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Obgleich Simla beinahe gerade im Westen von Daba liegt, führt die Straße jetzt während mehrerer Tagemärsche nach Norden und Nordwesten und zieht sich zwischen Nebenflüssen durch Gegenden hin, die für Menschen und Lasttiere überhaupt unpassierbar sind. Keine Möglichkeit, auf dem kürzesten Wege, den der Lauf des Satledsch bezeichnet, vorzudringen! Wir erinnern uns des Aussehens, welches das Flußbett unmittelbar unterhalb des Klosters Kjung-lung hatte. Die unwiderstehliche Wassermasse stürzte unter betäubendem Getöse zwischen senkrechten und überhängenden Mauern aus anstehendem Gestein dahin. Noch viermal werden wir den Satledsch überschreiten, bevor wir Simla erreichen, und jeder Übergang wird einen neuen Einblick in die Geheimnisse des merkwürdigen Tales gewähren. Nur dort, wo die Felsen einander die Hand reichen und wo der Fluß schmal und zusammengedrängt zwischen ihnen dahintost, ist es möglich gewesen, Brücken anzulegen, und nur dort sehen wir den Elefantenfluß. Seine Herrschaft erstreckt sich jedoch über das ganze Himalajaland, das wir durchziehen.
Ein kurzer Abstand zwischen den Felsen beider Ufer ist jedoch nicht die einzige Bedingung, die zu der Möglichkeit eines Überbrückens des Flusses erforderlich ist. Solcher Stellen gibt es viele. Man kann überzeugt sein, daß der Satledsch auf dem ganzen Wege in einer tiefen Rinne dahinströmt. Aus kolossalen Höhen stürzen feuchte, blanke Felswände nach den Ufern ab. Lange Strecken des Flusses wird nie ein menschliches Auge erblicken. Das Wildschaf findet keinen Weg dorthin; die Gemsen haben dort nichts zu suchen. Nur Felsentauben, Falken und Adler kennen den tiefen, schattigen und kellerkühlen Korridor, wo der Fluß ohne Rast und Ruh tost. Nein, das tibetische »Straßen- und Wasserbauamt« fordert auch bei seinen Brückenanlagen, daß die Uferstützen der Brückenköpfe nur einige wenige Meter über der Wasserfläche liegen, denn gewöhnlich benutzt die Straße die Täler der Nebenflüsse und vermeidet alle unzugänglichen Rücken und Kämme.
Auf dem Wege von Daba sind wir während zweier Tagereisen wohl 10–15 Kilometer vom Satledsch entfernt und erst am dritten Tage nähern wir uns dem Flusse im spitzen Winkel. Sein Geist erfüllt jedoch auch das kleinste Nebental, das wir berühren. Der Regen des Südwestmonsuns, der diese Felsen und Terrassen bespült, ist dem Satledsch tributpflichtig und dazu verurteilt, dem Laufe dieses Flusses nach seiner eigenen Urheimat, dem Indischen Meere, zurückzufolgen. Während unserer Wanderung sehnte ich mich stets nach dem Hauptflusse, mußte mich aber geduldig in die schrecklichen Umwege zwischen den Brücken finden.
Das Gebirgsland im Süden des Satledsch ist das eigentliche Hundes. Tschumurli liegt im Norden des Flusses. Beide sind durch ihre Cañontäler, ihre ungeheuer wilde, vertikale Plastik charakteristisch. Die Ladak- und die Zaskarkette entfernen sich langsam voneinander. Daher werden auch die Nebenflüsse länger und wahrscheinlich im allgemeinen wasserreicher. Nach einer einzigen Durchquerung kann man aber nach dieser Richtung hin kein Gesetz aufstellen. Der Regen fällt ungleichmäßig. Ein kleinerer Nebenfluß kann nach stärkeren lokalen Regengüssen bis zum Übertreten anschwellen, und ein größerer kann nach ein paar klaren Tagen erheblich sinken.
Von Daba müssen wir wieder auf die Höhen hinauf, die uns von dem nächsten Nebentale trennen. Der Weg kriecht in der Schlucht aufwärts, die sich unmittelbar oberhalb des Dorfes in die Terrassen eingeschnitten hat. Das freundliche Kloster entschwindet infolgedessen sofort unsern Blicken, als wir nach Norden abbiegen und uns in eine so steile Rinne hineinverlieren, daß den Tieren bei dem angestrengten Klettern unaufhörlich die Lasten abrutschen. Die Männer schieben von hinten nach. Sie schreien und pfeifen. Dort ist eines meiner Pferde stehen geblieben, und seine Last hängt ihm unter dem Bauch. Ein langer Aufenthalt folgt. Nach zwei Minuten ist eine andere Last im Begriff herabzugleiten. Der Boden dieser wahren Sturzrinne, die nur zwei Meter breit ist, besteht aus feinem gelbem Ton. Daher ist der Hohlweg voller Staubwolken, welche die Tiere aufwühlen, und man ist dem Ersticken nahe. Auf beiden Seiten erheben sich senkrecht oder in drohender Weise überhängend, Säulen und Blöcke aus Rollstein und Sand, die wohl 20-30 Meter hoch sind. Jetzt geht es noch an. Aber nach anhaltendem Regen muß dieser Weg verlockend sein. Dann läuft man Gefahr von herabstürzenden Steinen und Blöcken erschlagen zu werden, dann ist der zähe, plastische Ton so glatt wie Schmierseife, dann kann dort weder Mensch noch Tier festen Fuß fassen, und wer dort fällt, der gleitet mit unheimlicher Geschwindigkeit wie auf der herrlichsten Rutschbahn in die Tiefe hinab!
Kaum sind wir droben auf den Höhen angelangt, so lockt uns diese Straße, die wohl die launenhafteste der Erde ist, wieder in eine Rinne hinunter, die ihrerseits in einem mittelgroßen Tal mündet. Ein kleiner Bach rieselt in seiner Rinne. Es geht hier kein Wind. Ein Widerschein der Sonne Indiens liegt über diesem öden, zerschnittenen Lande. Pferde und Maulesel eilen zum Bache, um zu trinken. Die Männer schöpfen mit den Händen Wasser und gießen es sich über Kopf und Gesicht.
Nach der herrlichen Erfrischung steigen wir einen neuen weckenförmigen Berg hinauf, aber nur, um wieder in das nächste Tal hinab zu steigen. Dieses wird ebenfalls von Quellwasser, das schmale Grasstreifen hervorgelockt hat, durchströmt. Ruinen alter Häuser, eine Reihe Tschorten, zwei kleine Gerstenfelder und ein Bach waren die Sehenswürdigkeiten des nächsten Talganges. Darauf folgt ein Labyrinth kleiner Täler und Rinnen, ein unentwirrbares Durcheinander der verschiedensten Hohlwege, von denen wir einige in der Quere durchschreiten, andere aber nur in ihren oberen Teilen berühren, wo sie sich noch nicht tief in den Boden haben einschneiden können. Ein größerer Talgang schlängelt sich nordostwärts; nach der Tiefe ist der Absturz so steil, daß zwei Tieren ihre Lasten vorn über den Kopf rutschen und beide mit der Nase am Boden stehen blieben, um auf Hilfe zu warten.
Eine letzte Anschwellung trennt uns noch von dem Tal Manlung, wo wir für heute genug hatten. Auch hier stand eine Hütte zum Schutze der Gerste auf den Feldern, die der Bach einer Quelle bewässerte. Ich hatte weiterziehen wollen, gab aber der Sehnsucht meiner Leute nach Ruhe nach. Das gute Leben in Daba hatte sie schwerfällig und träge gemacht; sie hatten dort natürlich so viel Tsamba und Schaffleisch gegessen, wie sie nur irgend hatten hinunterbringen können, und noch ein wenig mehr.
Gerade in der Mittagsstunde brannte die Sonne glühend heiß, aber eine halbe Stunde später verdunkelte sich der Himmel im Süden, und der Monsun jagte wieder schwere Wolkenmassen über den Himalaja. Ein entferntes Sausen ertönt; es wird stärker; eine Hagelbö naht; sie wälzt sich auf uns herab, und sofort ist die Luft abgekühlt und frisch. Bald war die Bö vorüber, und ihr folgte anhaltender Regen. In Daba hatte man uns vor dem Mangnang-tsangpo gewarnt. Nach heftigem Regen schwelle dieser Fluß so an, daß ein Durchwaten unmöglich sei. Es wäre hübsch, wenn wir sein Ufer nur erreichten, um dort tagelang liegen und warten zu müssen, wir, die wir uns so sehr nach Indien sehnten!
Der 12. August brach nach einem Minimum von 7,3 Grad klar an; der Regen hatte die Luft abgekühlt, und der Mangnang-tsangpo sollte sich nicht als ein Hindernis auf unserm Wege erweisen. Wie gewöhnlich haben wir erst noch wieder einen steilen Abhang zu erklimmen; wir lagern ja stets in Taltiefen und durchziehen alle diese unzähligen Täler in der Quere. Wieder ein Rinnengewirre, und dann ein steiler Abstieg zwischen gelben Säulengängen, die launenhaft in dem Geröll ausgemeißelt sind, hinunter nach dem tiefen, engen Anggongtal, das zwischen Grasufern ein Bächlein beherbergt.
Ein Reiter jagt an uns vorüber, ohne zu antworten, als wir ihn nach dem Ziel seiner Reise fragten. Ein zweiter kommt in hastigem Trab angesprengt; er hat sich die Taschen seines Sattels tüchtig mit Gepäck vollgestopft. Auch er hat nicht die Absicht, uns anzuhalten. Das Ziel beider ist offenbar Totling; vielleicht ist dieses große Kloster der Stein auf meinem Wege, über den ich stolpere. Man wird dort wissen, daß ich ohne jeglichen Paß reise und daß ein Durchziehen Tibets Europäern strengstens verboten ist. In Toktschen wollte man mich in das Innere des Landes zurücktreiben. Ich muß abwarten, ob man die Stirn hat, es in Totling, wo die Grenze so nahe ist, ebenso machen zu wollen.
Der kleine Anggongbach mündet bald in das große Mangnangtal ein; bereits an der Ecke beider Täler hören wir in der Ferne einen großen Fluß tosen. Wir machen einen Bogen nach links und nach Südwesten und überschreiten mehrere wasserleere, aber noch feuchte Flußbette, deren Ufer spärlich mit Gesträuch bestanden sind. Der Fluß war infolge seiner schnellen, tosenden Strömung und seiner 66 Meter Breite ehrfurchtgebietend, aber er war an einer Stelle, wo seine zwanzig Kubikmeter Wasser sich auf vier Arme verteilten, leicht zu durchwaten. Jetzt hatten wir in den Nebenflüssen des Satledsch über 240 Kubikmeter Wasser passiert. Wenn man an den Zuschuß von der entgegengesetzten Seite denkt, muß der Fluß jetzt 450 oder vielleicht gar 500 Kubikmeter führen.
Froh, das prophezeite Hindernis glücklich hinter uns zu haben, schlugen wir das Lager 470 auf einer Wiese am linken Ufer auf, dicht beim Kloster Mangnang-gumpa, das merkwürdigerweise auf ebenem Talboden erbaut ist, nicht auf den Höhen darüber, wie es bei Klöstern gewöhnlich der Fall ist. Es ist elf Uhr, wir haben den Tag vor uns. Was kümmert es uns, daß im Himalaja der Donner rollt und daß schwere Wolken ihre schwarzblauen Streifen über den südlichen Bergen zusammenballen! Die ersten Tropfen werden wir noch bekommen, aber bis zum Vorhofe des Klosters sind es nur noch ein paar Schritte. Gerade als wir unter Dach gelangt sind, beginnt der Platzregen im Ernst und prasselt den ganzen Tag auf die Erde herab.
Das Dorf Mangnang zählt drei oder vier einfache Hütten, die mit Mauern umgeben, inmitten größerer und saftigerer Gerstenfelder liegen, als wir bisher erblickten. In fünf Wochen wird die Sense durch das Korn gehen, und die Ernte war auch dann für dieses Jahr gesichert, wenn der Regen ganz aufhören sollte. Vor zehn Tagen war der Fluß stark an geschwollen und nicht ohne Gefahr zu durchwaten. Den Weg in seine Quellgegend auf den Abhängen der mit ewigem Schnee bedeckten Berge des Gangmen-gangri rechnete man drei kurze Tagesmärsche.
Wir befinden uns in 4016 Meter Höhe und sind um 573 Meter unter den See Rakas-tal hinabgesunken. Gerade jetzt berühren wir die Höhengrenze des Baumwuchses, und die ersten Herolde der Wälder des Himalaja begrüßen uns in Gestalt eines Dutzend belaubter Pappeln, die neben dem Dorfe einen grünenden Hain bilden. Wenn nicht der ganze Erdboden so weit, wie unsere Blicke reichten, in tiefem, regenschwerem Schatten gelegen hätte, würde ich mein Zelt unter den Kronen der Bäume haben aufschlagen lassen; ich hätte mich erfreut an dem hellgrünen, gedämpften Licht, das durch das Laubwerk sickert, und hätte dem Sausen gelauscht, das wie Sehnsucht nach der Heimat durch Zweige und Blätter flüstert. Der Reisende aus Indien nimmt hier von dem letzten Haine Abschied und sieht nicht eher wieder einen Baum, als bis er in Ladse-dsong und Je-schung im fernen Osten oder, wenn er westwärts zieht, in Tschuschul und Tanksi angekommen ist. Lenkt er aber seine Schritte nordwärts durch Tschang-tang, so sieht er den Schatten eines Baumes erst in den Oasen Ostturkestans wieder.
Mangnang-tschangtschugling gumpa – welch ein entzückender Name für eine Eremitenbehausung, wo die Tage lang sind und man viel Zeit hat! Der Außenwelt kehrt das Kloster hagebuttenrote Mauern zu, in seinem Innern fühlt der Fremdling sich angenehm überrascht, einen großen, reich geschmückten Lhakang zu sehen. Acht Säulen aus kernfestem Holze tragen die Decke, und in dem Mittelschiffe zwischen ihnen sehen wir zum fünfzigsten Male die roten Diwane wieder, auf denen die Mönche mit gekreuzten Beinen sitzen, wenn sie während des Gottesdienstes ihre Gebete murmeln (s. die bunte Tafel). Am oberen Ende des Ganges hat der Prior seinen abgesonderten Platz. Draperien, bemalte Standarten und Spitzenbänder hängen von der Decke und den Säulen wie Trophäen eines heiligen Krieges herab. Die theologische Bibliothek besteht aus den Schriften des Kandschur, während die 208 tibetischen Folianten des Tandschur nur in Klöstern vom Range des Totling-gumpa vorhanden sind. Malereien al fresco in frischen, satten Farben bedecken die Wandfelder, und die Bilder verraten eine künstlerische Auffassung, die nicht ohne Verdienst ist.
Ein Heer von 330 Götterstatuen ist auf dem Altartische des Chores aufgestellt; der Leser findet sie auf einer bunten Tafel des zweiten Bandes, S. 380. Dort sehen wir Tsongkapa in drei Auflagen, alle mit Zeugmützen geschmückt. Die Figuren sind aus Messing, aber der Staub der Jahre und der Ruß der qualmenden Butterdochte haben sie mit einer schwarzen Patina überzogen. Die Mönche des Klosters behaupteten, daß diese Götterbilder hier am Orte von einem in Metallarbeit geschickten Lama angefertigt seien, aber diese Angabe ist wohl in Zweifel zu ziehen. Vielleicht hat er nur einige zerbrochene Götterbilder wieder ausgebessert.
Aus dem Heiligtum von Mangnang-gumpa. Aquarell des Verfassers.
Höher als alle die andern und hinter ihnen erhebt sich unter dem Lichtschachte des impluviums eine gewaltige, in rosenroten Farbentönen bemalte Statue des Buddha. Seine Augen starren in den Saal hinaus, seine Lippen schwellen, seine Wangen strotzen, und die langen Ohren sind zum Teil durch Schleier verhüllt. Die Hände hält er mit den Innenflächen wie zum Gebet gegeneinander, aber sie verschwinden gänzlich unter Kadachs, den Opferspenden frommer Pilger. Über sein Antlitz fällt ein im Verhältnis zu der im Saale herrschenden Dämmerung gedämpftes Licht, ein Widerschein jenes Nirwana, in welchem der unerreichbare Fürstensohn aus dem Stamme Sakias in erhabener, stiller Ruhe träumt.
»Lassen Sie mich einige Ihrer Götter kaufen«, bat ich einen der drei Mönche, die mir die Herrlichkeiten zeigten.
»Das könnten Sie gern, wenn nicht jeder Gegenstand im Mangnanglhakang mit einem Nummerzettel versehen wäre, der der Nummer im Inventarkataloge des Klosters entspricht. Es wird strenge Kontrolle geübt, und wenn ein neuer Prior hierherkommt, inspiziert er sofort das ganze bewegliche Klostermobiliar und sieht nach, ob auch nichts fehlt. Wenn etwas weggekommen ist, muß sein Vorgänger es ersetzen. Daher können wir auch nicht das kleinste Tüchlein verkaufen.
Die Front des Altartisches verdeckten rote, gelbe und braune Decken. Nur die kräftig geschnitzten Füße, auf denen der Tisch ruhte, waren sichtbar; an ihnen lehnten zwei Messingteller, ein wichtiges Instrument der Kirchenmusik. Lampen brannten vor den Göttern nicht, wohl aber auf einem Tische an der einen Seite. Neue Dochte waren in die Butter gesetzt, alle Schalen waren mit Reiskörnern und Wasser gefüllt, und die Messinggefäße blinkten wie blankes Gold. Ein Klosterbruder fegte den Lehmfußboden, hörte aber gefällig damit auf, als ich ihn bat, den Staub einstweilen noch liegen zu lassen. Auch auf dem äußeren Hofe fuhren die Besen hin und her.
»Sie rüsten sich wohl zum Feste?« fragte ich.
»Nein, wir erwarten einen Kanpo-lama aus Lhasa. Er soll den Prior von Totling ablösen, dessen vierjährige Dienstzeit zu Ende ist. Auf der Reise dorthin inspiziert der neue Prior alle Klöster auf seinem Wege durch Ngari-korsum. Um einen guten Eindruck zu machen, fegen und putzen wir draußen und drinnen.«
»Sie feiern aber doch auch die jährlichen Kirchenfeste hier in Mangnang?«
»Nein, zu den großen Festen begeben wir uns, gleich den Lamas in Daba und Dongbo, nach Totling.«
»Unter welchem Mutterkloster steht Mangnang?«
»Unter dem Kloster Brebung bei Lhasa.«
»Sie gehören doch zu Tsongkapas gelber Sekte, den Gelukpa?«
»Jawohl.«
An den roten, geschnitzten Türpfosten im Vorsaale, dem Dokanggumtschor, waren einige kleinere Bronzegötter unehrerbietig an Bindfäden aufgehängt, eine Anordnung, die ich noch nirgends erblickt hatte. Die vier Schutzkönige, die mit einem gemeinsamen Namen Galtschen Dirgi genannt werden, sind auf den Wänden mit Kraft und Eleganz dargestellt.
Stundenlang saß ich, mit meinen Wasserfarben malend, im Lhakang von Mangnang, wo das Schweigen auf regungslosen Flügeln über der Götterschar schwebte. Gedämpfte Farben, träumerische Augen, sanftlächelnde Lippen, Posaunen und Trommeln, die Lärm machen können, aber jetzt schweigen, eine Spinne, die träge an ihrem von der Decke herabhängenden Faden in die Höhe klettert: alles wirkt einschläfernd auf das Gemüt ein. Draußen hört man nur das Rauschen des gleichmäßig fallenden Regens. Lobsang, der sich lange mit einem Lama unterhalten hat, ist eingeschlummert und schläft wie ein unschuldiges Kind, gegen eine Säule gelehnt und breitbeinig auf einem Diwan sitzend, der eigentlich für den Gottesdienst bestimmt ist. Er träumt von dem entsetzlichen Winter in Tschang-tang, der hinter uns liegt, oder von dem indischen Sommer, dem wir uns mit jedem Tage immer mehr nähern. Seine tiefen Atemzüge machen die Stille noch merklicher. Ich komme mir vor wie in eine Grabkammer eingeschlossen und erwarte nur, daß das Atmen aufhöre und ich selbst einschlafen werde. Warum treten aus den dunklen Winkeln des Tempelsaales keine Spukgestalten hervor, warum steigen nicht die Gottheiten der Wandgemälde aus ihren Feldern herab, um Beschwörungstänze vor dem Altäre auszuführen? Ewiger Buddha, du Unergründlicher auf deinem Throne im Kelche der Lotosblume, weshalb sprichst du nicht Worte der Weisheit in diesem Heiligtum, das dir zu Ehren erbaut ist?
Meine Augen schweifen von den Heiligenscheinen der Götter zu dem Pinsel und dem Papier. Ich sehe mich um. Lobsang ist im Begriff, die Stütze seines Kopfes zu verlieren, und schläft mit offenem Munde fest wie ein Murmeltier. Doch der Lama, mit dem er sich vorhin unterhielt, sitzt aufrecht mit gekreuzten Beinen da und läßt schweigend die Kugeln seines Rosenkranzes durch die Finger gleiten. Ich beginne gedankenlos zu pfeifen, wie um meinen Skizzen rhythmischen Schwung zu geben. Da aber erhebt sich der Lama, tritt leise an mich heran und bittet mich, nicht den Frieden des Heiligtums zu stören.
Das auf Buddhas Antlitz fallende Tageslicht wird bleicher, die Abendstunde nähert sich mit großen Schritten.
»Guten Morgen, Lobsang!« rufe ich so laut, daß der eben noch so regungslos wie Buddha selber dasitzende Lama zusammenzuckt und seinen Rosenkranz fallen läßt. Lobsang gähnt und reibt sich die Augen. Wir gehen in den Regen hinaus.
»Wer ruht hier!« frage ich den Lama, als wir an einigen großen Tschorten vorübergehen.
»Mönche hohen Ranges, die hier in Mangnang gestorben und verbrannt worden sind.«
Er erzählt mir, die Asche werde, nachdem der Scheiterhaufen das Werk der Vernichtung ausgeführt habe, mit feuchtem Ton vermengt und man knete aus der Mischung kleine Figuren, »Tsatsa« genannt, welche die Gestalt eines Zylinders und eines Kegels in einem Stücke hätten. Auf jede »Tsatsa« werde, wenn sie noch feucht sei, ein Stempel mit irgendeiner heiligen Silbe oder Sentenz gedrückt. Die Asche des Toten reiche zu ein paar tausend solcher »Tsatsa«, die in eine Höhlung des sonst massiven Fundaments des Tschorten gelegt würden. Dieses Tschorten ist also zugleich das Grab des Toten und sein Denkmal.
Die Dunkelheit überfällt Mangnang; bald ziehen die Schatten der Nacht ihren Schleier auch über Buddhas Antlitz. Einige kleine arme Kinder, nur zur Hälfte mit Lumpen bekleidet, begleiten mich nach dem Lager hinunter, um ein Stück Brot und einen Pfennig zu erhalten. Und dann öffnet die Nacht ihre Arme, um Eremiten und Pilger zu umfangen, und wir ziehen auf einige Stunden in das Märchenland des Vergessens und der Träume.