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Während der zwanzig Jahre, die zwischen den Reisen der Brüder Strackey und dem Aufbruche der Punditen Montgomeries vergingen, sucht man vergeblich nach irgendwelchen wertvollen Nachrichten aus dem umstrittenen Lande, das die unzugänglichen Mauern des Himalaja so unerbittlich schützten. Ich finde nur, daß ein Mr. Drummond, Commissioner von Bareilly, im Jahre 1855 oder nach einer andern Angabe im Jahre 1860, den heiligen See in einem Boot befahren hat, aber ich habe keinen Aufschluß darüber erhalten, was er auf dieser Reise suchte oder was er damit erreicht hat.
In seiner klassischen Schilderung von Ladak stützt sich Sir Alexander Cunningham auf die Erfahrungen der Brüder Strackey und sagt mit Recht, daß die eigentlichen Quellen des Satledsch unter den Wasserläufen zu suchen seien, die sich von Osten in den Manasarovar ergießen. Merkwürdigerweise hatte indessen noch kein Europäer das östliche Ufer des Sees besucht, und über die dort mündenden Gewässer wußte man gar nichts. Die Quelle des Indus verlegt Cunningham dagegen an eine ganz verkehrte Stelle, indem er glaubt, daß Moorcroft sie entdeckt und das Wasserband des Indus an Gartok vorüber nordwestwärts nach Ladak habe ziehen sehen. Er weiß nichts von dem nordöstlichen Arm, der aus der eigentlichen Quelle kommt.
Die Legende der vier Tiermäuler, aus denen die berühmten Flüsse entspringen, stammt nach Cunningham aus Indien. Den Elefanten und den Pfau könnten die Tibeter nicht anderswoher kennen. Und der Tsangpo, der Fluß des Pferdemauls, verherrliche Buddhas Roß. Singi-kamba, der Indus, aber deute eher auf den Tiger hin als auf den Löwen.
Auf ihren weiten, verdienstvollen Reisen durch den westlichen Himalaja während der Jahre 1855 bis 1857 gelang es den Brüdern Schlagintweit nicht, zu unsern Seen vorzudringen. Sie mußten sich wie Cunningham damit begnügen, Strackey zu zitieren, und sprechen daher auch von dem Flusse, der die beiden Seen das ganze Jahr hindurch verbinde.
An apokryphen Schilderungen dieser Gegend fehlt es auch nicht. Im Juni 1865 erreichten Hauptmann H. U. Smith und A. S. Harrison das Dorf Tartschen am Südfuße des Kailas und marschierten auch am Nordufer der beiden Seen entlang. Sie durchzogen die Berge, um zu jagen, und man kann von ihrem Beobachtungsvermögen nicht zuviel verlangen. Es wäre aber klug gewesen, wenn Hauptmann Smith unterlassen hätte, die Brüder Strackey, die gründlichsten, zuverlässigsten Forscher, die damals Tibet bereist haben, zu kritisieren. Smith behauptet einfach, es sei eine physische Unmöglichkeit, daß dem Satledsch aus einem der Seen oder gar beiden Wasser zuströme, denn in solchem Falle werde es sehr steil bergauf fließen müssen! Er bestreitet auch das Vorhandensein jeder Spur irgendwelcher alter Flußbette. Jeder Eingeborene, den er gefragt, habe seine eigenen Beobachtungen bestätigt, und überdies habe er den Sachverhalt so greifbar gefunden, daß alle Fragen überflüssig gewesen seien. In der Versammlung der Londoner Geographischen Gesellschaft, in der der Hauptmann über seine staunenerregenden Entdeckungen im Himalaja berichtete, war glücklicherweise der Himalajaforscher Dr. Thomson anwesend, und dieser rettete die Ehre der Brüder Strackey vollständig.
Hauptmann A. Bennett drang in demselben Jahre bis Daba vor und lieferte seinen Beitrag zur Lösung des Problems ebenso anspruchslos wie oberflächlich in folgenden Worten über die Quellen des Satledsch und des Indus: »Beide Flüsse entspringen hier, jener aus einigen Seen, dieser auf den dahinter liegenden Hügeln.«
Ungefähr zu gleicher Zeit mit den zuletzt genannten reisten Thomas W. Webber und drei andere Engländer nach dem Lande im Südosten des heiligen Sees, um dort zu jagen. Webber schildert die Reise in einem Buche, welches 1902, fast vierzig Jahre nach der Reise, erschienen ist. Darin berichtet er über die seltsamen Entdeckungen, die er und seine Begleiter machten, »Entdeckungen«, die alles, was Moorcroft, die Gebrüder Strackey und die Punditen gesehen hatten, gänzlich umstießen. Die Punditen reisten allerdings zwei Jahre nach Webber aus, dessen Buch ihre Erfahrungen jedoch nicht im geringsten berücksichtigt.
Webber glaubt in den höheren Regionen des Brahmaputras zu sein, als ein höchst überraschender Szenenwechsel eintritt: »Einmal überschritten wir eine andere sehr hohe Scheidemauer und befanden uns plötzlich auf den nördlichen Abhängen einer andern Wasserscheide, und zwar keiner geringeren als der, welche dem mächtigen Indus angehört. Tief drunten unter uns lag einige englische Meilen entfernt der glänzendste, schönste blaue See, der sich als der berühmte Manasarovar erwies, dem nicht zu nahen wir versprochen hatten.«
Es ist vergeblich, in diesen Wirrwarr Ordnung zu bringen. Sie stehen auf einer Wasserscheide zwischen dem Brahmaputra und dem Indus und sehen den Manasarovar ein paar englische Meilen entfernt vor sich liegen! Auf seiner Karte die ich im zweiten Bande des »Transhimalaja« S. 112 wiedergegeben habe, hat Webber »die Quellen des Indus« im Süden des Manasarovar angegeben und die Quellen des Ganges nach dem Südwestabhange des Gurla-mandatta verlegt. Auf der östlichen Seite desselben Bergstocks entspringt der Brahmaputra! Daß eine solche Karte hat gedruckt werden können – in England und im Jahre 1902 – ist unfaßbar! Kang His Lamas verwechselten den Satledsch mit dem Ganges, und das war mehr als verzeihlich. Das gleiche gilt für Desideri. Aber im Jahre 1902 kannte man die Gangesquelle doch schon beinahe hundert Jahre, und ebenso lange wußte man, daß der aus den Seen kommende Fluß der Satledsch war, und nicht der Indus! Als Webbers Buch erschien, waren alle diese Tatsachen bekannt, aber er hat sie mit einem einzigen Federstrich annulliert. Über den Gurla-mandatta heißt es: »Diesen dominierenden Berg könnte man mit Recht den Gipfel Asiens nennen, weil die drei großen Flüsse Indus, Ganges und Brahmaputra aus seinen Gletschern entspringen«. Der Ganges und der Brahmaputra haben nicht das geringste mit dem Gurla-mandatta zu schaffen. Die Quelle des Indus liegt im Norden, jenseits des Transhimalaja. Der Satledsch ist allerdings ein Nebenfluß des Indus, aber seine Quellen liegen nicht auf den Abhängen des Gurla. Die ganze Darstellung ist eine Robinsonade – ein Trugbild aus der Zeit vor den Jesuiten und den Kapuzinern.
Auf der berühmten Reise, die der große Nain Sing in den Jahren 1865 und 1866 am Tsangpo, dem obern Brahmaputra, aufwärts ausführte, zog er auch im Norden der beiden Seen entlang. Montgomerie, der ihn ausgesandt hatte, glaubte, verleitet durch Nain Sings Marschroute, die Lage der Brahmaputraquelle in dem östlich vom See liegenden Gebirge feststellen zu können. Da ist es denn überraschend, zwei so berühmte Präsidenten der Londoner Geographischen Gesellschaft wie Murchison und Rawlinson sagen zu hören, daß die Punditen »längs der Ufer des Brahmaputra nach der Quelle dieses Flusses im Manasarovar« zurückgekehrt seien. Dies hieß wahrhaftig wieder auf Pater Tieffenthalers Standpunkt zurückführen und eine der wichtigsten Wasserscheiden, die es in ganz Asien gibt, ignorieren.
Aus dem Jahre 1868 haben wir eine zuverlässige Angabe von einem der Punditen Montgomeries, der den Manasarovar umwanderte, ohne dort irgendwelchen Abfluß zu finden. »Doch an einer Stelle des Westufers«, heißt es im Berichte, »war der Boden in der Nähe des Klosters Tschiu flach und sah aus, als ob dort bei irgendeiner Gelegenheit Wasser in der Richtung nach dem Rakas-tal-See abgeflossen sei, obgleich die Rinne jetzt zu hoch über dem Seespiegel liegt, um irgendwelchen Abfluß zu gestatten.« Zwanzig Jahre früher, als die Brüder Strackey den See besuchten, war ihm noch Wasser entströmt. Jetzt war der Kanal ausgetrocknet. Also eine periodische Depression, ein Sinken der Kurve.
In den heiligen Gebirgen Tibets wohnen Geister. Es hat beinahe den Anschein, als ob auch die Europäer, die am Fuße der steilen Felswände entlang gewandert sind, durch die Zaubermacht jener Geister verblendet und betäubt worden seien und vergessen hätten, die Probleme zu lösen, um derentwillen sie sich so großen Anstrengungen unterzogen haben. So war es der Fall bei dem Nien-tschen-tang-la, den mehrere Europäer gesehen haben und der sich noch immer wie ein gigantisches Fragezeichen am Ufer seines heiligen Sees erhebt.
Eine derartige Zaubermacht hat den Manasarovar und den Rakastal verhext. Bald sind es vier große Flüsse, die, jeder auf seiner Seite, ihr Wasser aus diesem unerschöpflichen Behälter saugen, bald ist es der Ganges, der dort seine Quelle hat, bald werden wieder Indus, Satledsch, Map-tschu und Brahmaputra beschuldigt, daß sie die segenbringenden Wellen der Seen brandschatzen. Und schließlich tauchen dunkle Gerüchte auf, daß es eine physische Unmöglichkeit sei, daß auch nur ein Tropfen Wasser den Rand des Seebeckens verlasse!
Noch im Jahre 1891 schrieb der gründliche Kenner des Himalaja, Oberst Tanner: »Ich möchte hier noch sagen, daß die zählebige Frage, ob der Satledsch wirklich aus dem Manasarovarsee entspringt oder nicht, mir nicht endgültig gelöst erscheint.«
Gar keinen Einfluß hatte die halsbrecherische Münchhausiade, die ein englischer Journalist namens Landor erzählte und welche die gewissenhaften, zuverlässigen Schilderungen, die Moorcroft, Strackey und die Punditen verfaßt hatten, gänzlich auf den Kopf stellte. Bei dem unkritischen, sensationshungrigen Publikum hatte Landor einen gewissen, vorübergehenden Erfolg; unter den Geographen begegnete er, besonders in London, berechtigtem Zweifel.
Weniger Aufsehen erregte der japanische Geistliche Ekai Kawagutschi, der in den Jahren 1897 bis 1903 Indien und Tibet durchwanderte. Er macht einige sehr wertvolle Beobachtungen, begeht aber auch einige schreckliche Irrtümer. Von dem Scharfsinn der Europäer hat er keine hohe Meinung. Er selbst ist ehrlich und naiv und tut sein Bestes im Suchen nach Wahrheit. Seine Mission war nicht geographisch; er wollte nur die Texte der »heiligen Religion« studieren und die chinesische Übersetzung der buddhistischen Bücher mit der tibetischen vergleichen.
Von Katmandu und Muktinath aus dringt Kawagutschi in Tibet ein, überschreitet die Flüsse, die den Tsangpo bilden, und zieht in nordwestlicher Richtung nach dem Manasarovar. Er zeichnete keine Karte, und seine Kompaßpeilungen sind nur zu oft töricht. Infolgedessen schwebt man manchmal darüber in Unkenntnis, welche Flüsse und Gebirge er eigentlich meint. Doch wenn er einem Flusse vier englische Meilen weit folgt und ihn in den südöstlichen Teil des Manasarovar einmünden sieht, so kann es sich nur um den Tage-tsangpo handeln. Die Quelle dieses Flusses nennt er »Tschumik Ganga oder die Gangesquelle« und er fügt hinzu: »Ich tat einen tiefen Trunk aus dem heiligen Wasser.« Über diese und eine andere Quelle sagt er: »Hindus und Tibeter betrachten diese beiden Quellen als Ursprung des heiligen Ganges und betrachten sie mit religiöser Ehrfurcht.«
Hier spukt also wieder der Ganges durch unsere Seen. Trotzdem hat Kawagutschis Mitteilung ein gewisses Interesse. Seine beiden Quellen sind wahrscheinlich dieselben, an denen ich am Laufe des Tage-tsangpo vorübergezogen bin, wie ich im zweiten Bande S. 86 erwähnt habe! Er nennt die erste Tschumik Ganga; Tschumik ist tibetisch und bedeutet Quelle, Ganga ist der indische Name des Ganges. Als ich nach dem Namen der Quelle fragte, erhielt ich die Antwort, daß der Bach der Langtschen-kamba oder Satledschfluß sei; die Langtschen-kabab, die Quelle des Satledsch, liege ein wenig weiter im Südosten. Aber der Kanal vom Manasarovar nach dem Rakas-tal wurde mir als Ganga bezeichnet. Dies scheint darauf hinzudeuten, daß der Verbindungskanal als Fortsetzung des Tage-tsangpo betrachtet wird, eine Auffassung, die vollkommen richtig ist und sowohl mit D'Anvilles Karte wie auch mit der chinesischen Schilderung in dem Werke »Die Grundzüge der Hydrographie« übereinstimmt. Kawagutschi ist ein buddhistischer Priester; vielleicht trüben religiöse Dogmen sein Urteil. Es ist auch nicht so leicht, die Tiefe der Seele eines Buddhapriesters zu ergründen. Man sollte glauben, daß sein Gewährsmann in dem Satledsch einen Nebenfluß des Ganges gesehen habe und daß infolgedessen, seiner Ansicht nach, die Satledschquelle auch als die des Ganges bezeichnet werden könne. Aber dergleichen Spekulationen sind unnötig. Denn ein wenig weiter in seinem Berichte erklärt Kawagutschi selbst, daß Gogra, Satledsch, Indus und Brahmaputra dem See entströmen sollen. Dabei hat er den Ganges weggelassen, obgleich dies der einzige Fluß ist, dessen heiliges Quellwasser er selbst getrunken hat. Er fügt auch ganz richtig bei, daß der Ursprung jener vier Flüsse im benachbarten Gebirge zu suchen sei, nicht in dem See. Und er sagt, daß nur »die Brahmaputraquellen bis jetzt die Forschung zuschanden gemacht haben«. In Wirklichkeit ahnte er nicht, wo diese Flüsse ihre Quellen hatten. Wer wollte auch von einem buddhistischen Pilger verlangen, daß er in der geographischen Literatur Europas bewandert sei!
Kawagutschi gibt den Umfang des Manasarovar ganz ungeniert mit 200 englischen Meilen an, obgleich er in Wirklichkeit nur 45 beträgt. Er schilt auch tapfer über die falsche Gestalt, die die Europäer dem See auf ihren Karten gegeben haben, und hat selber gefunden, daß sein Umriß eine Lotosblume bilde! Ad majorem Dei gloriam!
Hinsichtlich der Wasserverbindung machte er eine noch merkwürdigere Entdeckung. Er wanderte von Tugu-gumpa auf die Landenge, von deren Hügeln er auch den Nakas-tal überblicken konnte. »Ein Berg, der etwa zweieinhalb englische Meilen Umfang hat, erhebt sich als Scheidewand zwischen den beiden Seen, und da, wo dieser Berg nach einer Rinne abfällt, sieht es genau so aus, als ob es dort für das Wasser einen Verbindungskanal von dem einen See zum andern gebe. Ich fand jedoch, daß in Wirklichkeit kein solcher Kanal existierte; anstatt dessen entdeckte ich, daß der Spiegel des Rakas-tal höher liegt als der des Manasarovar. Es wurde mir nachher erzählt, daß das Wasser beider Seen sich alle zehn bis fünfzehn Jahre nach ganz außerordentlich heftigen Regengüssen wirklich vereinige und daß bei solchen Gelegenheiten der Rakas-tal nach dem Manasarovar hin Abfluß habe. Daher stammt auch die tibetische Legende, daß der Bräutigam Rakas-tal alle fünfzehn Jahre die Braut Manasarovar besuche.«
Hier haben wir zu all den vorhergegangenen Ungeheuerlichkeiten noch einen Reisenden, der erzählt, daß das Wasser umgekehrt fließe. Denn der Spiegel des Rakas-tal liegt ungefähr dreizehn Meter tiefer als der des Manasarovar. Einen solchen Irrtum hätte sich Kawagutschi nicht zu schulden kommen lassen brauchen; denn als er später selbst den Satledsch überschritt, den er Langchen Khanbab nennt, sagt er: »meine Begleiter erzählten mir ungefragt, daß dieser Fluß aus dem Manasarovar komme«.
So dürftig die Schilderung des japanischen Geistlichen in geographischer Hinsicht auch ist, so liest man doch sein Buch gern. Er erzählt bis in die kleinsten Einzelheiten alle seine Abenteuer und alle die kleinen Gefahren, denen er sich ausgesetzt hat. Wie der edle Schakia Muni bei Buddagaja über den Versucher triumphierte, so blieb auch Kawagutschi unerbittlich gegen die glühenden Liebeserklärungen, womit ihn die neunzehnjährige Dava, ein Kind des Manasarovar, bestürmte; eine Maid der Wildnis, die ihn mit den hundert Yaks und den vierhundert Schafen ihres Vaters zu verlocken suchte. »Ich konnte es nicht ändern, daß mir das unschuldige kleine Geschöpf leid tat«, sagt er ritterlich; »hübsch war sie nicht, aber auch nicht häßlich; eine niedliche kleine Erscheinung war sie … Dava ließ sich zwar mit den Töchtern des Erzteufels natürlich nicht an Anmut vergleichen, aber klagen und flehen konnte sie gerade so gut wie diese.« Kawagutschi war indessen stark und vergaß nicht der Gelübde, die die Priester Buddhas binden. Und Davas Traum zerrann in nichts; sie sollte nie den schneebedeckten Scheitel des Berges Siwas gegen den Anblick des Gipfels des Fujijama, des heiligen Berges der Japaner, vertauschen.
Anstatt dessen führte Kawagutschi die den Pilgern vorgeschriebene Umwanderung des Kailas aus. In der Schar der Wallfahrer machte er die Bekanntschaft eines Räubers aus Kam, der seine Schritte mit folgendem Stoßseufzer begleitet haben soll: »O du heiliger Kang-rinpotsche! O du großer Schakia Muni! O, alle ihr Buddhas und Bodisattvas an den zehn Ecken der Welt und in den Zeiten, die da waren, sind und sein werden! Ich bin ein schlechter Mensch gewesen. Ich habe mehrere Menschen ermordet. Ich habe allerlei gestohlen, was nicht mir gehörte. Ich habe Weiber ihren Gatten entrissen. Ich habe unzählige Male Zank angestiftet und auch Leute durchgeprügelt. Alle diese großen Sünden bereue ich, und um ihretwillen vollziehe ich nun feierlich meine Buße auf diesem Berge. Durch diese Handlung des Bekennens und Bereuens glaube ich von dem Lohne jener Sünden erlöst zu werden. Ich vollziehe diese Buße auch für meine künftigen Sünden, denn es kann sein, daß ich sie wieder begehe und daß ich Männer ihrer Habe beraube, ihnen ihre Weiber nehme, sie totschlage oder sie durchprügle.«
Doch wir können Kawagutschi auf seinen weiten Wanderungen durch Tibet nicht länger begleiten. Aus jeder Seite seines Buches weht uns ein Duft des reinen, unverfälschten Asien entgegen, wo alles, sogar die gewaltigen Gebirge und die türkisblauen Seen, mit einem Netze religiöser Ideen und Legenden umsponnen ist und wo das Bild des edlen Schakia Muni, träumerisch und still, beständig vor den Blicken des Wanderers zu schweben scheint und ihm die Welt der Wirklichkeit verdeckt.
Was sagt der kürzlich dahingeschiedene englische Missionar Graham Sandberg über die Gegenden, die unser Denken so lange beschäftigt haben? Er war nie in Tibet selbst gewesen, hatte aber dieses Land zum Gegenstand gründlicher Studien gemacht und veröffentlichte im Jahre 1904 ein verdienstvolles Buch darüber. Darin berichtet er über die Entdeckungsgeschichte seit 1623 und gelangt zu dem Resultat: »Noch heutigentages sind die Quellen des Satledsch nicht mit Gewißheit bekannt.« Er fährt fort: »Es ist noch ein Mysterium und ein Gegenstand der Spekulation, wo ein so allbekannter Fluß wie der Indus wirklich entspringt.« Drei Jahre später waren diese Fragen keine Geheimnisse mehr, aber da war der Missionar schon den Weg gegangen, den wir einst alle gehen müssen.
In seinem ebenfalls im Jahre 1904 erschienenen Handbuche über Tibet sagt der bekannte Asienforscher Oberst Sir Thomas Holdich: »Der Indus entspringt auf den Abhängen des Kailas, der nach der klassischen Sanskritliteratur der heilige Berg, die Gefilde der Seligen und das Paradies Siwas ist.« Dies war auch, zweihundert Jahre früher, Desideris Ansicht. Holdich verlegt die Satledschquelle nach dem Südabhang des Kailas. Jetzt wissen wir aber, daß der Indus in dem Lande auf der Nordseite des Transhimalaja beginnt und der Satledsch am Nordabhange des Himalaja entspringt.
Major Ryder (Abb.96) und Hauptmann Rawling zogen Ende November 1904 an den beiden Seen entlang, also genau um dieselbe Zeit des Jahres, wie Pater Desideri im Jahre 1715. Die Eisschollen, die den Kanal zwischen den beiden Seen anfüllten, kamen, wie sich herausstellte, von Quellen in seinem Bette, und der Spiegel des Manasarovar lag zwei Fuß unter dem Scheitelpunkte des Bettes. Aber die Mönche des Klosters von Tschiu erzählten, daß im Spätsommer alljährlich etwas Wasser aus dem heiligen See ströme. Aus dem Rakas-tal habe ein derartiges Abfließen dagegen seit fünfzig, sechzig Jahren nicht stattgefunden.
96. Major Ryder. (S. 210.)
Rawling streift die richtige Lösung, wenn er sagt, daß die Frage offen bleibe, ob nicht irgendeiner der sich von Osten her in den Manasarovar ergießenden Bäche als Quelle des Satledsch bezeichnet werden müsse. Aber er verfolgt diesen Gesichtspunkt nicht weiter und scheidet, wie Ryder, die Seen gänzlich von dem Flußsysteme des Satledsch aus, indem er die Feststellung der Lage der eigentlichen Quelle künftigen Forschern überläßt.
Das erlösende Wort wurde im Jahre 1907, gerade um die Zeit, als ich mich in Südtibet befand, von Oberst Burrard gesprochen, der ganz deutlich bewies, daß beide Seen auch dann noch zum Satledschsysteme gehörten, wenn sie nur alle hundert Jahre einmal dem Bette des Flusses einen unbedeutenden Bach zusendeten. (S. Transhimalaja, II, S. 162).
Es bleibt uns nur noch übrig, auch des letzten Besuchers vor meiner Reise zu gedenken, des Mr. Charles Sherring, der im Sommer 1905 rings um die Seen wanderte. Er läßt den Indus auf der »Kailaskette« entspringen, was schon an und für sich ein sehr unklarer Begriff ist. Den Brahmaputra läßt er auf dem Marium-la oder in der unmittelbar im Süden dieses Passes liegenden Gegend beginnen, was mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt. Über die Quelle des Satledsch kann er nur mitteilen, daß Moorcroft sie gesehen habe und daß sie »gegenwärtig« bei Döltschu-gumpa liege. Er gibt ein vorzügliches photographisches Panorama des Kanals zwischen den beiden Seen und sagt, daß nach diesem Bilde jedermann entscheiden könne, ob es eine Verbindung gebe und wie sie beschaffen sei. Er hat ganz recht. Noch 1904 und 1905 bedurfte man photographischer Aufnahmen, um gewisse Zweifler von dem Vorhandensein eines Kanals zu überzeugen, den die Chinesen bereits vor zweihundert Jahren kannten. Im Jahre 1905 durchströmte den Kanal kein Wasser, aber Sherring hörte, daß nach heftigen Regen ein Abfluß stattfinde.
Wir sind jetzt zu den letzten Pulsschlägen in diesen umstrittenen Wasserwegen gelangt. Über meine eigenen Beobachtungen habe ich im zweiten Bande dieses Buches berichtet. Dort habe ich erzählt, daß die Seen im Jahre 1907 voneinander und auch von der Verbindung mit dem Satledsch abgeschnürt waren, falls sie keinen unterirdischen Abfluß nach diesem Flusse hin hatten. Auch in der Regenzeit, im August und September, war das Jahr außergewöhnlich trocken, und nur zweimal zogen leichte Schauer über das Hochland hin. Die Nomaden klagten allgemein über die Dürre, die Weiden standen gelb, das Gras verkümmerte, und man erwartete, daß die abgemagerten Schafherden, die während der warmen Jahreszeit auf knappe Kost gesetzt waren, nicht genügend Widerstandskraft besitzen würden, um den bevorstehenden Winter zu überdauern.
Viele Bette und Rinnen waren vollständig ausgetrocknet. Die zwölf Wasser führenden Bette, die in den Manasarovar mündeten und die ich maß, gaben dem See einen Zuwachs von 28,650 Kubikmeter in der Sekunde, also 2½ Millionen Kubikmeter im Tag. Und dennoch vermochten sie die Verdunstung nicht entfernt aufzuwiegen. Der Spiegel des Manasarovar stand 2,263 Meter unter der höchsten Schwelle des bei Tschiu-gumpa befindlichen Bettes. Drei Jahre vorher hatte Ryder dort einen nur zwei Fuß betragenden Höhenunterschied gefunden. Es war deutlich erkennbar, daß nur kräftige Regengüsse den Seespiegel in dem Grade erhöhen konnten, daß das Wasser in den Kanal hinein- und am Kloster vorüberströmte.
Im Sommer 1908, als ich den Manasarovar zum zweiten Male besuchte, war keine Veränderung darin eingetreten. Doch während der Regenzeit desselben Jahres tat der Südwestmonsun gründlich seine Pflicht. Oft stürzte der Regen während meines Zuges längs des Satledschlaufes in Strömen herab. Man kann es als sicher ansehen, daß die zwölf größeren und die unzähligen kleinen Gewässer, deren Sammelplatz der Manasarovar ist, damals dem See eine Wassermenge zuführten, welche die des Jahres 1907 vielleicht um das Zehnfache übertraf. Ebenso gewiß ist es, daß sich der Seespiegel langsam aber sicher hob.
Ich vermutete, daß die Trockenperiode vorbei sei und daß ihr eine andere, die sich durch ergiebigere Niederschläge auszeichnete, folgen werde. Aber wie sollte ich erfahren, ob ich recht hatte oder nicht?
Da fiel mir mein Freund Gulam Rasul ein, der reiche Kaufmann in Leh, der alljährlich Karawanen von dieser Stadt nach Lhasa schickt. Er war ein kluger, gebildeter Mann und hatte mir schon früher geholfen. An ihn schrieb ich, um ihn zu bitten, daß er sich erkundige, wie es sich mit den Regenzeiten der letzten Jahre verhalten habe und ob aus dem östlichen See Wasser nach dem westlichen und aus dem westlichen nach dem Satledsch geströmt sei.
In einem Briefe, der aus Leh vom 12. Juni 1911 datiert ist, teilte er mir mit, daß im Herbst 1909 »eine ganze Menge Regen« gefallen sei und daß die Regenzeit des Jahres 1910 beinahe drei Monate gedauert und bedeutend ergiebigere Niederschläge gespendet habe als das Jahr vorher. Alle Wasserrinnen waren gefüllt, und »es war auch ein rauschender Fluß in dem Bette bei Tschiu-gumpa«. Das Wasser strömte in den Rakas-tal hinein. Damit war also das eine Glied wieder in die zerbrochene Kette eingefügt worden. Das andere Glied, der Abfluß vom Rakas-tal nach dem Satledsch, trat dagegen nicht in Wirksamkeit. Thakur Jai Chand, der Agent der indischen Regierung in Gartok, hat, wie ich noch bemerken möchte, Gulam Rasuls Angaben bestätigt. Es ist klar, daß erst nach mehreren aufeinanderfolgenden ergiebigen Regenzeiten der untere See so hoch steigt, daß sein Wasser abfließen kann.
Es würde zu weit führen, jetzt auf alle die interessanten Fragen, die mit diesem hydrographischen Probleme Zusammenhängen, wie Vorrücken oder Rückgang der Gletscher, die Regenmenge in den meteorologischen Stationen des westlichen Himalaja, die Hungerjahre in Indien und noch anderes, ausführlicher einzugehen. Ich habe nur zeigen wollen, daß die scheinbar einander widersprechenden Angaben der verschiedenen Reisenden einfach auf die periodischen Veränderungen zurückzuführen sind, welche die Seen zeitweise übertreten lassen und sie dann wieder zeitweise vom Satledsch abschnüren.
Alle Berichte, die aus der Zeit vor 1904 stammen, sprechen von einem Abfluß aus dem Manasarovar. 1812 und 1816 war der See isoliert; 1817 bis 1819 hatte er Abfluß; 1843 scheint er abgeschlossen gewesen zu sein; von 1865 bis 1900 gibt es nur drei brauchbare Nachrichten, die alle von der Isolierung des Sees sprechen, was indessen nicht verhindert, daß er in dieser langen Zeit gelegentlich wieder Abfluß gehabt haben kann, obwohl gerade niemand da gewesen ist, um die Tatsache festzustellen. Im Jahre 1904 kann das Bett Wasser geführt haben, aber von 1905 bis 1908 hat es trocken gelegen. Im Jahre 1909 beginnt eine neue Periode mit Abfluß.
Der untere See hat sicherlich in den Jahren 1715 und 1762 nach dem Satledsch hin Abfluß gehabt. Aus späteren Zeiten besitzen wir darüber keine zuverlässigen Nachrichten. Es hat den Anschein, als ob der See wohl gegen hundert Jahre isoliert gewesen sei, und die entgegengesetzten Angaben der Tibeter stehen gar zu sehr miteinander in Widerspruch. So viel ist jedoch gewiß, daß die Periode, die ihren Einfluß auf den Rakas-tal ausübt, höherer Ordnung ist als diejenige, welche durch ihre Veränderungen den Manasarovar zum Oszillieren bringt. Jene umfaßt ein Jahrhundert, vielleicht auch ein paar Jahrhunderte, diese aber nur einige wenige Jahre. So finden wir, daß in dem Zeiträume, während dessen der Rakas-tal vom Satledsch abgeschnitten gewesen ist, der Manasarovar vier oder fünf Abflußperioden gehabt hat und ebenso oft abflußlos gewesen ist.
Die beiden Seen wirken daher wie die feinsten und empfindlichsten Instrumente in der Hand des Wetters und der Winde. Keine von Menschen erdachten Apparate könnten genauer über die Herrschaft des Südwestmonsun über das Land zwischen den hohen Gebirgen Auskunft geben, und keine Regenmesser, wie zahlreich man sie auch aufstellte, könnten einen klareren, einheitlicheren Begriff von dem Verhältnisse der Niederschlagsmenge zu dem durch das Satledschbett abfließenden Oberflächenwasser geben. Es ist nur schade, daß sich so selten jemand die Mühe macht, dort hinauf zu ziehen und das vorzügliche Instrument abzulesen!
Da die periodischen Veränderungen des Abflusses des Manasarovar vor unsern Augen noch immer andauern, ist kein Hindernis vorhanden, daß es sich auch mit dem Rakas-tal in Zukunft nicht ebenso verhalten kann. Gegenwärtig befindet sich dieser See in einer sinkenden Kurve, oder die absolute Höhe seines Spiegels steht vielleicht auf einem stationären Minimum. Doch diese Kurve kann wieder steigen, und schließlich kann sich das überschüssige Wasser wieder ebenso mit dem Satledsch vereinigen wie in den Tagen, als die Topographen des Kaisers Kang Hi eine Karte von Südtibet aufnahmen.
Das Wasser des Manasarovar ist süß wie Flußwasser, was ganz natürlich ist, weil der See Abfluß hat, wenn dieser auch nur zeitweilig stattfindet. Man muß das Wasser nicht an den Ufern auf seinen Geschmack hin prüfen, weil dort verfaultes Seegras und tote Algen in braunen oder schwarzen Wülsten zusammengeballt liegen. Einer der europäischen Gäste am heiligen See hat zu beobachten geglaubt, daß das Wasser einen Beigeschmack habe. Hätte er Gelegenheit gehabt, in einem Boote weit genug vom Ufer hinauszurudern, so würde er bereitwillig zugegeben haben, daß man aus keinem Gletschersee herrlicheres Trinkwasser schöpfen könne.
Der Rakas-tal, der schon vor vielleicht hundert Jahren seinen oberirdischen Abfluß eingebüßt hat, ist dennoch ebenso süß wie sein Nachbarsee, was auf eine immerwährend vorsichgehende Erneuerung und unterirdischen Zufluß schließen läßt. Bevor das Wasser jenes Sees nicht einen merkbaren Beigeschmack nach Salz angenommen hat, kann keine Rede davon sein, daß er vom Flußsysteme des Satledsch abgeschnürt ist.
Der unerhört trockene Sommer des Jahres 1907 eignete sich sehr zu Flußmessungen. Keine lokalen Regengüsse brachten gewisse Flüsse zum Anschwellen. Alle wurden ruhig und gleichmäßig unter gleichartigen Verhältnissen gespeist. Von den 28,650 Kubikmetern, die dem Manasarovar in jeder Sekunde zuströmten, entfielen 11,260 auf den Tage-tsangpo. Der zweitgrößte Bach, der vom Gurla-mandatta herabkam, hatte nur 2,860 Kubikmeter, also ein Viertel der Wassermenge des Tage-tsangpo. Es ist also nicht schwer zu entscheiden, in welchem der beiden man die Quelle des Satledsch sehen muß. Chinesen und Tibeter sagen, im Tage-tsangpo, und sie haben vollkommen recht!
In seiner hübschen Abhandlung über die viel zu dürftigen und flüchtigen religionsgeschichtlichen Mitteilungen, die in den beiden ersten Bänden dieses Buches enthalten sind, ruft Freiherr Anton von Ow über den Manasarovar der Hindus und den Tso-mavang der Tibeter aus: »Hier, auf der merkwürdigsten Höhe des Erdkreises, haben wir also den See leibhaftig vor uns, der vor mehreren Tausend Jahren schon als mythischer See Haomas und Schiwas gepriesen wurde; hier haben wir vor uns den mythischen Pushkara, den Lotusteich, aus welchem Brahma sich erhebt, hier den mythischen See Chin der Chinesen, in dessen Mitte das göttliche Knäblein auf Lotus gebettet ruht!«
In erhabenen Hymnen von den Dichtern des grauen Altertums besungen, ein Wohnsitz hoher Götter, ein Spiegel unter Brahmas Paradies und Schiwas Himmel, ein Ziel der Sehnsucht unzähliger Pilger, ein Zufluchtsort der Königsschwäne der Sage, der Wildgänse der Wirklichkeit – liegt der wunderbarste See der Erde träumend zwischen den mit Schnee bedeckten Gipfeln des Hochgebirgs.
Der Manasarovar ist nicht tot wie die tausend Salzseen in Tibet. Er schläft nur in ruhigen Nächten, wenn die Stille des Todes über seiner spiegelblanken Oberfläche liegt und die Silberlinien des Mondes sich in den Wellen hinter dem Boote des Fremdlings schlängeln. Aber er lebt und atmet, wenn der Sturm in wütender Raserei über sein Wasserfeld hinfegt und seinen Busen in glasklaren, smaragdgrünen Wellen wogen läßt, und wenn die Brandung eintönig und dumpf gegen die Ufer schlägt. Er öffnet seine Arme weit, um den schäumenden Bach zu empfangen, der von den Gletschern des Gurla herabstürzt und wie Gold in der Sonne glitzert, sobald seine Flut den Schatten des Wolkenmantels und der Granitschlucht verlassen hat. Man glaubt, die Pulse des Seegottes klopfen zu fühlen, wenn das Wasser von Zeit zu Zeit durch die Ader des Gangabettes rinnt. Man glaubt, das Morgengebet des Sees zu hören, wenn auf den Tempeldächern die Kupferposaunen ertönen und die Pilger Buddhas ihr ewiges » Om mani padme hum« murmeln.
Am Manasarovar.
Aquarell des Verfassers.
An Lichtern und Schatten, an Farben und Beleuchtungen, an Stimmungen, die mit den Stunden und den Jahreszeiten immerfort wechseln, an entzückenden Aussichten und an fesselnden Bildern ist der Manasarovar der schönste unter den Seen Tibets. Als ich einmal am Westufer mein Lager aufgeschlagen hatte, fühlte ich, wie nach einem windigen Tage die drohende Stille eintritt, die der Vorbote des Sturmes ist. Im Norden wird es dunkel; schwere, blauviolette Wolkenmassen ziehen über dem Hochlande hin. Die Höcker des Pundiberges heben sich schwarz ab gegen die ersten blaugrauen Fransen, die Herolde der Sturmwolken. Der Fuß des Berges schillert ziegelrot und sticht grell gegen das malachitgrüne Wasser ab. Eine Weile nach dem Ausbruche des Orkans zischt der ganze See in schäumenden, weißen Wogen. Ganz hinten im Osten ist seine aufgewühlte Oberfläche.so grün wie Lorbeer und Syringen, aber nach dem Westufer zu werden die Töne immer heller, und in der Nähe dieses Ufers glänzt das Wasser in der frühlingsgrünen Farbe des Birkenlaubes. Die ruhigen Lagunen, die durch Lehmwälle vor dem Wellengänge geschützt sind, schillern blauviolett vom Widerschein der Sturmwolken. Auf dem Titelbild zu diesem Bande habe ich das Nordostufer des heiligen Sees mit dem Pundiberg bei einem heraufziehenden Sturm dargestellt. Die hier eingeschaltete bunte Tafel gibt ein Bild der am Nordwestufer des Manasarovar sich erhebenden Hügel.
Zauberhaft ergreifend und märchenhaft schön ist das Bild, das sich in einer Abendstunde im Westen aufrollt. Die Sonne ist gerade untergegangen; aber ihr gleißendes gelbes Gold zögert noch wie ein blendendes Strahlenbündel am Rande des Horizonts. Der ganze Himmel ist grell schwefelgelb, und der See sieht aus wie flüssiger Bernstein. Eine kurze Weile. Dann flammt der westliche Himmel in roten Farbentönen, auf deren Hintergrund sich die Berge pechschwarz abzeichnen. Majestätisch und unveränderlich erhebt sich im Norden der stahlgraue Scheitel des Kailas, und bald breitet die neue Nacht ihre Schatten über seinen Firnfeldern aus.
Am schönsten ist jedoch der Morgen, wenn die Sonne ihren Siegeszug über die Erde hin beginnt und erst die Gipfel in Purpur entflammen läßt, um dann ihr Gold über den ewigen See und seine heiligen Ufer auszuschütten.
Der Anblick dieses Sees stimmt den Fremdling unwillkürlich andächtig. Er wird in seinen Gedanken nicht durch die Nomaden gestört, die mit ihren schwarzen Zelten und weißen Herden das Land bevölkern, und ebensowenig durch die Mönche, die unermüdlich ihre Gebetmühlen drehen. Dieser See ist selbst gewissermaßen eine gewaltige Gebetmühle, um deren Achse ein Ring frommer Pilger kreist. Soweit Urkunden und Legenden in der Zeit zurückreichen, hat der Manasarovar die Sehnsucht der Menschen und ihre Gebete an sich gezogen. Auf seinen Ufern betritt man einen Boden, der schon klassisch war, als Rom gegründet wurde. Hier summen Sagen und Märchen um alle Felsen und an allen steilen Wänden, und hier schwimmt Siwa als Schwan am Fuße des Götterbergs.
Daher ist auch der Satledsch so vornehm unter den Flüssen des Landes der Lamas. Dann und wann verweilt er in den Armen des heiligen Sees, als ob er dort neue Kräfte sammeln wolle für die wilden Kämpfe, die auf dem langen Wege nach der Küste seiner warten. Doch wenn die Stunden des Ausruhens vorüber sind, die in ihrer Kürze und Flüchtigkeit geologischen Sekunden gleichen, dann sammelt der von neuem geborene Fluß seine Kräfte und durchbricht die Landenge. Reicht seine Kraft aus, so sprengt er auch die Fesseln, mit denen der Rakas-tal ihn gefangen hält. Im Gegensatz zum Indus und zum Brahmaputra erfreut sich der Satledsch nur einer kurzen Jugendzeit, deren Grenzsteine die Parallelketten des Himalaja und die äolischen Beckenfüllungen in Hundes sind. Schon bei Schipki beginnt das reife Alter, die Zeit der rauschenden, stürmischen Arbeit, mit der der Fluß sich mit unbeugsamer Energie sein Bett quer durch den Himalaja sägt. Schweigend und müde, majestätisch ruhig und würdevoll tritt er aus den Bergen heraus, um die Ebenen des Pendschab zu durchströmen; dies ist die Zeit des Alters. Schließlich verbindet er sein Geschick mit dem des Indus. Trübe und durch Indiens Erde belastet gleiten die sterbenden Ströme leise und still in das öde Meer hinaus, das den Erdball ringsum umspannt.