimiert und hat seinen eigentlichen Zweck nicht erreicht. In der Beschreibung seines Heerzuges sagt Mirza Haidar: »Nach einer Reise von einem Monat gelangt man in eine Gegend, wo ein See liegt; er hat vierzig Farsach im Umkreis, und an seinem Ufer steht eine Burg, die Luk-u-Labuk heißt. Dort machten wir für die Nacht halt.« Dieser See kann kein anderer sein als der Manasarovar, denn Mirza Haidar zog dieselbe Straße, die zweihundert Jahre nach ihm Desideri gegangen ist.
In älteren Schriften über die Himalajaländer ist von einem Jesuiten die Rede, einem Pater Antonio de Monserrate, der im Jahre 1581 den Kaiser Akbar auf seinem Zuge nach Kabul begleitet und von einem See Manasaruor in Tibet erzählt haben soll. Über Monserrate habe ich nur aus zweiter und dritter Hand Auskunft erlangen können; irgendeinen Bericht aus seiner eigenen Feder aufzufinden, ist mir nicht gelungen.
François Bernier, der den Großmogul Aurangzeb auf seiner Reise nach Kaschmir begleitete und 1699 seine Erlebnisse schilderte, konnte sich hinsichtlich des Laufes der großen indischen Flüsse mit Ptolemäus nicht an Kenntnissen messen, obgleich er anderthalb Jahrtausende nach der Zeit des alten Meisters lebte. In seiner Darstellung der Gebirge im Norden Indiens ist er dagegen dem Ptolemäus ebenbürtig. Er gibt uns eine einzige Bergkette namens Caucase, und Tibet schrumpft zu einem Nichts zusammen. Auf einer Karte in Berniers Werk finden wir jedoch im Osten von Kaschmir ein » Petit Thibet Royaume«. Der Hauptarm des Indus kommt vom Mont Caucase, und der Fluß erhält kein Wasser aus den Ländern jenseits der Grenze Kaschmirs. Obgleich der französische Reisende sich bei Kaufleuten nach den Straßen im Norden und Osten erkundigte, erfuhr er nichts von dem heiligen See.
D'Anvilles » Carte generale du Thibet« (1733) bietet zuerst ein klares, zuverlässiges Bild des Manasarovar und des Rakas-tal; sie ist auf S. 363 des zweiten Bandes wiedergegeben. Dieses Terrain haben Kang His Lamatopographen erobert. Sie müssen sich lange an den Seen aufgehalten haben, denn gerade diese Gegend fern im Westen des großen Tibet ist besser und genauer ausgenommen worden als irgendein anderer Teil des Landes. Der Bergkranz um das Becken herum gibt ein richtiges Bild der Wirklichkeit. Im Norden erhebt der Kentaisse oder Kailas seinen Scheitel, im Südosten kommt ein Fluß aus dem Gebirge Lantschia Kepou, das meinem Langtschen-kabab, der Quelle des Satledsch, entspricht. Im Jahre 1907 gelangte ich zu demselben Resultate wie Kang His Topographen. Das Flüßchen, das sie als von Südosten her dem See zuströmend dargestellt haben, ist der Tage-tsangpo, den ich den Ursprung des Satledsch genannt habe. Hiermit sind wir bei einem Problem angelangt, das in Verbindung mit dem heiligen See in der folgenden Schilderung die Aufmerksamkeit mehr als einmal in Anspruch nehmen wird.
D'Anville nennt nach seinen lamaistischen Gewährsmännern die Seen mit tibetischen Namen, den östlichen See Mapama und den westlichen Lankan, anstatt der Namen Tso-mavang und Langak-tso, wie sie richtiger heißen. Vom ersteren wurde eine bessere Karte ausgenommen, als es 150 Jahre später geschehen ist. Zwischen beiden läuft ein sie verbindender Flußarm. Auch er ist ein Glied in der Kette des Satledsch. In den Jahren 1907 und 1908 war das Bett jenes Armes trocken, wie schon oft vorher.
Hiermit gelangen wir zu einem zweiten Problem: der Frage nach den periodischen Veränderungen der Niederschläge, welche die Ursache sind, daß nur in regnerischen Jahren Wasser aus dem Manasarovar abfließt. Während gewisser Zeitabschnitte regnet es so ergiebig, daß auch aus dem Langak-tso oder Rakas-tal Wasser abfließt, und nur dann hat der Fluß einen ununterbrochenen Lauf. So verhielt es sich, als Kang His Lamas jene Gegend rekognoszierten und den aus den Seen tretenden Fluß richtig Lanctchou oder Lang-tschu nannten, das heißt Langtschen-kamba, Elefantenfluß, Satledsch.
Doch wer trägt die Schuld an dem verhängnisvollen Irrtum, den Seigneur D'Anville, Géographe du Roi, verewigt hat? Er läßt jenen Lanctchou mit dem Ganges identisch sein und betrachtet den obern Indus als einen darin einmündenden Nebenfluß! In seinem großen Werke » Description de la Chine« erklärt Pater Du Halde, daß die beiden von Kang Hi abgesandten Topographen ihre Angaben über die Quelle des Ganges durch »Lamas, die in den benachbarten Pagoden gewohnt und aus Dokumenten, die sie bei dem Großlama in Lhasa gefunden« erhalten hätten. Diese Angabe kann nicht richtig sein, denn die Mönche in den Klöstern, um den Manasarovar herum wußten ganz genau, daß der in dem See entspringende Fluß der Satledsch war und nicht der Ganges.
Der erste Reisende, der den Manasarovar beschrieben hat, ist der unübertreffliche Pater Desideri. Er berichtet, wie er und Freyre am 9. November 1715 die höchsten Regionen auf dem Wege zwischen Leh und Lhasa erreichten und wie »das Wasser, welches von dort aus westwärts strömt, der Ursprung des Indus ist, während das, welches nach Osten geht, den Ganges bildet«.
In den folgenden Zeilen berührt er auch als erster das seitdem so schwierig gewordene Problem des hydrographischen Verhältnisses, in welchem die großen Flüsse zum Manasarovar stehen:
»Wir ziehen weiter über eine Ebene namens Retoa, wo es einen großen See gibt, zu dessen Umwanderung man einiger Tage bedarf und aus welchem, wie man vermutet, der Ganges entspringt. Aber, infolge alles dessen, was ich auf meiner Reise beobachten konnte und was ich Leute, die sowohl diese Gegend wie auch das Reich des Großmoguls kannten, in übereinstimmender Weise erzählen hörte, muß ich annehmen, daß jener Gebirgsstock Ngari Giongar (Kailas) nicht allein die Quelle des Ganges, sondern auch die des Flusses Indus ist. Da dieser Berg der höchste ist, von welchem sich das Land nach beiden Seiten hin abdacht, so strömt das von der westlichen Seite herabfließende Wasser – ob es nun Regenwasser sei oder von aufgetautem Schnee herrühre – nach dem zweiten Tibet (Ladak), was sich deutlich aus den tatsächlichen Verhältnissen ergibt – und nach der Durchquerung (Ladaks) geht es durch Klein-Tibet (Baltistan). Dann wälzt es sich durch alle Gebirge Kaschmirs hinunter und erreicht schließlich den Kleinen Guzaratta, um den gewaltigen, schiffbaren Indus zu bilden. Auf dieselbe Weise strömt das Wasser, welches von der Ostseite des Ngari Giongar (Kailas) herabfließt, zuerst in den bereits genannten See Retoa (Manasarovar) und dann vollendet es seinen Lauf abwärts und bildet den Ganges. Einen Beweis hierfür bietet uns folgender Umstand. In den Schriften unserer Vorfahren wird von dem Goldsande des Ganges viel Rühmens gemacht. Wenn wir daher annähmen, daß der Ursprung und die Quelle jenes Flusses anderswo lägen, so würden wir unsere Vorfahren zu Lügnern stempeln, denn an keinem andern Teile des Flußlaufes (als beim Kailas und Manasarovar) läßt sich auch nur ein Schein solchen Sandes aufspüren. Wenn man andrerseits meine Auffassung billigt, daß nämlich die Quelle des Ganges auf jenem Berggipfel und im See Retoa liegt, so stimmen die Behauptungen der alten Autoren wirklich mit meinen Ansichten überein. Denn wie bekannt – und, ich wage zu sagen, wie überall auf Erden bekannt – gibt es an den Ufern und im Sande um diesen See herum viel Goldstaub, den die Flüsse, die vom Kailas und andern naheliegenden Bergen herabfließen, von der Oberfläche jener Berge wegschwemmen. Tibeter und eine Anzahl Kaufleute treffen sich von Zeit zu Zeit am See, um nach solchem Golde zu suchen und es zu sammeln, und sie ziehen großen Gewinn daraus. Ferner ist der See ein Gegenstand großer Verehrung unter jenem abergläubischen Volke; daher wallfahrten sie dann und wann nach dieser Gegend und umwandern mit großer Andacht den ganzen See, weil sie glauben, daß sie sich dadurch vieler Vergebung versichern und viele besondere Ablässe erlangen.«
Diese Worte hat ein Jesuitenpater vor zweihundert Jahren geschrieben! Desideri, der in Gesellschaft einer tatarischen Prinzessin und ihres unübersehbaren Gefolges reiste, hatte wahrscheinlich keine Gelegenheit, den See selbst zu umwandern und sich zu überzeugen, welche Flüsse aus ihm herausströmen. Aber er glaubt beobachtet und durch indische Pilger gehört zu haben, daß die äußersten Wurzeln des Indus sowohl wie des Ganges im Kailas zu finden sind. Die Singi-kabab, die Indusquelle, liegt nicht weit davon im Norden des Transhimalaja. Aber der Ganges! Desideri hat den Satledsch mit dem heiligen Flusse der Stadt Benares verwechselt und den Einklang zwischen den Angaben »unserer Vorfahren« über den Goldsand des Flusses und dem »überall auf Erden bekannten« Vorkommen goldhaltigen Staubes an den Ufern des Manasarovar nicht stören wollen. Man kann ziemlich fest davon überzeugt sein, daß es an jenem Wintertag, als Desideri am Manasarovar vorüberritt, außer ihm und Freyre keinen Europäer gab, der etwas von dem Dasein dieses Sees ahnte!
Im Winter sind die meisten Wasserläufe versiegt oder zugefroren. Ist obendrein noch ein Schneesturm über das Land gezogen, so wird alles ausgeebnet, und ohne gespannte Aufmerksamkeit läßt sich nicht sehen, wie es sich mit den Flüssen verhält. Die Hindus kennen von alters her das hochalpine Tal, in welchem die Quelle sprudelt, die den Fluß der Stadt Benares gebiert. Die Tibeter wissen ebenso gut, daß der Arm, der zeitweise den Manasarovar verläßt, der Elefantenfluß, der Satledsch, ist. Doch fragt man die im Kloster Tschiu lebenden Mönche, wie der Kanal heiße, so antworten sie noch heutigentages Ganga oder Nganga. Möglicherweise hat dieser Name Desideri irregeführt. Jedenfalls war er unschuldig daran, daß englische Topographen in viel späterer Zeit den Satledsch mit dem Ganges verwechselt haben. Er war der Bahnbrecher. Wer könnte von ihm verlangen, daß er in zwei Tagen die seltsamen Wasserwege hätte erfassen können, um die sich nachher zweihundert Jahre lang Forscher und Reisende gestritten haben? Mir, der ich längere Zeit um die Seen herum geforscht habe als irgendeiner meiner Vorgänger, ist es eine Beruhigung und eine Erquickung, wenn ich in Pater Desideris altem Tagebuch »il lago di Retoa« wiedersehe.
In dem Bericht des Paters Souciet ( Observations mathématiques etc., faites à la Chine, Paris 1729) veröffentlicht Pater Gaubil einen Aufsatz über die Quellen des Ganges »nach chinesischen und tatarischen Karten«. Damit wir uns nicht in Gaubils Text zu vertiefen brauchen, gebe ich seine Karte wieder; sie ist wertvoll und interessant. Wenn man sie mit meiner Karte vergleicht, wird man sie auf der Stelle verstehen. Der Mont Cantés ist der Kailas. An seinem Nordwestabhang haben wir die Indusquelle. Warum gerade die des Indus? Nun, längs des Laufes finden wir Taschi-gang und Ladak wieder, wenn auch die Namen ein wenig verdreht sind. Indessen ist es der südliche Arm, der Gartong, der hier gemeint ist; den nördlichen, den Hauptarm aus der Singi-kabab, kannte man nicht.
Im Südosten des heiligen Berges ergießen sich die drei Quellarme des Ganges in den See Lapama oder Manasarovar. Von dort geht ein Flußarm nach dem Lankasee oder Rakas-tal und verläßt ihn wieder, um westwärts zu strömen. Der Fluß ist der Satledsch. Weshalb gerade der Satledsch? Nun, längs seines Laufes erkennen wir, ebenfalls verstümmelt, die Namen Guge, Tsaparang und Tschumurti wieder.
Wieder stoßen wir auf den schweren Mißgriff, daß man Indus und Satledsch sich miteinander vereinigen und den Ganges bilden läßt. D'Anville beging denselben Fehler. Daher ist es deutlich erkennbar, daß D'Anville und Gaubil ihr Wissen aus demselben Dokument geschöpft haben, aus den Rekognoszierungen, die Kang His Lamas ausführten. Sie gingen nie so weit nach Westen, daß sie sich von dem weiteren Schicksal der beiden Flüsse hätten überzeugen können. Die Situationszeichnung ist im Grunde richtig, die Hydrographie deckt sich mit der Wirklichkeit; das einzige Fehlerhafte ist, daß anstatt des Namens Satledsch der Name Ganges eingetragen worden ist.
Gaubils Karte der beiden Seen und der angeblichen Gangesquelle.
Wenn wir das nächstemal wieder vom Manasarovar erzählen hören, dann ist der Jesuitenpater Joseph Tieffenthaler unser Gewährsmann. Er ist 1715 in Bozen geboren, kam mit 28 Jahren nach Goa und durchwanderte dann während einer langen Reihe von Jahren verschiedene Teile Indiens, wobei er alles Merkwürdige, was er erblickte und erlebte, aufgezeichnet hat. Hierauf begab er sich 1765 nach Bengalen und wandte sich dort mit einer Bitte um Unterstützung »an die berühmte englische Nation, die wegen ihrer Freigebigkeit und ihrer Barmherzigkeit gegen Elende und Arme bekannt ist«.
Aus den Berichten Tieffenthalers geht nicht immer hervor, ob er selbst beobachtet hat oder sich auf Hörensagen verläßt. Man fühlt sich manchmal versucht, seine Worte über die klassischen Autoren, die den Himalaja von Kumaon Imaus nannten, auf ihn selbst anzuwenden: »Sie haben jene Gegenden nicht gesehen und haben in ihren Beschreibungen ferner Länder gewöhnlich unrecht«. Aber man verzeiht ihm gern, weil er ganz richtig sagt, daß man die Quelle des Indus in den Gebirgen Tibets suchen müsse.
Über Tibet hat er gehört, daß es fünf Monate lang unter einer Schneedecke liege. Von dorther kommen die weichste Wolle, Moschus und weiße Ochsenschwänze. Regiert werde das Land von einem geistlichen Herrscher, dem Lama Goru, den er magnus magister nennt; er gehöre einem Einsiedlerorden an und werde wie ein Gott angebetet. Er wohne in Patala. Derartige Nachrichten waren aber schon fünfzig Jahre früher sogar nach Sibirien gedrungen, wo der Schwede Strahlenberg damals als russischer Kriegsgefangener lebte und geographisches Material von unvergleichlich größerem Werte sammelte.
Doch jetzt handelt es sich nur um den wundertätigen See und die heiligen Flüsse.
Tieffenthaler trat in Briefwechsel mit dem berühmten Anquetil du Perron, der sein Material gesichtet und es dann in der » Description historique et géographique de l'Inde« veröffentlicht hat.
Hinsichtlich der Gangesquelle versichert Tieffenthaler, daß sie ewig unentdeckt bleiben werde, weil der Weg jenseits der Schlucht des »Kuhmundes« unpassierbar sei. Sein Kommentator erklärt, daß es für die, welche Beine zum Gehen hätten, keine ungangbaren Wege gebe – invia tenaci nulla est via. Anquetil entschuldigt indessen den Pater damit, daß man die Quellen sowohl in Bengalen wie in Tibet als unerreichbar ansehe, weil der heilige Fluß im Himmel entspringe. Er hat auch kein Zutrauen zu der Expedition, die der große Kaiser Akbar am Ende des 16. Jahrhunderts zur Erforschung der Gangesquelle ausgesandt hatte. In einer Schlucht unter einem Berge, der dem Kopfe einer Kuh ähnelte, sahen die Abgesandten das Wasser des Flusses in großer Fülle herausquellen. Anquetil glaubt nicht, daß jener »Kuhkopf« sich über der wirklichen Quelle erheben könne, die eher in der großen Tartarei zu suchen sei! Bald sollten jedoch englische Forscher die Tatsache feststellen, daß die Kunde, welche Akbars Gesandte ihrem Herrscher gebracht haben, die einzig richtige war.
Man hat allen Grund zu der Vermutung, daß die Karten, die Tieffenbach an Anquetil du Perron schickte, ursprünglich von Eingeborenen für den Kaiser Akbar gezeichnet worden sind. Denn der Pater bekennt, daß er selbst nie in den hohen Regionen gewesen sei, wohl aber Kunde über sie erhalten habe.
In Anquetils Schilderung heißt es über die beiden Seen:
»Der östliche, Mansaroar oder Mansara genannt, ist sehr berühmt im Lande und hat, nach Pater Tieffenthalers Aufzeichnungen, 60 Koß (indische Meilen) im Umkreis. Der westliche heißt Lanka und hat einen Umkreis von mehr als 11 Koß. Nach der Behauptung des gelehrten Missionars kommt der Brahmaputrafluß, der nach Assam und Nangamati strömt, aus dem See Mansaroar. Aus dem oberen Teile des Manasaroar, also im Nordwesten, tritt ein Fluß heraus, neben dessen Lauf man auf Persisch liest: ›der große Fluß Satledsch, der nach der Pandschabseite geht‹ – folglich nach Westen.«
Anquetil du Perrons.
Karte des Manasarovar und Rakas-tal.
Dieser verständigen und richtigen persischen Angabe, die wahrscheinlich aus dem Ende des 16. Jahrhundert stammte, fügt Anquetil den unglücklichen Zusatz bei: »Es wird behauptet, daß der Satledsch, der nach Bilaspur und Ludiana strömt, aus jenem See herauskomme; aber diese Versicherung verdient keinen Glauben, denn es ist wahrscheinlicher, daß der aus dem See abfließende Fluß sich mit dem Alaknanda vereinigt, der Badrinat und Srinagar bewässert.«
Der Alaknanda ist einer der östlichen Quellflüsse des Ganges; es wird uns hier also wieder ein Beispiel der Verwechslungen zwischen dem Satledsch und dem Ganges oder wenigstens einem Nebenflüsse des letzteren geboten.
Über den Rakas-tal heißt es: »Neben dem großen See Mansaroar und an seiner Westseite ist der See Lanka, den der deutsche Missionar Lanka Dhé schreibt. Dieser See, aus welchem im Westen der Sardschufluß heraustritt, ist viel kleiner als der Mansaroar.« Schon im Skanda Purana fand sich die Angabe, daß der Sardschu oder Gogra, der Maptschu oder Pfauenfluß der Tibeter, aus den Seen komme, indessen nicht aus dem Rakas-tal, sondern aus dem Manasarovar. Tieffenthaler ist hierin seiner Sache nicht sicher. Er sagt selber: Certiora alias exploranda.
Um so sicherer ist Anquetil. Er untersucht, inwiefern D'Anville darin recht haben kann, daß er den Fluß, der den Lanka oder Rakas-tal verläßt, Ganges nennt. Vergeblich hofft man, daß er noch dahinter kommen werde, daß der aus dem See tretende Fluß der Satledsch ist. Doch nein, er beweist, daß es der Nebenfluß des Ganges ist, der Gogra oder Pfauenfluß. Er sagt, D'Anvilles Karte der Lamas sei falsch. Und doch war diese Karte sehr viel besser als die Tieffenthalers.
Glücklicher trifft er es mit seiner Überzeugung, daß der Tsangpo der Oberlauf des Brahmaputra sei; aber wenn Pater Régis sich damit begnügt, die Tsangpoquelle in die Nähe des Manasarovar zu verlegen, so beißt Anquetil auf Tieffenthalers Angelhaken an und läßt den Fluß aus jenem See herausströmen.
Schließlich stellt er zusammen, was Tieffenthalers Karte über die beiden Seen gibt, nämlich »die bisher unbekannte Quelle der drei größten Flüsse jener Gegend, des Sardschu, der aus dem Lankasee abfließt und dessen Lauf man auf keiner europäischen Karte findet, des Satledsch, der nordwestwärts aus dem Mansaroar geht und nach dem Pendschab strömt, und des Brahmaputra oder Tsangpo, dessen Quelle der Abfluß dieses Sees vom Ostufer aus ist und der einen großen Teil Tibets durchfließt, ehe er einen Bogen nach Südwesten macht, um sich unterhalb Dakas in den Ganges zu stürzen.«
Es muß dem gelehrten Anquetil eine Freude gewesen sein, so von Herzen in dem Vorrat an Kenntnissen, den ihm Tieffenthaler zur Verfügung stellte, schwelgen zu können. Gleich Gaubil und D'Anville hat er seinen ganzen Scharfsinn aufgeboten, um nach chinesischen, tatarischen und indischen Urkunden und Nachrichten die Lage der Gangesquelle festzustellen.
Ritter hatte zu den orientalischen Angaben kein Vertrauen. Er nennt sie »scheinbar offizielle und doch in jeder Hinsicht zwar nicht ganz falsche, aber doch nur halbwahre Daten«. Dazu zählt er auch die Karten, die Pater Tieffenthaler aus Hindostan nach Europa geschickt hat. Ritter ist darin zu streng. In dem Lichte des Wissens der Gegenwart ist es nicht schwierig, die unter den Völkern des Ostens angestellten Versuche zu deuten und zu verstehen. Doch wie recht hat Ritter, wenn er im zweiten Bande seines »Asien« (S. 477) sagt: »Möge jener scharfsinnig und mit vieler Gelehrsamkeit geführte Streit über beiderlei Darstellungen der Gangesquellen in Behauptung der Hypothesen auf geographischem Felde behutsam machen.« Eine einzige positive Beobachtung an Ort und Stelle beseitige alle Zweifel rascher und besser als Vermutungen, die wir darüber aufstellen könnten.
Wenn man die sonderbare Karte, die Tieffenthaler an Anquetil geschickt hat, mit meiner Karte vergleicht, die im zweiten Bande des »Transhimalaja« enthalten ist, so muß man zugeben, daß die Ähnlichkeit sehr unbedeutend ist. Das Seltsamste ist jedoch die Darstellung der Flüsse. Im Osten sehen wir den Brahmaputra aus dem Manasarovar herausströmen! Wie ist das möglich! Schah Akbars Abgesandte sind vermutlich um den See herumgewandert. Die persische Angabe in der Karte lautet: »Der große Fluß, welcher nach der Nepalseite geht.« Wenn ein Hindu die Auskunft gegeben hätte, so wäre der Irrtum leichter begreiflich, denn er hätte in religiösen Vorurteilen befangen und dadurch verblendet gewesen sein können. Der Manasarovar ist aus Brahmas Seele erschaffen, und der Brahmaputra ist Brahmas Sohn. Doch ein Mohammedaner hat die persische Angabe geschrieben. Möglicherweise haben Hindus die Karte gezeichnet, und die Schrift ist nachher durch Mohammedaner in Indien hinzugefügt worden.
Es gibt wirklich einen Fluß, der den gleichmäßigen Verlauf der östlichen Uferlinie unterbricht, aber dieser Fluß strömt in den See hinein, nicht aus ihm heraus. Es ist unser alter Tage-tsangpo, der Quellfluß des Satledsch, der dort mündet. Vielleicht haben die Eingeborenen, die für die Karte verantwortlich sind, einfach vergessen, nach welcher Seite hin das Wasser floß, und ihren Irrtum erst nach ihrer Rückkehr nach Indien begangen.
Von dem Flusse im Südwesten meldet die Karte nichts. Wir können es daher als sicher ansehen, daß er irgendeinen der Flüsse darstellt, die vom Gurla-mandatta nach dem See strömen. Wir können dies um so mehr, als die Karte in derselben Gegend einen Tempel mit Eremitenwohnungen angibt, der offenbar das große Kloster Tugu-gumpa ist.
Besonders fesselt der nach Nordwesten aus dem See strömende Fluß das Interesse. Hier haben wir uns nur an die ursprüngliche, die echte Angabe zu halten, die in persischen Worten sagt: »Der große Fluß Satledsch, der nach der Pendschabseite strömt.« Wann auch die Karte gezeichnet sein mag, damals entströmte der Satledsch also dem See. Doch warum hat der Kartenzeichner nicht gewußt, daß der Fluß sich in den Rakas-tal ergoß? Wahrscheinlich aus dem Grund, weil er ihn nur am Ufer des Manasarovar überschritten hat, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Durch dieses Versäumnis hat er anstatt eines Flusses aus den Seen nach Westen zwei Flüsse herausströmen lassen. Denn er hat gesehen, daß auch aus dem Rakas-tal, seinem Lanka Dhé, ein Fluß heraustrat, und hatte geglaubt, daß dieser Fluß der Sardschu, der Map-tschu, sei. Von irgendeiner Wasserverbindung zwischen den beiden Seen will er nichts wissen. Der Manasarovar gehört zum System des Satledsch, der Rakas-tal zu dem des Ganges. Wenn er die Landenge zwischen den beiden Seen untersucht hätte, hätte er auch gefunden, daß sein Satledsch aus dem Manasarovar nach dem Rakas-tal strömte und daß der aus dem westlichen See heraustretende Fluß stets »der große Fluß Satledsch, der nach der Pendschabseite strömt« war.
Tieffenthalers Karte zaubert auch aus dem Spiegel des Manasarovar eine ungeheuerliche Bifurkation hervor, die, als einzig auf der Erdoberfläche dastehend, in Anquetil du Perron eigentlich hätte Argwohn erregen müssen: zwei Riesenflüsse aus einunddemselben See hervorquellend; der eine, der Brahmaputra, strömt nach Osten, der andere, der Satledsch, nach Westen.
Beim ersten Anblick erschien die Karte von Ostasien mehr als abenteuerlich. Nach genauerer Betrachtung verstehen wir ihren Sinn. Sie beweist, daß am Ende des 16. Jahrhunderts und wahrscheinlich auch vor der Zeit, in der sich Tieffenthaler in Indien aufhielt, die beiden Seen eng mit dem Flußsystem des Satledsch zusammenhingen, indem der Oberlauf des Flusses beide durchströmte, um dann seinen halsbrecherischen Weg durch den Himalaja, an Tirlapuri, Totling und Kanam vorüber, fortzusetzen. In dem kürzlich erschienenen Buche » Les Royaumes des Neiges« hat Charles Eudes Bonin einen trefflichen Vergleich der Karte Tieffenthalers mit meinen Resultaten angestellt.
In dem im zweiten Bande des »Transhimalaja«, S. 153–163, enthaltenen 50. Kapitel »Die Quelle des Satledsch« habe ich bereits den beachtenswerten Inhalt eines chinesischen Werkes »Schui-tao-ti-kang« oder »Die Grundzüge der Hydrographie«, das im Jahre 1762 veröffentlicht worden ist, angegeben. Darin werden die frühesten Schicksale des Flusses auf eine Weise geschildert, die in den Einzelheiten mit der Wirklichkeit übereinstimmt und die zeigt, daß die Chinesen auch damals, vor 150 Jahren, wie zur Zeit Kang His viel besser über jene Wasserstraßen unterrichtet waren als moderne Geographen, die zwar nie dort gewesen sind, die aber doch geglaubt haben, das Problem nach ihrem eigenen Kopfe lösen zu können. Der chinesische Text erzählt in kurzen, bestimmt ausgesprochenen Sätzen, daß das Wasser von Lang-tschuan-ka-pa-pu-schan oder dem Berge Langtschen-kabab den See Ma-piu-mu-ta-lai oder Manasarovar bilde, und sagt ferner: »Das Wasser (d. h. der Satledsch) stießt auf der westlichen Seite aus dem See hinaus und in den See Lan-ka (Langak-tso) hinein, der 60 Li entfernt liegt … Das Wasser des Sees Lang-ka (d. h. der Satledsch) fließt von Westen aus (aus dem See), und nachdem es über 100 Li westwärts geströmt ist, biegt es nach Südwesten ab und heißt jetzt Lang-tschu-ho.« Lang bedeutet Stier und Tschu auf tibetisch Wasser, während Ho auf chinesisch Fluß heißt. Lang-tschen ist der große Stier oder Elefant.
Als Major J. Rennell im Jahre 1782 seine prächtige Karte von Hindostan herausgab, in die auch das südliche Tibet teilweise ausgenommen ist, hatte er über dieses Land keine andern Quellen als D'Anvilles fünfzig Jahre vorher erschienene Karte, nach der er sich richtete. Er läßt den Indus in den Gebirgsgegenden im Westen von Kaschgar entspringen und den Satledsch vom Südabhang des Himalaja kommen. Doch den wahren oberen Indus, der Ladak durchfließt, und den oberen Satledsch, der an Totling vorüberströmt, läßt er vom Flußsysteme des Ganges einfangen. Rennell gesteht jedoch ein, daß er sich der Karte D'Anvilles nur aus Mangel an besserem Material bedient habe, und er spricht Zweifel aus, daß die Quellflüsse des Ganges sich so weit nordwestwärts erstrecken könnten, wie D'Anvilles Karte angebe. Er sieht es aber auch als sicher an, daß Ganges und Brahmaputra je auf einer Seite einunddesselben Bergrückens im Osten des Manasarovar entspringen und daß sie sich nach ungeheuren Umwegen – der eine nach Westen, der andere nach Osten – an einunddemselben Punkte ins Meer ergießen.
Rennell wurde einer ziemlich scharfen Kritik unterzogen, und zwar durch Anquetil du Perron, der hervorhob, daß er schon 1776 die Fehler der Karte D'Anvilles nachgewiesen habe, indem der Gogra, aber nicht der Ganges auf demselben Bergrücken in Tibet entspringe wie der Brahmaputra. Es dauerte noch einige dreißig Jahre, ehe man erfuhr, daß Rennell und Anquetil alle beide in ihren Auslegungen der Karten D'Anvilles und Tieffenthalers unrecht hatten.
Wenn also Rennells Karte einen Wasserlauf zwischen den beiden Seen und einen im Westen aus dem Rakas-tal heraustretenden Fluß, den er Ganges nennt, aufnimmt, so erkennen wir in dieser Darstellung teils die richtige, durch die Lamatopographen gefundene Deutung wieder, teils aber auch die gewöhnliche Verwechslung des Ganges mit dem Satledsch.
Im Jahrgang 1807 der englisch-indischen Zeitschrift » Asiatic Researches« findet man einen Artikel mit der Überschrift »Eine Geschichte von zwei Fakiren«, den ein Mr. Duncan veröffentlicht hat. Darin huscht auch der Manasarovar flüchtig an uns vorüber.
Der eine Fakir, Purana Puri in Benares, beschäftigte sich damit, seine Hände gefaltet über dem Kopfe zu halten, bis die Arme in dieser erkünstelten Stellung steif wurden. Er war ein aufgeweckter, glaubwürdiger Mann, der 1792 seine Schicksale erzählt hat. Auf seinen Wanderungen durch die Welt hatte er Balch, Buchara, Samarkand, Badakschan und Kaschmir besucht. Er war an der Gangotri, der Gangesquelle, gewesen und hatte gefunden, daß der Fluß an seinem Ursprung nicht so breit war, daß man über sein Wasser nicht hätte hinüberspringen können. Von Katmandu aus war er in das Innere Tibets nach Lhasa und Schigatse gezogen. Von dort aus war er in 80 Tagen nach dem See »Maun Surwur« gegangen.
Über diesen See gab der Fakir folgende Auskunft: »Sein Umfang ist sechs Tagereisen, und an seinen Ufern liegen 20 bis 25 Goumaris (Gumpas), religiöse Stationen oder Tempel. Der Maun Surwur ist ein See, aber in seiner Mitte erhebt sich etwas, das man eine Scheidewand nennen könnte, und der nördliche Teil wird Maun Surwur, der südliche Lunkadh oder Lunkdeh genannt. Der Maun-Surwur-Teil entsendet einen Fluß, und aus dem Lunkadh-Teile kommen zwei Flüsse; der erstgenannte ist der Brahmaputra, dessen Lauf nach Osten geht; von den beiden Flüssen, die der Lunkadh entsendet, heißt der eine Sardschu und der andere Sutrudra oder, wie in den Puranas, Shutudru und gewöhnlich Satledsch, der nach dem Lande Pendschab fließt. Zwei Tagereisen westlich vom Maun Surwur liegt die große Stadt Teri Ladak. Zieht man von Ladak aus sieben Tagereisen weiter nach Süden, so gelangt man an einen Berg namens Cailasa Cungri (Kailas Gangri), der außerordentlich hoch ist; auf seinem Gipfel steht ein Bhowjputr-Baum, aus dessen Wurzeln ein kleiner Strom hervorquillt oder heraussprudelt, von welchem man sagt, daß er die Quelle des Ganges sei und aus Vaicontha oder dem Himmel komme, wie es auch in den Puranas erzählt wird.«
Es wird nicht gesagt, wann der Fakir nach dem See gewandert ist. Vielleicht zehn Jahre vor seinem Bericht, vielleicht auch zwanzig. Sein Gedächtnis hat ihn jedenfalls im Stich gelassen. Den berühmten Kailas hat er mit einem südlicher liegenden Berge gleichen Namens verwechselt. Gleich Tieffenthalers Gewährsmännern läßt er den Brahmaputra aus dem Manasarovar beginnen. Das einzig Richtige in dem Bilde, das er gegeben hat, ist das Heraustreten des Satledsch aus dem Langak-Iso. Obwohl er die Umwanderung des Manasarovar, die den Pilgern befohlen ist, ausgeführt hat, ist ihm gar nicht aufgefallen, daß der Satledsch ebenfalls aus diesem See herausströmt. Die Herkunft des Sardschuflusses ist eine Erinnerung an Tieffenthalers Karte, wie auch die Schreibweise der Namen ähnlich ist.
Der andere Fakir wußte von den verwickelten Wasserstraßen nichts zu erzählen. Er glaubt nur bemerkt zu haben, daß am Maun Talai (Manasarovar) vier Länder zusammenstoßen, nämlich China, das »Lamaland«, Beschahr und Kulu.
Jahr für Jahr sind Pilger um den See herumgewandert, um Entsündigung ihrer Seele und die Hoffnung auf Brahmas Paradies und Siwas Himmel zu erlangen. Ihre irdischen Erfahrungen aber haben sie mitgenommen, als sie auf den dunklen Weg jenseits des Scheiterhaufens auf dem Kai von Benares hinausgingen, und ihr Wissen ist ebenso im Meere der Vernichtung zerronnen, wie ihre Asche von den Wasserwirbeln des Ganges nach dem Bengalischen Meerbusen hinuntergetragen worden und dort in der salzigen Tiefe verschwunden ist. Besäßen wir doch eine Chronik über alles das, was sie während vieler Jahrtausende alljährlich gesehen haben! Mit ihren sehnsüchtigen Schritten haben sie am Ufersaume Pfade ausgetreten. Jahrtausende hindurch haben Siwas Gäste ihren Rundgang vollendet, der nach einem eingebildeten Himmel führte. Wenn doch jedes Jahr nur einer das, was er sah, auf einer Steintafel in einer Pagode ausgezeichnet hätte!
Einige haben den Satledsch aus dem Manasarovar herausströmen sehen und sind, um den Fluß zu überschreiten, über die Brücke gegangen, die es wohl immer unmittelbar unterhalb des Klosters Tschiu gegeben hat und die von Zeit zu Zeit erneuert wurde. Auch heute steht sie noch, und man erblickt alte Wassermarken in den Konglomeratblöcken der Brückenköpfe. Andere haben gesehen, wie ein kümmerliches Rinnsal das Bett durchrieselte, während wieder andere keinen Tropfen in dem Kanal gefunden und seine Rinne trockenen Fußes durchquert haben.
Wenn wir jetzt wüßten, was jenen Wanderern seit der Zeit, als der erste Pilger die Runde um den See machte, bekannt war, könnten wir eine Kurve des periodischen Steigens und Fallens des Seespiegels ziehen. Wir würden sehen, wie der See nach regnerischen Sommern stieg und wie er in regenarmen Jahren fiel. Die Wirkungen des Monsuns auf dem Hochlande ließen sich ablesen, und wir würden verstehen, daß der aus Brahmas Seele erschaffene See lebt und daß sein Puls in rhythmischem, periodischem Takt schlägt, unbekannten, himmlischen Gesetzen folgend. Aber die Pilger haben ihre Geheimnisse nicht verraten, und es bleibt uns nichts anderes übrig, als die Aufzeichnungen, die von einer kleinen Anzahl Reisender gemacht worden sind, aufzusuchen und zu sammeln.