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Aus Hauptmann Rawlings Reisebeschreibung » The Great Plateau« (S. 303) kann man sich einen Begriff machen von der Brücke, deren linken Brückenkopf ich jetzt erreicht hatte. In Begleitung des Majors Ryder und der übrigen Mitglieder der Expedition nach Gartok überschritt Rawling gerade an der Jahreswende von 1904 auf 1905 an diesem Punkte den Satledsch. Er sagt: »Zehn Meilen unterhalb des Dorfes Khub (Kapp) war über den Satledsch eine große Balkenbrücke gespannt, die als ein Triumph der Ingenieurkunst galt und auf welcher die Straße vom linken auf das rechte Ufer hinüberführte. Sie war während des Herbstes gerade fertig und dem Verkehr übergeben worden, und die Eingeborenen betrachteten sie mit Staunen und Bewunderung. Uns aber sollte sie nicht das Geringste nützen. Das Bauholz, das man aus der Nachbarschaft erhalten hatte, erwies sich als außergewöhnlich brüchig, und drei Wochen vor unserer Ankunft gaben die unteren Balken dicht neben den Dammauern nach, und der ganze Bau stürzte krachend in die darunter tobenden Wasserwirbel.«
Zwischen den eisumsäumten Ufern wurde für die Engländer eine provisorische Brücke gezimmert. Für uns aber gab es keinen andern Ausweg, um hinüberzugelangen, als den, sich selbst und seine Habseligkeiten, dem zwischen den Steinmauern ausgespannten, aus Stahldraht geflochtenen Kabel anzuvertrauen.
Auf der Steinplatte oberhalb des linken Brückenkopfes beluden wir unsere Tiere und spähten vergebens nach der Hilfe aus, ohne die eine Karawane das Kabel nicht benutzen kann. Keine lebende Seele ließ sich sehen; nicht einmal eine erbärmliche Hütte war als Brückenwächterhaus neben diesem lebensgefährlichen Übergang errichtet. Man denke sich eine pechfinstere Nacht, undurchdringlichen Nebel und einen Wanderer, der in dem Glauben an das Vorhandensein der Brücke den Brückenkopf besteigt und von dort aus in den leeren Raum hinaustretend, in den Satledsch hinabstürzt. Poo liegt hoch oben und wird durch die Hänge verdeckt. Weder durch Rufen noch mit Zeichen kann man die Aufmerksamkeit seiner Bewohner erregen, kaum einen Flintenschuß würden sie dort droben hören können.
Ich trete auf die Balken des Brückenkopfes hinaus. Sie ragen wie ein Sprungbrett in den leeren Raum (Abb. 146). Fünfundzwanzig Meter unter mir kocht der eingeengte Fluß. Es hatte den Anschein, als ob uns hier der Weg abgeschnitten sei und Simla trostlos fern liege. Ich erfuhr jedoch später, daß man der Blattern wegen den Übergang absichtlich gesperrt hatte und keine Reisenden von der andern Seite hinüberließ.
146. Drahtseilbrücke bei Poo. (S. 340.)
Daher war es auch kein Wunder, daß der Eilbote bei dem Besorgen der Botschaft olympische Ruhe gezeigt hatte. Nachdenklich saß Ngurup Dortsche auf dem Brückenkopf, als wir an der Unglücksstelle anlangten. Man mußte Akrobat sein, um sich ohne Hilfe an dem Kabel hinüber zu haspeln. Solcher Akrobaten gibt es unter den Eingeborenen viele. Sie schlingen einfach ihre Leibbinde um das Kabel und hanteln sich ruckweise hinüber. Ngurup half sich auf andere Weise. Er nahm aus dem Packsattel eines Maulesels das Holzgestell heraus, legte es rittlings auf das Kabel, schlang einen Strick ein paarmal um das Holz und steckte die Beine in die so entstandenen Ösen. Als er sich überzeugt hatte, daß alles hielt, packte er mit beiden Händen das Kabel und zog sich ruckweise vorwärts. Ich kann nicht leugnen, daß es greulich aussah, als er den äußersten Rand des Sprungbrettes hinter sich ließ und über dem Abgrund baumelte. Solange das Kabel sich noch dem tiefsten Punkte seines Bogens zuneigte, ging es leicht, aufwärts aber schwerer. Ich atmete leichter, als ich ihn über dem Steingrunde der rechten Brückenmauer schweben sah. Dort sprang er aus den Ösen heraus und verschwand wie ein Steinbock auf den Abhängen, über die die Straße nach Poo führte.
Während wir warteten, wurde Feuer angezündet, und Gulam setzte Teewasser auf. Ich betrachtete mir den ungemütlichen Platz genauer. Auf beiden Ufern tritt Glimmerschiefer zutage, und die hohen Steinsäulen, zwischen denen die Brücke sich einst über den Fluß gespannt hatte, ruhen auf unerschütterlichem Felsengrund. Der rechte Brückenkopf bildet eine senkrechte Mauer, in die hier und dort horizontale Balken eingefügt sind, und über seine ebene obere Steinschicht läuft, zwei Meter hoch, das Kabel nach einem senkrechten Pfosten und von dort nach seiner weiter entfernt liegenden Verankerung in der Erde. Auf unserer Seite sitzt der Balkenkopf der Brücke noch in dem Steindamm und trägt eine Brückenplattform mit einer Brustwehr. Über ihren Bretterfußboden hinweg geht das Kabel, ebenfalls zwei Meter hoch, nach dem Kopfe eines festen Pfahles, an dessen anderer Seite es um ein Spill gewunden ist. Es läßt sich daher straffer spannen, wenn es sich zu sehr gedehnt haben sollte. Gewöhnlich werden Reisende und Güter über den Fluß vermittelst einer Rolle befördert, die auf dem Kabel entlanggleitet und durch einen eisernen Rahmen am Entgleisen verhindert wird. An einem Haken an der Unterseite des Rahmens werden Menschen und Tiere befestigt und ebenso leicht wie gewandt hinübergezogen. Nun aber war die Rolle unbrauchbar, und wir mußten uns anders behelfen.
Ich lege mich vornüber auf die Brückenplattform und rutsche vorsichtig nach dem Rande. Gerade unter mir tost der gewaltige Fluß, der einer der Riesen des Himalaja ist. Gleich unterhalb der Steinmauern sind zwei Blockkolosse in das Bett hineingestürzt; zwischen ihnen und der rechten Felsenwand war der Fluß zu vielleicht acht Meter Breite zusammengepreßt. Der ganze Satledsch hatte sich hier anscheinend in einen spritzenden Strahl verwandelt, der sich mit staunenerregender Kraft einen Weg durch das Gebirge bohrt. Die weißschäumende Wassermasse scheint unter die Blöcke hinabzutauchen und dort zu verschwinden, um dann wieder als brodelnde Glocken und gewölbte Wasserhügel nach oben zu steigen. Das Ganze gleicht einem kochenden Riesenkessel; es grollt wie Donner, es hallt von den Bergwänden wider, es ist ohrenbetäubend, man wird schwindlig und glaubt unter einer Zaubermacht zu stehen, die neckisch in den stockigen Schaum hinablockt, unter dem der Satledsch in seinem Berserkergang mit wütender Wildheit und kreideweiß vor Zorn dahin tanzt. Man fürchtet sich unwillkürlich. Wenn die Balken sich gerade jetzt lockerten, während ich hier liege und in die Tiefe hinabstarre? Wenn das Kabel gerade dann, wenn ich über dem Flusse hänge, mit scharfem Klange auseinanderrisse? Nun, dann ginge es wenigstens schnell! Man würde schon, ehe man noch wirklich das Herz vor Angst im Halse schlagen fühlte, als gehacktes, stark ausgewässertes Beefsteak aus dem Strudel bei den Blöcken herauskommen!
Aber das Kabel hält, wurde mir gesagt, obgleich es so dünn ist wie ein Strick. Es soll 35 Meter lang sein.
Es muß noch eine schöne Strecke bis Poo sein, dachte ich, denn Ngurup kommt gar nicht wieder. Geduld! Heraus mit dem Skizzenbuch (Abb. 147); diesen Ort vergesse ich nie! Die steinerne Plattform des rechten Uferdammes ist nur einen Steinwurf entfernt, aber der Weg dorthin ist lang und steht unter der Herrschaft des Todes. Hinter mir liegt das ganze Tibet. Und doch habe ich nie vor einem so ungemütlichen Schnitte in der Erdrinde gestanden.
147. Drahtseilbrücke bei Poo. (S. 341.) Skizze des Verfassers.
Endlich erreicht mein Warten sein Ende. Dort eilt eine Schar Männer die Abhänge hinunter. Es sind Eingeborene aus Poo, aber es sind auch zwei Europäer mit Spazierstöcken und Tropenhelmen dabei! Sie ersteigen schnell den Uferdamm und grüßen höflich herüber. Ich habe das Hutabnehmen ganz verlernt, aber glücklicherweise steckte ich ihnen nicht die Zunge heraus, sondern winkte nur eifrig mit dem Skizzenbuch. Man sieht, wie angelegen sie es sich sein lassen, mich möglichst schnell hinüberzuholen. Ngurup hat ihnen meinen Brief gebracht. Sie wissen also, daß ich es bin, der jetzt endlich in die Zivilisation zurückzukehren geruht, nachdem ich über zwei Jahre in Tibet gehaust habe – gegen den Willen von vier Regierungen, England und Indien, Tibet und China, gar nicht zu reden von dem im Jahre 1907 zwischen Großbritannien und Rußland abgeschlossenen Vertrag, der unter anderm auch den Zweck hatte, während dreier Jahre alles, was Entdeckungsreisen heißt, in Tibet zu verhindern. Sie wissen, daß ich während jener Zeit mein eigener Herrscher war, und sind begierig zu hören, wie es mir ergangen ist.
Ein Eingeborener, der Deva Ram heißt und Dorfschulze in Poo ist, kommt, unter dem Mauleselsattel baumelnd, auf unsere Seite herüber (Abb. 148). Man sieht, daß er an diesen Sport gewöhnt ist und zum Aviatiker passen würde. Nachdem er glücklich gelandet ist und mich höflich begrüßt hat, bindet er einige Säcke und ein Zelt unter den Sattel, an welchem ein fester, dünner Strick befestigt worden ist, dessen anderes Ende die drübenstehenden Männer handhaben. Deva Ram gibt ein Zeichen, seine Leute am rechten Ufer beginnen zu ziehen, und bald ist die ganze Ladung in ihren Händen.
148. Deva Ram auf dem Wege zu uns. (S. 342.)
Nun beginnen die beiden Europäer zu gestikulieren, machen mir Zeichen und deuten nach Poo hinauf. Ich verstehe sie nicht. Der eine schreibt einige Zeilen auf ein Stück Papier, das mit dem Sattel herüberkommt. Darauf steht: »Bitte, warten Sie noch ein wenig. Wir haben um einen sicheren Seilwagen ins Dorf geschickt.« Schön, der Sattel ist also nicht sicher, ich warte gern.
Der Seilwagen kommt und wird zu uns hinübergezogen. Kuntschuk versucht sein Glück. Es war ein Spaß, Suäns und Lobsangs Gesichter zu sehen, als ihr Kamerad über die Tiefe schwebte. Sie waren vor Aufregung dem Erbrechen nahe und mußten sich abwenden. Suän rollte sich hinter dem Spill wie ein Igel zusammen und weinte bitterlich.
»Was fehlt dir?« fragte ich.
»Es ist entsetzlich, daß wir hier alle sterben müssen, nachdem wir so weit gelangt sind und nur noch eine so kleine Strecke zurückzulegen haben.«
»Ach, sei doch nicht albern, Suän, es ist nicht im geringsten gefährlich.«
Im Grunde beneidete ich Kuntschuk, der schon die Todesfahrt über den Satledsch gemacht hatte. Doch zunächst mußte ich aufpassen, daß meine wertvollen Aufzeichnungen ordentlich festgebunden wurden und glücklich hinüberkamen. Und dann wollte ich gern wissen, wie man hier mit den Lasttieren umgeht. Einer der klugen Maulesel wird vorgeführt und steht nun gerade unter dem Wagen. Über diesen werden vier starke Strickbündel gelegt, von denen eins unter der Schwanzwurzel durchgezogen wird, eines den Hals stützt, das dritte vor den Hinterbeinen um den Leib geschlungen wird und das vierte ebenso hinter den Vorderbeinen angebracht ist. Dem Opfer wurden die Augen verbunden. Der Maulesel stand geduldig still, aber man sah am Zittern seiner Beine, daß er ein gemeines Attentat ahnte. Fertig! Die Leute auf dem rechten Uferdamm begannen auf ein gegebenes Zeichen aus Leibeskräften zu ziehen. Der Seilwagen gleitet langsam auf dem Kabel vorwärts. Der Maulesel muß mit und geht mit schwankenden Schritten auf den Fluß zu, nachdem er vergeblich versucht hat, sich mit den Hufen entgegenzustemmen. Er fühlt den Boden unter seinen Füßen weichen, streckt die Beine aus, erreicht aber den Grund nicht mehr. Im nächsten Augenblick segelt er schon über dem tosenden Flusse in der Luft. Er hat sich in sein Schicksal gefunden; seine Beine hängen schlaff herunter; was blieb dem armen Geschöpfe auch weiter übrig? Aber die Angst ist kurz, seine Vorderhufe schlagen gegen den Rand des Steindammes, er fühlt wieder festen Boden unter den Füßen und steht ebenso geduldig wie vorher still, als man ihn aus allen seinen Schlingen befreit, um ihn zum Grasen nach einer Böschung zu führen.
Nun bin ich an der Reihe! »Die Erde verschwindet; zum Feste der Asen ruft das Gjallarhorn …«
Deva Ram muß mich für sehr schwer halten. Er bindet mich fest wie einen gefährlichen Gefangenen. Ich schlüpfe mit den Beinen in die Seilösen und greife fest um die vordere Stange des Seilwagens.
»Los!« rufe ich.
»Nein, Sahib, noch nicht«, antwortete Deva Ram.
»Was fehlt noch?«
»Das Geschirr hält schon, damit hat es keine Gefahr. Aber wer nicht daran gewöhnt ist, den Fluß unter sich zu sehen, der kann schwindlig werden, die Besinnung verlieren, mit den Händen loslassen, rücklings hinunterschlagen, aus den Schlingen herausgleiten und mit dem Kopf voran in den Langtschen-kamba hinabstürzen.«
»Ich werde nicht schwindlig.«
»Der Sicherheit halber winden wir Ihnen doch noch lieber zweimal ein Seil um den Leib und um die übrigen Stricke. So, nun ist es gut! Jetzt können Sie die Hände loslassen, Sahib, ohne zu fallen.«
»Los!« rief ich mit lauterer Stimme als das vorige Mal.
Deva Ram gibt sein Zeichen, der Seilwagen beginnt zu gleiten; ich schwebe über den Rand hinaus und sehe nun unter mir in der Tiefe die grauweißen Wellen des Flusses hinrollen. Eine Ewigkeit vergeht. Weshalb komme ich denn nicht schon drüben an? Es sind ja nur 35 Meter. Droben auf den Höhen ist mein altes Tibet. Drunten in den Ebenen ist Indien. Meine Karawane ist auseinandergerissen. Ich selbst schwebe zwischen dem Himmel und dem mörderischen Satledsch (Abb. 149). Ich habe diesen Fluß erforscht und seine ursprüngliche Quelle gefunden. Die Entdeckung kostete gewiß ein Opfer! Nie hatte ich vor dem gewaltigen, majestätischen Flusse solchen Respekt gehabt wie in diesem Augenblick, und auf einmal halte ich Verständnis für die Tschortenpyramiden und Steinmale der Tibeter an Ufern und Brücken, jene Rufe um Hilfe gegen unbezwingliche Naturkräfte und jene versteinerten Gebete zu unerbittlichen Göttern. Mein Blick fällt auf den weißen, im Abgrunde drunten siedenden Riesenkessel. Wie großartig, wie hinreißend schön! Die Sprache besitzt keine Worte dafür, kein Meister kann dieses Bild malen, die schwindelerregende Vogelperspektive läßt sich nicht auf der Leinwand wiedergeben. Nur nach einem Modell könnte man sich einen Begriff davon machen. Hört nur das konzentrierte Dröhnen dieses Wasserdonners, das sich mit jedem Augenblick erneuert. Es füllt die enge Steinrinne an, und ich schwebe inmitten eines Chaos von Schallwellen, die einander von allen Seiten her kreuzen.
149. »Ich schwebe zwischen dem Himmel und dem mörderischen Satledsch.« (S. 344.)
Ich schaukle bei jedem Ruck, den das Ziehen der Leute verursacht, hin und her. Holla! Nur noch zwei Meter bis an den Rand des Steindammes. Herrliches Land! Hat das Kabel so lange gehalten, so wird es nicht gerade jetzt mit verhängnisvollem Krachen reißen. Zieht! Nur noch ein Meter. Mit einem behaglichen Gefühle des Geborgenseins gleite ich über den Steindamm weiter und bin im Handumdrehen aller Bande und Fesseln ledig!
Die beiden Europäer heißen mich in deutscher Sprache herzlich willkommen und gratulieren mir, daß ich die kurze Himmelsreise ohne weitere Abenteuer überstanden habe. Sie sind Herrnhuter Missionare und heißen Marx und Schnabel. Innerhalb einer Minute sind wir schon so gut miteinander bekannt wie Jugendfreunde. Wir bleiben noch eine Weile auf der Plattform stehen, um Lobsang mit verbundenen Augen heranschweben zu sehen; er traute seiner Kaltblütigkeit nicht und war sehr erregt, als er landete. Ich empfing auch noch meinen Reitschimmel und strich ihm über die Nase und Augen, um ihn zu beruhigen. Die andern konnten für sich selber sorgen (Abb. 150) und wurden auch vor 8 Uhr nicht fertig, so daß das Übersetzen im ganzen gute fünf Stunden gedauert hat. Die Missionare erzählten mir, ein Engländer sei beim Anblick des Kabels wieder umgekehrt.
150. Luftige Fahrt über den Satledsch. (S. 345.)
Nun ziehen wir die steilen Hänge nach Poo hinauf. Gerade, als es dämmerig wird, treten wir in die engen, unbelebten Gassen des Dorfes ein. Nur ein paar Gruppen neugieriger Weiber und einzelne Wanderer sind draußen, als wir über den kleinen Marktplatz gehen, wo sich die Dorfbewohner an den Winterabenden versammeln, um sich mit Tanz, Gesang und Saitenspiel die Zeit zu vertreiben. Endlich sind wir an den Gehöften der Missionare angelangt und sehen, daß sie ein kleines hübsches, sauber gehaltenes Dorf für sich bilden. Ein ganz neues Haus in einem Garten wurde meine Wohnung während der Ruhetage.
Seit dem 14. August 1906 hatte ich keinen Europäer gesehen, Jetzt schrieb ich den 28. August 1908. Zwei lange Jahre hatte ich nur mit Asiaten verkehrt, und ich freute mich, wieder Männer und Frauen germanischer Rasse zu erblicken. Und würdigeren Vertretern der Weißen als diesen christlichen Aposteln und ihren Frauen hätte ich nicht begegnen können. Sie beschämten mich durch ihre Gastfreiheit und verzogen mich wie ein Kind; sie tischten das Beste auf, was sie im Hause hatten, kleideten mich neu ein, gaben mir Bücher und Zeitungen zu lesen und wurden nie ungeduldig über das Kreuzfeuer meiner Fragen: herrscht Friede auf Erden oder lodert in irgendeinem Lande die Kriegsfackel; wie steht es mit den Unruhen in Indien; haben Sie etwas Neues aus Schweden gehört? Wohl ist es angenehm, zwei Jahre hindurch mit Zeitungen, Telephongesprächen, dummen Briefen, idiotischen Abendgesellschaften und dem nichtigen Geschwätze des Weltgetümmels verschont zu bleiben. In der sogenannten Zivilisation lebt man ein erkünsteltes Leben, verliert sein eigenes Ich und wird obendrein noch durch den Klatsch und die infamen Verleumdungen, an denen die Gesellschaft Gefallen findet, in kleine Stücke zerzupft. Es ist schön, die große Einsamkeit aufzusuchen, wohin kein Lärm dringt. Aber dennoch – wenn die Isolierungszeit vorüber ist, wird man es auch lustig finden, sich wieder in den Strudel stürzen zu können. Man gewöhnt sich bald daran, gedenkt jedoch nicht ohne Wehmut der herrlichen Zeit, als man immer nur durch dünne Zeltleinwand von den Nächten der Wildnis und den ewigen Sternen geschieden war.
Ich schlief in einem richtigen Bett und hatte die Aussicht auf den Garten, wo meine Leute die Zelte aufgeschlagen hatten und unsere angepflöckten Pferde und Maulesel sich an üppigerem Grase, als sie je erblickt hatten, laben konnten. Takkar und Kleinpuppy fühlten sich durch die ungewohnte Umgebung geniert, und ihr tibetischer Pelz paßte auch nicht in diese drückend warme Luft hinein. Sie lagen mit offenem Maul da, rangen nach Atem und schnappten nach den zudringlichen Fliegen, die ihnen keine Ruhe ließen.
Das Dorf zerfällt in zwei Abteilungen. Die Armen wohnen oberhalb, die Wohlhabenden und Reichen unterhalb der Missionsstation. Man zählt hier 600 bis 700 Einwohner, alle Lamaisten, die einen tibetischen Dialekt sprechen, der mehr an die Sprache in Dardschiling als an die Nüancen näherliegender Gegenden erinnert. Von Indien aus ist das Kastenwesen hierher gelangt. Die Tracht und der Schmuck der Weiber erinnern stark an Tibet, während sich in der Kleidung der Männer ein Einfluß von Süden her zeigt. Auch das Blut ist nicht frei von indischem Zusatz, und auf dem Wege nach Simla merkt man, wie das tibetische Blut sich immermehr verdünnt, während das indische immer mehr Terrain erobert.
Man baut hier Weizen, Gerste und Hirse nebst Buchweizen, der jährlich zwei Ernten gibt. Mit dem Roggen versuchen es nur die Missionare; er gedeiht gut. Für den Weinbau liegt Poo zu hoch; aber drunten am Flusse gibt es saftige Trauben. Kartoffeln baut man auf einigen Ackerstücken, aber Beten, Rüben und Radieschen werden allgemein gebaut. Der Hochgebirgswind saust durch die Krone des Walnußbaumes, und auch Aprikosen- und Apfelbäume zieren den Rand des Dorfes. An Pappeln und Weidenbäumen fehlt es hier natürlich nicht, und die Zeder oder »Schupka« ist Gegenstand religiöser Verehrung. Tanne und Birke kommen oberhalb des Dorfes vor, aber der Deodarabaum, die Himalajazeder, gedeiht nur auf der Westseite des Satledsch. Unter den Sträuchern sind die wilde Rose und der Weißdorn am häufigsten.
Zwei Klöster gehören zu Poo. Das obere heißt Tschila-gumpa, das untere Poo-gumpa. Dreißig Lamas der roten Sekte wohnen dort; diesen Mönchen ist es erlaubt, sich zu verheiraten. Die meisten Nonnen wohnen im Dorfe und beschäftigen sich mit weltlichen Dingen.
Allerdings liegt Poo hoch über dem Satledsch, aber doch in einer muldenförmigen Einsenkung inmitten gewaltiger Schneeberge. Während des Hochsommers herrscht in dieser Mulde eine stickige, stagnierende Hitze, die besonders europäischen Kindern verhängnisvoll wird. Alle in Poo gestorbenen weißen Kinder sind im Juli oder August heimgegangen. Wenn ein kleines Kind den August glücklich überlebt hat, so können die Eltern hoffen, es noch ein Jahr zu behalten. Erst im September werden die Nächte angenehm, und man lebt wieder auf. Frost tritt erst um Neujahr ein, und Ende Januar friert der Fluß auf fünf Wochen zu. Nur seine ruhigeren Stellen haben eine richtige Eisdecke. Eine solche Stelle gibt es oberhalb des Kabels; hier kann man auf Planken, die über zwei am Rande des Eissaumes beider Ufer befindliche Blöcke gelegt werden, über den Fluß gelangen.
Der 30. August war ein Sonntag, und in der kleinen Kapelle der Missionare wurde Gottesdienst gehalten. Die Gemeinde mochte aus etwa fünfzig Personen, darunter auch einige Kinder, bestehen. Die Frauen saßen zur Linken, die Männer zur Rechten der Kanzel. Meine Leute hatten sich auch eingestellt und lauschten voller Erstaunen dem Gesänge und den Worten des Predigers. Demütig und friedvoll erklangen die Töne der Orgel, und in der Sprache ihrer Heimat sangen die Christen einen Psalm nach der Melodie »Allein Gott in der Höh' sei Ehr' …« Es war unendlich schön! Ich weinte vor Rührung in der einsamen kleinen Kirche droben zwischen den majestätischen Hochgebirgsmassen des Himalaja. Die beiden Jahre flogen wie ein Traum an meiner Erinnerung vorüber. Durch die Fenster sieht man die helle, sonnige Landschaft, die Schwelle meines geliebten Tibet, des Königsaales grenzenloser Freiheit; ich stehe im Begriff, ihm auf lange Lebewohl zu sagen.
Ganze Bündel reifender Äpfel hingen zwischen dem Laube, und auf dem Hofe spazierten gackernde Hühner gemütlich umher. Andächtig und still lauschte die Gemeinde den Worten des Predigers, die mild und überzeugend in dem kleinen Saale ertönten.
»Amen! Vater Unser …« Wieder wurde ein Kirchenlied gesungen, und mit ernster Miene gingen die Christen nach Hause.
Die Missionare führen mich auf den Besitzungen der Station umher. Sie erzählen mir, daß der Himalaja Nr. 13 der Missionsgebiete der Herrenhuter sei und daß die Arbeit im Jahre 1853 begonnen habe. Die Station Poo sei 1865 gegründet worden, und das erste Missionarpaar seien Herr und Frau Pagell gewesen, die beide im Jahre 1883 auf ihrem Posten gestorben und auf dem kleinen Kirchhof oberhalb der Kapelle beerdigt worden seien. Nachdenklich und entblößten Hauptes steht der Fremdling vor einem solchen Grab. Sie waren freiwillig ins Exil gegangen und hatten ihrem Glauben ihr Leben geopfert. Daheim fragten nur noch einige Freunde nach ihrem Schicksal; hier draußen haben sie vielleicht wenig Dank und Aufmunterung gefunden. Und doch kämpften die Verkünder des Evangeliums für den höchsten aller irdischen Zwecke.
Wie wehmütig berührt aber der Anblick dieser Kindergräber mit frischen oder schon verwelkten Kränzen! Dort las man die Namen mancher Kinder, die nur auf die Welt gekommen waren, um getauft zu werden und zu sterben, und mancher, die während ihres kurzen Daseins keine andern weißen Gesichter als die ihrer Eltern und keine andern Landschaften als die des Himalaja um Poo herum erblickt hatten. Unbekannt auf Erden, unschuldig und rein, schlummerte das kleine Volk unter den vergänglichen Inschriften der Grabsteine. Herr und Frau Schnabel hatten drei Kinder auf diesem Kirchhof, und eines, das auf der Heimreise gestorben war, im Roten Meer. Herr und Frau Marx hatten vor vierzehn Tagen ihr einziges Kind der Erde des Himalaja anvertraut, und frische Kränze schmückten den kleinen Hügel. Einige Grabsteine hatten Inschriften in tibetischen Schriftzügen, aber nicht das ewige leere » Om mani padme hum«, sondern christliche Worte, denn unter ihnen ruhten Dorfbewohner aus Poo, welche die Taufe erhalten hatten.
Feierlich und tief ist die um diese Wohnung des Friedens und des Vergessens herum herrschende Stimmung. Frei schwebt der Blick über wilde, königliche Täler hin, und auf allen Seiten stehen scharfe Felsenspitzen als Ehrenwache. Unter dem Himmelszelt zieht die Schar der Monsunwolken nach Tibet hinein, und bald funkeln die Sterne der Winternacht freundlich über den Gräbern in Poo.