Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Reise, die ich am 30. Juni antrat, war ein gewagtes Unternehmen. Wohl konnten wir noch einige Tage mit den in Selipuk erhaltenen Geschenken auskommen, und die beiden Jünglinge, die uns mit ihren Yaks schon vom Pedang-tsangpo an begleiteten, hatten sich glücklicherweise überreden lassen, noch eine Strecke weiter mit uns zu ziehen. Erst aber wollten sie ihren rückständigen Lohn haben. Nachdem er ihnen eingehändigt worden war, bestand meine Reisekasse aus zwei kleinen Silbermünzen, einer Tenga und einem Sechsannastück, deren Wert zusammen wenig mehr als eine Mark betrug. Die Bettler, die uns beim Abziehen bestürmten, fanden uns geizig, weil wir ihnen nicht einmal einen Kupferheller gaben.
Ich weiß kaum, was ich mir eigentlich dachte; es war, als ob ich mich immer weiter auf dünnes Eis hinauswagte, bis es brach. Die Hauptsache war, die Leute aus Pedang bis Toktschen behalten zu können, denn von dort würde ich endlich einen Boten nach Gartok zu senden imstande sein. Aber wie würde es uns gehen, wenn sie mitten im Transhimalaja streikten? Das mußte die Zukunft lehren. Man kann viel aushalten, ehe man daran stirbt, und auf irgendeine Weise mußten wir uns durchschlagen.
So zogen wir denn an den Klostermauern vorbei. Dort trat Dschamtse Singe heraus, ergriff mein Pferd beim Zügel und führte es mit seiner eigenen heiligen Hand eine Strecke weiter. Dann verbeugte er sich zum Abschied, und bald war das Kloster hinter den Hügeln verschwunden und dem Schatze der guten, freundlichen Erinnerungen einverleibt, die ich von Tibet bewahre.
Der Pfad führt auf eine gewaltige Ebene hinaus, die größte, die ich im Norden des Transhimalaja gesehen habe. Drei Zelte und einige weidende Yaks, sonst ganz unbelebt! Hartes Gras wächst in Büscheln und Strähnen auf Höckern und Bällen von Wurzeln, und auf dem unebenen Boden sind die Pferde oft nahe daran, kopfüber hinzupurzeln. Zweimal überschreiten wir den gewundenen Sumdang-tsangpo. Sein Grund ist tückisch, und das Pferd, auf welchem Kutus ritt, wäre beinahe im Schlamm versunken.
Rartse heißt der Teil der Steppe, auf welchem Hirten ihre Herden weideten. Dort schlugen wir das Lager 441 auf. Nach meiner Gewohnheit zeichnete ich ein Panorama des Gebirges um uns herum. Besonders hier hatte ein orientierendes Bild seine Bedeutung, denn im Süden erhoben sich die kompakten Mauern des Transhimalaja. Ich war mit der Zeichnung fertig und trug gerade die Kompaßpeilungen hoher Gipfel und tiefer Täler ein, als Lobsang mir meldete, daß sich vier Männer und ebensoviele beladene Maulesel mit Windeseile unserm Lager näherten. Erstaunt und fragend betrachtete ich die kleine Schar durch das Fernglas. Sie kam näher und vergrößerte sich. Infolge der Luftspiegelung schien sie um Haaresbreite über der Erde zu schweben.
»Der Mann im gelben Mantel ist Abdul Kerim!« rief Kutus aus.
»Sedik und Gaffar sind auch dabei«, sagte Gulam.
»Der vierte ist ein Tibeter,« behauptete Lobsang.
Eine Weile darauf waren alle unsere Rätsel gelöst, und unsere Besorgnis war vorüber. (Vgl. Bd. II, Seite 363). Die Zukunft strahlte mir wieder in rosigem Licht! In kleine Säcke eingenäht brachte Abdul Kerim unsere noch übriggebliebenen 2684 Rupien mit, und meine finanzielle Lage war jetzt glänzend! Wir brauchten uns auf dem Wege nach Simla nichts zu versagen, und die Leute aus Pedang, die uns in mißlichen Zeiten treu geleitet hatten, sollten königlich belohnt werden.
Noch fehlten vier unserer Leute; sie hatten Lastyaks und marschierten daher langsamer, aber sie waren jetzt doch auf der richtigen Fährte. Die Karawane war jedenfalls wesentlich verstärkt, als wir am 1. Juli, nach 5 Grad Kälte in der Nacht, auf der Steppe weiterzogen. Nach einer Weile nahm der Grasgürtel ein Ende, und anstatt seiner erstreckte sich ein außerordentlich flacher Schutt- und Sandkegel bis an den Fuß des Gebirges. Auf seinem Abhang war noch eine ganze Reihe alter Uferwälle zu unterscheiden. Man sah ganz deutlich, wie getreu sie sich den Formen aller Hügel und vorspringenden Felsen anschmiegten, wie die Abstände zwischen ihnen sich in allmählich abfallendem Terrain vergrößerten und wie sie sich auf steilen Hängen zu Bündeln zusammenzogen. Der höchste Uferwall mochte wohl sieben Meter über seiner Umgebung liegen, und auf der obersten deutlich erkennbaren Ufermarke (4874 Meter) befanden wir uns 126 Meter über dem Spiegel des Nganglaring-tso.
So weit hatte der See sich ehemals während einer Periode erstreckt, in der die Niederschläge ergiebiger gewesen waren als jetzt. Die ganze Ebene bei Selipuk stand damals unter Wasser, und der Tengri-nor im Osten hatte im Westen am Nordfuße des Transhimalaja ein würdiges Gegenstück. Im Laufe der Zeiten verringerte sich die Menge der Niederschläge, der große See verlor an Umfang, und in unsern Tagen ist nur noch das salzige Wasser übrig, das das Becken um die Felseninseln des Nganglaring-tso herum füllt. Doch die alten Strandlinien und die Uferwälle sind noch vorhanden, und in ihnen schlummert ein fossiles Echo des Rauschens einer uralten Brandung.
Der Weg führt südwestwärts über einen kleinen Paß und in einem mit Gras bewachsenen Tale bergauf, wo wir an der Quelle Kjangjang die Nacht im Lager 442 zubrachten. Fünf Nomadenzelte waren dort aufgeschlagen. Aus dem einen eilten zwei Männer heraus, um uns, zu unserm eigenen Besten, den Rat zu geben, nicht hier zu lagern, weil in einem der Zelte ein Greis an einer ansteckenden Krankheit im Sterben liege. Die Geschichte kannten wir schon. Wir konnten Landstreicher sein, und weil ihnen daran lag, uns los zu werden, wollten sie uns mit den schwarzen Pocken und der Pest fortscheuchen.
In dünnen Schauern regnete es schon seit Mittag; Dschamtse Singes und der Hirten wegen freute ich mich darüber. Gegen Abend erhob sich ein Südweststurm, der im Tale schrecklich heulte. Das Kohlenbecken war nötiger als je; man wickelte sich in Pelze ein und hätte glauben können, ein neuer Winter nahe heran.
Drei ganze Tage brachten wir im Tale Kjangjang zu, oder, wie das ganze Gebiet heißt, in Kjangjang-lobtschang, wobei zwei westlichere Täler mitgerechnet werden; es steht unter der Herrschaft von Selipuk. Wir mußten auf die vier noch fehlenden Leute, Suän, Abdullah, Abdul Rasak und Sonam Kuntschuk, warten. Am Abend des 3. Juli sahen wir sie eiligst auf das Lager zuschreiten, und es war rührend, ihre Freude über das Wiedersehen zu beobachten. Vor mir warfen sie sich zu Boden, und ihre Kameraden umarmten sie unter Tränen. Abdul Rasak weinte derart, daß er vor Erregung nicht stillstehen konnte. Bald hob er den einen Fuß, bald den andern in die Höhe und stampfte damit wie in einer Weinpresse. Herzloserweise mußte ich mich über den Anblick dieser unbeherrschten Freude halbtot lachen.
Schon bevor die drei Tage verstrichen waren, hatten die Bewohner der Quelle von Kjangjang ihre Furcht überwunden. Sie erkannten, daß wir es nur gut mit ihnen meinten. Ein älterer Mann, der früher Gova des Ortes gewesen war, versprach mir die dreizehn Yaks, deren ich bedurfte, wenn ich mich nur noch ein paar Tage gedulden wollte. Daher konnten die Leute vom Pedang-tsangpo entlassen werden. Sie erhielten doppelten Lohn. Sie hatten mir vorzügliche Dienste geleistet und hatten geholfen, den Schovo-tso zu entdecken und nach dem Nganglaring-tso hinzufinden. Seelenvergnügt zogen sie gleich an demselben Abend ab, um in ihre Heimat zurückzukehren.
Tibetische Modelle.
1 u. 2. Frauen aus Kjangjang.
3. Nomade vom Nganglaring-tso.
4. Frau aus Toktsche.
Aquarelle des Verfassers.
Die Herolde des Südwestmonsun strichen wie dunkle Schatten über dem Tale hin, und am 2. Juli regnete und schneite es abwechselnd beinahe den ganzen Tag hindurch. Der Schnee fiel nicht in Flocken, sondern in kleinen, runden Körnern, die bald auftauten. Im Transhimalaja schneit es sogar im Hochsommer. Unser Lager befand sich aber auch 4977 Meter über dem Meere.
Auch am 3. Juli strömte der Regen eintönig prasselnd bis zur Abenddämmerung herab. Die Nomaden waren entzückt darüber. Wir hatten die ersten Regentage dieses Jahres mitgebracht. Vielleicht waren sie auch deshalb so freundlich zu uns. Aber draußen zu arbeiten, war unmöglich. Und einen ganzen Tag lang müßig dazusitzen und zuzuhören, wie der Regen auf mein zerlumptes Zelt trommelte, das konnte ich nicht aushalten. Daher wurden unsere Nachbarn benachrichtigt, daß jedes weibliche Wesen, das sich in Abdul Kerims großem weißem Zelte (Abb. 80, 81) einfinde, um sich abkonterfeien zu lassen, eine Rupie erhalte, jedes männliche aber eine Tenga. Die Frauen sollten ihre besten Kleider anlegen und alle Schmucksachen, die sie in ihren Verstecken aufstöbern könnten.
80. Abdul Kerims großes Zelt. (S. 91.)
81. Neugierige Besucher. (S. 91.)
Eine Stunde verging und noch eine, aber Modelle ließen sich nicht blicken. Man muß es ihnen verzeihen; sie waren blöde und zerbrachen sich den Kopf darüber, was dies zu bedeuten habe. Das schnöde Geld machte schließlich ihren Bedenklichkeiten ein Ende. Ich hörte Ketten und Gehänge klappern und sah sie langsam über die Wiese herannahen, einem Hochzeitszuge mit Brautjungfern, Trauzeugen und Gästen ähnlich. Zaudernd und linkisch blieben die Tibeter zwischen unsern Zelten stehen. Da begann der Regen heftiger herabzuströmen, und unsere Gäste konnten froh sein, als Lobsang sie zu Abdul Kerim hineintrieb. Sein Zelt hatte oben in der Decke einen länglichen Rauchfang, durch den das Licht hereinfiel, leider aber auch der Regen, und ein provisorischer Regenschirm mußte daher über meinem Zeichenbrette ausgespannt werden.
Sie waren wirklich stilvoll, diese Damen des Kjangjangtals! Einige von ihnen sind auf der beigehefteten bunten Tafel und auf der bunten Tafel zu Seite 272 des ersten Bandes abgebildet. Anfänglich saßen sie schweigend da, sahen sich im Zelte um oder schneuzten sich ostentativ mit den Fingern. Aber die Schüchternheit legte sich bald. Die Ladaki scherzten mit ihnen, und in Kürze hörte man die ländlichen Schönheiten so ungeniert mit ihnen schwatzen und lachen, als ob auch sie aus Ladak gebürtig seien. Als ich sagte, daß die abkonterfeiten Modelle nach Hause gehen könnten, blieben sie trotzdem bei uns im Zelte sitzen. Furchtlos beantworteten sie meine Fragen nach ihrem Alter und ihren Namen, und mit sichtlichem Stolz erzählte mir ein junges Mädchen, daß das lange Rückentuch auf tibetisch »Pale« heiße, die Metallplättchen »Raktig« und die aufgenähten Muscheln »Dundok«.
Eine ehrenwerte Matrone, die 38jährige Norsum, trug auf der Stirn eine Reihe an Korallensträngen herabhängender Silberrupien. Ganz oben auf dem Scheitel hatte sie ein mit wohlfeilen Korallen und schlechten Türkisen dicht besetztes rotes Tuch. Ihr Haar war in eine Menge dünner Zöpfe geteilt, in welche Ketten aus weißen und blauen Glasperlen eingeflochten waren. Ihr Hals verschwand unter vielreihigen Perlenketten aus gefärbtem Glas. Die beiden Tücher, die schleierähnlich vom Scheitel herab über den Rücken fallen, sind in geometrischen Figuren aus grünem und rotem Zeug zusammengenäht. Nach oben zu sind sie mit Rupien, Annastücken und indischen Kupfermünzen verziert, und inmitten dieser Münzsammlung sind viereckige Silberplättchen festgenäht. Weiter abwärts folgen die Pilgermuscheln in doppelten Reihen; zu unterst sitzt eine Anzahl indischer Uniformknöpfe, einige aus Messing, andere versilbert, alle mit dem Wappen des englischen Reiches oder der Chiffre eines Regiments. Schwerlich ahnte der Tommy Atkins, der diese Knöpfe getragen, daß sie noch einmal der Stolz einer Frau in den ewigen Schneebergen Tibets sein würden!
Ich schätze ein derartiges Gewand auf 250 Rupien oder etwa 340 Mark Wert. Es waren ja schon hundert Rupien in barem Gelde daran. Je älter die Damen waren, desto feiner waren sie ausstaffiert; die jungen hatten höchstens eine Perlenkette um den Hals, und die Verzierungen ihres Rückentuches waren aus Kupfer. Sicherlich erfordert es Zeit, die Sammlung vollständig zu machen. Alles hängt vom Regen ab. Nach reichlichen Niederschlägen wird das Gras saftig, die Schafe bleiben gesund und werden fett. Dann wächst der Wohlstand der Nomaden, und ihre Frauen können es sich leisten, irgendeinem umherziehenden Krämer ein Halsband abzukaufen oder sich eine Rupie auf das Rückentuch zu nähen. Auf unerforschlichen Wegen kommt ein neuer Uniformknopf nach Tibet, und sie kaufen ihn sich. Jetzt konnte jedes der Modelle seinem Staate eine neue Rupie hinzufügen.
Ein paar alte Weiber hatten überhaupt keine Schmucksachen, warteten aber trotzdem geduldig, bis die Reihe an sie kam. Augenscheinlich hatten sie das Alter erreicht, in welchem die Mutter ihre Schmucksachen einer Tochter überläßt, die sich Bräutigame angeschafft hat, oder dem jungen Mädchen, das, wenigstens teilweise, ihre Schwiegertochter werden wird. So kann es vorkommen, daß an einer Ausstattung zwei Generationen gearbeitet haben, ehe sie vollständig geworden ist. Älter als zwei wird sie wohl selten, denn das Leben ist in Tibet etwas Ungewisses; wenn der Regen ausbleibt, vertrocknet das Gras, die Herden schmelzen zusammen, und die Nomadenweiber sehen sich aus Not gezwungen, ihre Schmucksachen zu verkaufen.
Am Tage darauf wurde ich von Modellen fast überflutet. Sie kamen auch von andern Zelten in benachbarten Tälern, wohin sich das Gerücht von der so leicht zu erwerbenden Rupie schon verbreitet hatte. Nun aber machte mir die Sache keinen Spaß mehr, und ich konnte auch kein Papier mehr daran wenden. Ihre Rupie erhielten sie dennoch, ihres guten Willens wegen und zu freundlicher Erinnerung.
Das Fest des Wiedersehens wurde an einem pechfinstern Abend gefeiert, als der Regen in der Glut des Lagerfeuers zischte. Suän war der Vergnügungsdirektor der Karawane. Er tanzte um das Feuer und stimmte die fröhlichen Lieder aus Ladak an.
Die Nacht auf den 5. Juli brachte 6,3 Grad Kälte. Dreizehn Jaks standen bereit, um das Gepäck zu übernehmen. Meine eigenen Tiere sollten möglichst geschont werden; wir konnten ihrer in Gegenden bedürfen, wo die Bevölkerung weniger freundlich gesinnt war als hier im Innern, dessen Bewohner noch nie einen Europäer gesehen hatten. Der ehemalige Gova von Kjangjang versah mich mit einem Schafe und einer Ziege und verschaffte meinen Pferden Gerste und den Leuten Butter. Er hatte sich in unserer Gesellschaft so gemütlich gefühlt, daß er bat, mich eine Tagereise weit begleiten zu dürfen; es war mir dies sehr willkommen, der Auskunft wegen, die er über den Weg geben konnte.
Zwischen den Porphyrfelsen des Tales reiten wir langsam zu dem Passe Kjangjang-la (5157 Meter) hinauf. Schafe und Yaks werden in großer Menge in dem üppigen Grase eines von Mauselöchern durchzogenen Bodens. Auf dem Sattel des Passes erblickten wir in unserer Nähe die ziemlich flachen Schneegipfel des Lavar-gangri, deren Bekanntschaft wir schon in Selipuk gemacht hatten. Auf der andern Seite des Passes zeigen sich das Tal des Lavar-tsangpo und der Fluß selbst, an dessen Ufer elf schwarze Zelte errichtet waren. Hier schlugen auch wir unser Lager 443 auf.
In der Nacht ging die Kälte auf 10,9 Grad unter Null hinunter, am 6. Juli, in 31½ Grad nördlicher Breite! Die absolute Höhe ist es, die den Ausschlag gibt. Vom Winter kann man in einem solchen Lande kein Erbarmen erwarten. Zwei volle Tage zogen wir am linken Ufer des Lavar-tsangpo hinab und sahen, wie der Fluß durch die Gewässer, die er aus den Seitentälern erhielt, langsam anschwoll. An dem Punkte, wo wir den Lavar-tsangpo seinem Schicksal überlassen, sehen wir den Fluß sich nordwärts nach dem Punkte seiner Vereinigung mit dem mächtigeren Aong-tsangpo hinschlängeln. Aber vorher streift der Fluß beinahe den Damrap-tso, einen kleinen, länglichen See, dessen Ufer weiß von Salz glänzen. Jeder Schritt führte über unbekannten Boden, den noch nie andere als tibetische Sohlen betreten hatten. Das Land ist wie immer sehr spärlich bevölkert, aber Wild kam in reichlicherer Menge vor als bisher; ich sah Kiangs, Pantholops- und Goaantilopen und Hasen in Massen.
Am 8. Juli erwachten wir im Lager 445 (5196 Meter) bei kaltem, windigem Wetter zu einem interessanteren Tagesmarsche. Daß wir über eine Bergkette ersten Ranges hinüber mußten, konnte ich mir sagen, denn während der beiden vorhergehenden Tage hatte ich durch die Tore mehrerer Nebentäler den schneegekrönten Kamm einer mächtigen Kette gewahren können. Ob aber diese Kette eine Wasserscheide des Nganglaring-tso bildet, wußte ich nicht.
Wir hatten in der Mündung des Ding-la-Tales gelagert, wo am Ufer eines rauschenden Baches ein schmaler Grasstreifen wächst. Das Tal ist so eng, daß ein Weg dort nicht Platz finden kann. Man klettert daher an dem steilen, mit scharfkantigem Geröll aus grauem Granit übersäeten Hange der linken Talseite hinauf. Kein Quadratfuß des Abhanges ist schuttfrei; die Steigung ist stark, und die Pferde werden hufkrank. Die Jaks regen sich nicht auf; ihnen ist kein Weg unpassierbar. Durch dieses Geröll traben die Pilger von Selipuk nach dem Kang-rinpotsche.
Ziemlich hoch über dem Boden des Ding-la-Tals führt die Straße bald südwärts, bald nach Südwest. Wir hatten daher eine herrliche Aussicht über die mächtige, hohe und wildzerklüftete Hochgebirgsmauer der gegenüberliegenden rechten Talseite, welche in drei gleichgestaltigen Anschwellungen mit Hauben aus ewigem Schnee gipfelte; die in Eis verwandelten Zipfel dieser Hauben hingen wie Hängegletscher nach der Taltiefe.
Eine letzte Wegbiegung führt in südlicher Richtung durch neue Granitschuttmassen zu dem hügeligen Sattel hinauf, der unter dem Namen Ding-la oder Tschargo-ding-la bekannt ist. Auf ihren Stangen klatschen die Wimpel des Passes in stark verdünnter Luft, und das Steinmal, ein Bruder der Wolken, ist vielleicht das höchste auf der Erde, welches eine Karawanenstraße bezeichnet. Es ist auf einer Höhe von 5885 Metern über dem Meeresspiegel aufgehäuft. In Europa ist die Besteigung des Montblanc ein Höhenrekord, und dort hat man den Kontinent der weißen Menschen zu seinen Füßen. Auf dem Ding-la aber ist man um 1075 Meter höher!
Und doch ist die Aussicht weniger dominierend, als man hätte erwarten können. Im Norden verdecken die in der Nähe liegenden Kämme einen fernen Horizont. Nur der Quadrant zwischen Südosten und Südwesten gewährt dem Blick freien Spielraum. Dort erhebt sich eine ununterbrochene Bergkette mit einer Reihe kleinerer Schneegipfel. Dem Anschein nach ist sie viel weniger imposant als die Ding-la-Kette. Aber als Wasserscheide hat sie einen höheren Rang, denn von ihren Südabhängen strömt das Wasser zwei Meeren zu, dem Arabischen und dem Bengalischen, und nach Norden fließen ihre Bäche zum Nganglaring-tso. Die Ding-la-Kette wird von diesen Gewässern durchbrochen und ist also zweiter Ordnung.
Mit einem des Weges kundigen Tibeter erforsche ich den südlichen Horizont. Im Südosten thront in der Nähe ein Schneemassiv, dessen Firnbecken kurze Gletscherzungen in jähen Felsenbetten aussenden. In S 22° O zeigt ein anderer Schneeriese seine Königskrone zwischen den Wolken, und an seinem westlichen Fuße öffnet sich das Tal Da-teri, dessen Grund noch Wintereis anfüllt. Gerade im Süden erblickt man kaum eine Tagereise entfernt den kleinen See Argok-tso.
Nachdem wir dem » Om mani padme hum« der Wimpel des Ding-la-Passes lange genug gelauscht hatten, arbeiteten wir uns mühsam durch das Granitgeröll der andern Seite hinunter und lagerten an dem Quellbache Luma-nakbo in 5138 Meter Höhe (Lager 446), wo der Hagel vom Winde gegen unsere Zelte gepeitscht wurde.