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Vierundzwanzigstes Kapitel.
Seine Exzellenz der Grobian.

Gleich unterhalb des Klosterdorfes schlängelt sich die Straße drei scharfausgeprägte Erosionsterrassen hinauf, die alle drei ehemalige Lagen des Tales des Nebenflusses angeben. Droben auf den Höhen macht der Weg einen Bogen nach Norden und Nordosten; es ist geradezu fürchterlich, denn Simla liegt doch im Westen! Aber die Straße muß sich nach der wilden Plastik des Landes richten und sich da durchwinden, wo das Gelände ihr keine unübersteigbaren Hindernisse in den Weg legt.

Plötzlich macht meine kleine Schar am Rande eines ungeheuer tiefen Tales halt, eines Cañontales, das selbst einer der rechten Arme eines ganzen Systems gigantischer Erosionsrinnen ist. Vom Rande aus stürzt es senkrecht nach einer schwindelerregenden, mehrere hundert Meter unter mir gähnenden Taltiefe ab. Der Blick bestreicht diese ganze Mauer in Verkürzung, und man erhält einen ausgezeichneten Begriff von ihren verschiedenen Schichten, welche wechselnde Mächtigkeit haben, bald senkrecht sind, wo das Material hart ist, bald schräge Neigung haben, wo es loser wird; drunten in der Tiefe sieht man den letzten Schuttkegel in den Boden der engen Talrinne übergehen (Abb. 121). Das oberste Lager, auf dessen Boden wir stehen, besteht aus einem fünf Meter mächtigen Bett rotbraunen Geröllschuttes. Über seine ebene Fläche sausen die Winde des Himmels ungehindert hin, aber seine Seiten sind senkrecht. Von einem geeigneten Punkte aus erblickt man sogar einen Schimmer seiner Unterseite, denn die darunterliegende Schicht gelben Tones ist weicher und leichter der Vergänglichkeit preisgegeben. Die Schuttbank schiebt sich infolgedessen wie eine Leiste vor, die jeden Augenblick losbrechende Blöcke in den Abgrund hinunterzusenden droht.

121. Schlucht auf dem Wege nach Totling. (S. 260.)

Auf dem Gipfel, von welchem aus der Abstieg beginnt, befinden wir uns in einer absoluten Höhe von 4194 Metern. Das Land, über welches der Blick schweift, erregt wirklich Erstaunen, und keine Feder vermag seine bizarren Formen zu beschreiben. Unter meinen Füßen breitet sich eine gelbe Karte aus, ein Labyrinth tief und senkrecht eingeschnittener Erosionstäler, Korridore und Rinnen, die durch keilförmige Klötze aus Geröll und Ton voneinander geschieden werden. Dank der Erweiterung um Totling herum tritt der Satledsch im Norden hervor, aber sein Band rauschender Stromschnellen sieht in dieser Entfernung nur wie ein ganz feiner Faden aus. Man glaubt ahnen zu können, wie unterhalb von Totling und Tsaparang, das aus so weiter Ferne noch nicht zu sehen ist, das Satledschtal wieder zu einem engen Korridor zusammenschrumpft. Aber wo geht der Weg? Ist es möglich, daß man durch diese Irrgänge und an diesen abschüssigen Wänden hinuntergelangen kann, ohne sich ein Glied zu brechen?

Von der Stelle des Randes, wo das Steinmal steht, geht es sofort kopfüber bergab. Das Bild verändert sich an jeder Krümmung dieses in vielen scharfen Biegungen gewundenen Zickzackpfades. Man rutscht die Halden hinunter, man schleicht in beinahe vollständigen Kreisen um Hügel und Blöcke, ja manchmal muß man eine Weile mühsam aufwärtsklimmen, um einen nicht so steilen Abhang zu erreichen, von welchem aus dann der Abstieg aufs neue beginnt. Im großen betrachtet, geht der Weg nordwestwärts, was jedoch nicht verhindert, daß wir uns zuweilen nach Südosten, ja auch nach allen andern Strichen der Windrose bewegen.

Die weitumfassende Landschaft, die wir auf dem Gipfel erblicken, verschwindet sofort, wenn wir uns in die tiefen Cañonkorridore hineinverlieren, die ihre phantastisch unregelmäßigen Bahnen in typische Lößablagerungen eingegraben haben. Wir sind zwischen lauter gelben senkrechten Tonwänden eingeschlossen und bewundern ein Gewirr gelber Türme, Mauern und Burgen, deren wüste Fassaden sich in den engen Gassen einer verhexten Stadt erheben.

Jetzt zieht sich der Pfad wie eine schmale Wandleiste an einem jähen Abhange hin, und unter mir gähnt eine trockene Schlucht. Fein wie Puder bildet der Staub gelbe Wolken hinter den Schritten meiner Tiere. Dieser Weg ist nach Regen ungangbar. Das hätte ich mir selbst gesagt, auch wenn ich es nicht in Totling gehört hätte. Wohin man blickt, bieten sich ideale Rutschbahnen dar. Welche Glätte, wenn all dieser Ton naß wird!

Die freie Aussicht, die wir auf der »Leiste« hatten, wird uns wieder genommen, als der Weg in einer sehr steilen Rinne zwischen dreißig Meter hohen Lößwänden abwärtskriecht. Auf ihrem Boden liegt lockerer Staub, und man hat das Gefühl, auf Eiderdaunenkissen zu gehen. Über uns ist nur ein schmaler Streifen des Himmels sichtbar.

Dann wird es wieder hell. Zur Linken steht die Tonwand noch immer senkrecht da, auf der rechten Seite aber ist sie unterbrochen oder durch eine Reihe gelber Säulen und Würfel ersetzt, die eine Loggia bilden, eine Galerie, deren Lücken Aussicht über das Satledschtal gewähren. Wie oft hätte ich unterwegs verweilen mögen, um zu zeichnen! Aber hier ist es das Klügste, sich zu sputen. Der Himmel ist trübe, ein Regen kann kommen, und dann sitzt man fest!

Jetzt biegen wir um einen freistehenden kegelförmigen Hügel, der einem Fort gleicht, und kriechen vorsichtig auf dem Rücken zwischen zwei Rinnen dahin. Im nächsten Augenblick überschreiten wir einige Rinnen in der Quere. Es geht bergab und bergauf, nach rechts und nach links, durch Staub und Dunst. Die Tiere machen ihre Sache vortrefflich. Nur zweimal glitten die Lasten ab und verursachten einen Aufenthalt.

Schritt für Schritt gelangen wir durch das Lößbett tiefer hinunter und nähern uns immer älteren Horizonten der ungeheueren Beckenfüllung. In zwei Stunden sind wir durch eine Schichtenreihe hindurchgegangen, zu deren Bildung es mindestens zehntausend Jahre bedurft hat. Wir haben einen herrlichen Einblick in die Tätigkeit der aufbauenden und der zerstörenden Kräfte während vergangener Perioden erlangt.

Das Schuttbett droben, welches das Ganze wie ein Mantel bedeckt, wird sicherlich nach dem Fuße des Gebirges zu immer dicker und nach dem Satledsch hinab immer dünner. Unter diesem Bette sahen wir eine Folge wechselnder Schichten; zu allerunterst tritt anstehendes Gestein auf, das jedoch nur an den Ufern des Satledsch freiliegt.

Wenn wir diese ganze lose Beckenfüllung wegräumen könnten, so sähen wir vor uns ein flaches, offenes Muldental zwischen dem Aji-la im nördlichen und dem Gangmen-gangri im südlichen Gebirge, zwischen denen die Breite 95 Kilometer beträgt. So war auch dieses Land in einer Periode der Vorzeit, als allmählich eine Veränderung des Klimas eintrat, um alles umzugestalten. Das Klima wurde trocken, es fielen verschwindend geringe Niederschläge, das Hochland verwandelte sich in eine Steppe, aber über der Wüstenei trieben noch immer die Winde ihr Spiel. Auf ihren Flügeln trugen sie den feinen, durch die Verwitterung von den Bergen losgelösten Staub weiter, der nach und nach auf die Erde fiel, um dort äolische Ablagerungen zu bilden. Es dauerte lange Zeit, bis das Muldental damit in einer viele hundert Meter mächtigen Schicht angefüllt war. Aber als diese Ausfüllung beendet war, hatte Hundes eine Landschaftsform genau derselben Art wie die Becken Chinas und der Mongolei, die mit Staub, den die Winde herangetragen haben, ausgefüllt sind und die Richthofen »Lößmulden« genannt hat.

Eine derartige Mulde kann auf allen Seiten abgesperrt sein und des Abflusses ermangeln. Dann bleibt alles feste Material, welches Wasser und Winde nach der Mitte der Mulde tragen, innerhalb ihrer Grenzen liegen. Besitzt sie aber, gleich dem Satledschtale, nach dem Meere hin Abfluß, so fordern die Erosion und das abfließende Wasser ihr Recht, wenn ihre Zeit gekommen ist.

Und im Satledschtal ist das Wasser wieder zu seinem Rechte gelangt! Eine neue Klimaveränderung ist eingetreten, diesmal von Trockenheit zu Feuchtigkeit. Zu dem Wechsel hat es Jahrtausender bedurft. Langsam und sicher, vielleicht auch mit periodischen Störungen haben die Niederschläge sich vermehrt. Schließlich hat der Südwestmonsun den Himalaja mit außerordentlich heftigen und ungeheuer ergiebigen Regengüssen überflutet. Das Wasser hat sich zu mächtigen Flüssen gesammelt, die ihre Rinnen senkrecht durch die Lößablagerungen der Steppenperiode geschnitten haben. Das Ergebnis ist das wildzerschnittene Cañonland, das uns hier auf allen Seiten umgibt.

Die durchgreifenden klimatischen Veränderungen, die sich in Hundes und in vielen anderen Teilen Asiens als pluviale Periode mit ergiebigen Niederschlägen zu erkennen gaben, riefen in nördlicheren Gegenden die große Eiszeit hervor, in welcher Skandinavien und weite Gebiete Nordeuropas unter einer Eisdecke lagen. Die Pluvialzeit hat beredte Spuren hinterlassen, nicht nur in Hundes; die ungeheueren Terrassen an den Indusufern und die konzentrischen Uferlinien um alle Salzseen Tibets sind Andenken aus jener Zeit. Dazumal waren der Manasarovar und der Rakas-tal übervoll, und der obere Satledsch durchströmte sie beständig. Aber das nordische Inlandeis zog sich nach Norden zurück und verschwand um dieselbe Zeit, als die Niederschläge über dem Himalaja abnahmen. Es hat den Anschein, als ob das Klima während der gegenwärtigen Periode trockneren Zeiten entgegenschreite. Wir haben ja gesehen, daß der Satledsch vor kaum hundert Jahren vom Rakas-tal abgeschnitten worden ist, obwohl dieses Ereignis sehr gut nur ein Moment in einer Periode sein kann.

Schritt für Schritt und Biegung nach Biegung haben wir uns an den steilen Wänden hinuntergearbeitet; schließlich ist nur noch eine Reihe runder, flacher Hügel übrig, bevor wir auf ebenem oder schwach kupiertem Boden weiterreiten können. Ein Wimpelmal auf einem der letzten Hügel verkündet die Nähe von Totling-gumpa. Nun tritt auch die scharfbegrenzte, viereckige Klosterstadt am linken Ufer des Satledsch hervor. Ist es möglich? Eine Stadt in diesem unfruchtbaren Lande aus eitel gelbem Ton! Ja freilich; dort sehen wir jene dicht aneinandergedrängten Tempelgebäude unter chinesischen Dächern und jene hohen Tschorten, die Sinnbilder der Vergänglichkeit und der Erinnerung. Von Verwahrlosung und Verfall sprechen jene verwitterten uralten Gedenksteine des Lamaismus. Baufällige Häuser trotzen noch der Zeit zwischen den Ruinen anderer, die längst eingestürzt sind. Die rotangestrichenen Klostergebäude tragen Spuren des Regens, des Frostes und des Sonnenbrandes, und durch die Risse und Löcher der lückenhaften Mauer guckt die Armut heraus, um dem Fremdling zu verkünden, daß Totlings Glanzperiode jetzt nur noch eine Sage ist.

Die Klosterstadt ist auf einer Terrasse vielleicht zwanzig Meter über dem Spiegel des Satledsch erbaut. Am Fuße dieser Terrasse schlängeln sich die trübgrauen Wasserwirbel des mächtigen, breiten Flusses in viel langsamerem Tempo hin als an der Stelle, wo wir zuletzt ihrem Rauschen gelauscht hatten. Zwei Kilometer flußaufwärts ahnen wir das enge, scharf abgeschnittene Felsentor, durch welches der Fluß schäumend und reißend in die Erweiterung bei Totling heraustritt. Dies ist einer der Punkte, wo der Satledsch sich in seinem Laufe ausruht. Aber der königliche Fluß sehnt sich nach neuen Heldentaten. Gleich unterhalb von Tsaparang beginnt er wieder seinen wütenden Ringkampf mit den Felsen. In Totling befinden wir uns in einer Höhe von 3700 Metern, sind also im Laufe von ein paar Stunden um 494 Meter herabgestiegen.

Als das berühmteste und vielleicht auch größte der geistlichen Kastelle im Tale des Langtschen-Kamba müßte sich Totling bei unserer Ankunft in einer stattlichen Prozession seiner Mönche zeigen, die, in rote Togen gekleidet, vornehm und feierlich wie römische Senatoren einherschreiten. Aber keine Priester lassen sich sehen, keine Kinder armer Leute spielen zwischen den Ruinen, kein Pferd steht vor einer Klosterzelle angebunden. Haben die Mönche vor uns Angst? Nun gut, wir werden sie aufsuchen! Nicht, daß ich etwas mit ihnen zu besprechen hätte; aber weshalb sollte ich nun, da das Schicksal mich einmal nach Totling geführt hat, die Gelegenheit versäumen, einen allgemeinen Eindruck und eine Erinnerung an seine Tempelsäle mit mir in die Heimat zu nehmen?

Doch seht, da stehen ja in einer Ecke drei Mönche! Ruhig und ungeniert wie gewöhnlich und beide Hände auf den Rücken gelegt, tritt Lobsang an sie heran und fragt sie:

»Haben Sie gehört, ob ein Bote aus Gartok angelangt ist? Unser Sahib erwartet einen von Thakunr Jaj Chand.«

»Wir halten keine Ausschau nach euren Boten«, antwortete ein Lama trocken und kalt.

»Wem gehört das weiße Zelt, daß dort außerhalb des Dorfes steht?«

»Geh hin und erkundige dich!«

Mit unerschütterlicher Ruhe dreht Lobsang der Geistlichkeit den Rücken zu. Unser Freund Samje Karmo, der sich jetzt in Totling aufhielt, uns aber vorsichtig aus dem Wege ging, hatte offenbar berichtet, daß wir herannahten und ohne Paß reisten. Die Klosterbehörden waren daher vorbereitet und hatten sich in Verteidigungszustand gesetzt.

Zwei Straßen laufen in Totling zusammen, der Weg, auf welchem ich aus Tirtapuri gekommen war, und die Landstraße von Gartok nach Simla. Letztere ist dem Handel zwischen Indien und Tibet freigegeben, und Totling ist infolgedessen ein wichtiger Ort, dessen Behörden daran gewöhnt sind, Kontrolle über die Reisenden auszuüben. Ich hatte ein Vorgefühl davon gehabt, daß dieser Ort mir zum Steine des Anstoßes werden könne, und die einzigen drei Mönche, die ich gesehen hatte, waren in ihrem Benehmen so gewesen, daß es nichts Gutes bedeutete. Es hatte den Anschein, als ob die geistliche wie die weltliche Einwohnerschaft auf höheren Befehl sich nicht vor mir sehen lassen dürfe. Man wollte abwarten, was ich auf eigene Hand zu unternehmen gedächte. Die drei Mönche waren nur Späher, die sich überzeugen sollten, wie wir in einiger Entfernung aussähen.

Die Karawane schlug das Lager 471 am Fuße der Terrasse auf dem Ufer des Flusses auf. Ich blieb mit meinen »Trabanten« und meinem Skizzenbuche droben. Nachdem wir uns vergeblich nach einem geeigneten Cicerone umgesehen hatten, fanden wir uns, zwei Tore durchschreitend, nach einem offenen, unregelmäßigen Hofe hin, dem mehrere Tempelgebäude und Wohnhäuser ihre Vorderseite zukehrten. Man durfte es hier mit seinem Sitzplatze nicht so genau nehmen, wenn man sich auf diesem mit Kehricht und Schmutz übersäten Boden niederließ. Aber beim Zeichnen eines Portals mit vorspringendem Balkendach, das Säulen trugen und einzelne, buntbemalte Figuren verzierten, mußte ich irgendwo sitzen. Nun guckten Brüder, Novizen und weltliche Diener aus Fenstern und Scharten heraus und krochen einer nach dem andern aus ihren Löchern hervor, um dieses unverantwortlich freche Tun und Treiben genauer in Augenschein zu nehmen.

Was für eine Geistlichkeit! So schmutzig, so verwildert und so unzugänglich! Wasser existiert für sie nicht, obgleich der stolze Satledsch dicht vor ihrer Nase vorüberfließt. Den Leib bedecken sie mit Lumpen, die längst für den Kehrichthaufen reif sind. Die ehemals roten Togen hängen ihnen in schwarzen, fettigen Fetzen am Leibe, wahre Schlupfwinkel des Schmutzes und des Ungeziefers. Totlings Bewohner sind ebenso armselig und heruntergekommen wie das Kloster selbst. Von dieser Grenzfestung der Religion und der Heerstraßen im südwestlichen Tibet hatte ich allerdings mehr erwartet.

Stumm und regungslos stehen sie in dichter Schar da, und ihre Augen folgen aufmerksam meinem Bleistift. Richte ich eine Frage an sie, so antworten sie nicht; dringe ich in sie, so erklären sie, daß sie nichts wüßten; bitte ich sie, mir ein Schaf und Tsamba zu verkaufen, so schütteln sie verneinend den Kopf; verlange ich, mit dem Prior zu sprechen, so lachen sie nur höhnisch, und befehle ich ihnen, mir die Tore des Tempelsaales zu öffnen, so zucken sie die Achseln und gehen fort. Nur in Targjaling, Lunkar und Dongbo hatte ich schon früher so unfreundliche Mönche angetroffen. Und ich will gleich hinzufügen, daß eine derartige passive Unnahbarkeit den höchsten denkbaren Grad der Unfreundlichkeit eines Lamas bezeichnet. Zu Beleidigungen und Schimpfreden lassen sie sich niemals hinreißen. Wenigstens bin ich in Tibet niemals einer pöbelhaften Behandlung ausgesetzt gewesen.

Ich erhebe mich und trete an den Labrang, ein großes, mehrstöckiges Haus, heran. Seine Fenster und Altane gleichen denen in Taschi-lunpo und sind wie dort teilweise hinter schwarzen Vorhängen mit weißen wagerechten Streifen verborgen. Ein indischer Kaufmann, der Besitzer des weißen Zeltes, begrüßt mich höflich.

,,Haben Sie gehört, ob ein Bote aus Gartok mich hier erwartet?«

»Nein, Sahib; wenn einer gekommen wäre, hätte ich es sicherlich gehört.«

»Haben Sie irgendetwas Eßbares zu verkaufen?«

»Nein, Sahib; aber wollen Sie hundert Zigaretten kaufen, die letzten die ich noch habe, so stehen sie Ihnen gern zur Verfügung.«

Das wollte ich, denn mein Tabakvorrat ging zu Ende.

Ich hatte gerade die Umrisse der Fassade fertig, zwei Altane hineingezeichnet und war nun bei einem dritten, als ein Diener aus der Tür heraustrat, gerade auf mich losging und sagte:

»Kommen Sie mit mir in den Labrang hinauf!«

»Gern. Will der Kanpo-Lama von Totling mit mir sprechen?«

»Nein, der Prior ist nicht zu Hause; er wohnt seit einigen Tagen in einem Zelte außerhalb des Klosters.«

»Wer ist es denn, der mich zu sehen wünscht?«

»Der Tschangtsö.«

Wir erfuhren nun, daß dieser Potentat eine Art Oberamtmann in den weltlichen und wirtschaftlichen Angelegenheiten des Klosters war und eine Treppe hoch im Labrang sein Amtslokal hatte.

Ich ließ daher das Zeichnen sein und folgte mit meinen Leuten dem Boten die Treppe hinauf und durch einen finstern Gang, der nach einem länglichen, kleinen Zimmer mit einem großen Papierfenster nach dem Klosterhofe führte.

Hier sitzt Seine Exzellenz der Tschangtsö auf seinem Divan hinter einem rotlackierten Schemeltische und einer Kiste mit Messingbeschlägen. Er sitzt wie ein grimmiger, mächtiger Richter da und scheint nur darauf zu warten, daß der Verbrecher ihm vorgeführt werde. Noch jetzt sehe ich ihn vor mir; sein Bild hat sich meinem Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt. Ich fühlte, daß ich beim Anblicke dieses urkomischen Typus lächelte, dieses dicken, feisten und wütenden Geisterkönigs in Menschengestalt, der so anmaßend und aufgeblasen vor mir saß wie ein Ochsenfrosch, bereit, vermittelst einer abschreckenden, grimmigen Miene alles, was Dämon und Europäer hieß, von den Göttersälen Totlings fernzuhalten.

Das Untergestell des Tschangtsö verdeckten der Tisch und die Kiste, im übrigen glänzte sein feister Körper vor Fett und Schmiere. Über die Schultern hatte er eine violette Weste gezogen, die ein dickes Armpaar frei ließ; auf seinem kugelrunden Kopfe saß ein chinesisches Scheitelkäppchen. Seine Stirn lag in tiefen Falten, und unter dem Stirnhaar funkelten die Augen vor Zorn. Die Nase war rund wie eine Kartoffel, die Lippen fleischig – was für saftige Flüche mochten wohl zwischen ihnen herausströmen? Die Wangen waren voll wie die eines Posaunenengels und durch einen dünnen grauen Backenbart verschönert, der hier im Lande der Bartlosen unbeschreiblich komisch wirkte. Ja, da saß er, der Tschangtsö, und ich stand vor ihm im tibetischen Anzug, aber mit einem Kneifer auf der Nase und fühlte mich in diesem Augenblick weiter von Indien entfernt als an dem Tage, an dem wir aus Toktschen fortzogen.

»Aha, du alter Schurke,« dachte ich in meinem stillen Sinne, »du kannst dich, gern eine Weile mit deiner Macht und deiner Autorität aufspielen, aber schließlich wirst du doch den kürzeren ziehen! Du beugst deinen Nacken nicht, du begrüßest mich nicht einmal mit der Zunge, du bittest mich nicht, auf dem zerlumpten Polsterkissen am Fenster Platz zu nehmen! Nun gut, ich setze mich dennoch, denn ich kann auch selbstbewußt sein, wenn es nötig ist, und du brauchst gar nicht zu versuchen, mich mit deinen graubraunen, rotunterlaufenen, rollenden Augen in Angst zu versetzen.«

Lobsang und Kutus, die sich auf meinen Befehl an der Tür hinsetzten, fühlten sich verschwindend klein vor diesem Grobian. Ich aber war zum Scherzen aufgelegt und beabsichtigte nicht, meinen Gefühlen Zwang anzutun. Paß auf, Tschangtsö! Ich habe ganz Tibet hinter mir und nur noch einige Tagereisen bis an die indische Grenze vor mir. Versuch' es, mich nach Gartok zurückzuscheuchen, wenn du kannst! Bei den Ohrgehängen des Schakia Toba, es wird nichts daraus!

Der Geisterkönig begann sein Verhör. Ich hatte eine Stimme erwartet, die in dem engen Gemache wie Donner widerhallte. Doch er sprach sehr leise und tonlos, was ihn noch unheimlicher machte.

»Woher kommen Sie?«

»Von Tschang-tang, aus Taschi-lunpo, aus dem Labrang des Taschi-Lama, aus Taschi-gembe, vom Tso-mavang«, und ich legte mit einer Reihe Namen los, die ich wie eine auswendig gelernte Lektion herleierte.

»Ich weiß es. Sie sind beim Taschi-Lama gewesen, Sie sind im Boot über den Tso-mavang gefahren, und durch einen Befehl aus Lhasa sind Sie ausgewiesen worden und haben Tibet auf der großen Heerstraße nach Ladak zu verlassen. Ich weiß alles.«

»Na, dann ist Fragen unnötig.«

»Ich will auch wissen, weshalb Sie nach Tibet, das Europäern verschlossen ist, zurückgekehrt sind, und ich will wissen, was Sie hier in Totling zu suchen haben.«

»Sie wollen wissen und immer wieder wissen, und ich will mich überall in Tibet umsehen. Niemand hat mich daran verhindern können, daß ich nach meinem Belieben umhergereist bin. Sie können es ja versuchen, aber davon werden nur Sie Nachteil haben.«

»Haben Sie einen Paß aus Lhasa?«

»Nein.«,

»Dann haben Sie kein Recht dazu, sich in Totling zu zeigen.«

»Nein, gar keines. Aber gerade deshalb liegt mir daran, das Land auf dem geradesten Wege nach Indien zu verlassen.«

»Das werden wir sehen! Zunächst werde ich einige Aufzeichnungen machen. Wie heißen Sie?«

»Sven Hedin.«

»Das weiß ich.«

»Weshalb fragen Sie dann?«

»Der Kontrolle wegen. Es ist meine Pflicht zu wissen, was für Leute durch Totling ziehen, besonders wenn sie ohne Paß reisen. Wie heißt Ihr Heimatland?«

»Svidingvé.«

»Richtig! Wieviele Leute und Lasttiere haben Sie?«

»Sechs Mann und zehn Lasttiere.«

»Das stimmt. Ich werde heute noch einen Bericht über Sie nach Lhasa schicken. Weshalb haben Sie eben die Tempelpforte und den Labrang abgezeichnet?«

»Um die Zeichnungen als Erinnerung an Totling mitzunehmen und meinen Landsleuten zu zeigen, wie es hier aussieht.«

»Niemand ist berechtigt, hier etwas abzuzeichnen. Ich habe keine Lust, Ihretwegen den Kopf zu verlieren. Sie haben Dongbo, Daba und Mangnang ebenfalls abgezeichnet. Die Mönche, die dergleichen erlaubt haben, werden ihre Strafe erhalten.«

»Tugden Nima werden Sie doch wohl ungeschoren lassen?«

»Zeigen Sie mir Ihre Zeichnungen!«

»Bitte schön!« antwortete ich, ihm die Mappe reichend, in welcher ich nur zwei lose Blätter hatte, damit ein vielleicht eintretender Regen mir nicht alles verdürbe. Er nahm das eine Blatt heraus und fragte:

»Was stellt dies vor?«

»Das Tempelportal dort draußen.«

»Dies hier ist kein Tempelportal.«

»Nein, wenn man es verkehrt hält, allerdings nicht.«

»Ich behalte Ihre Zeichnungen.«

»Dann sind Sie ein Dieb.«

»Sie sind es, der sich wie ein Dieb beträgt, wenn Sie ohne Erlaubnis umhergehen und zeichnen. Das Tempelportal können Sie übrigens wiedererhalten, aber den Labrang behalte ich.«

»Hören Sie einmal, Tschangtsö; es ist das beste, wenn Sie höflich sind. Hüten Sie sich vor dem Taschi-Lama, er ist mein Freund, und ich kann Sie bei ihm verklagen. Sie sind selber ein Gelukpa, also hüten Sie sich!«

»Es ist wohl wahr, daß ich ein Gelukpa bin. Aber in weltlichen Dingen gehorche ich keinem andern als dem Dalai-Lama und dem Devaschung. Mit dem Taschi-Lama habe ich gar nichts zu schaffen.«

»Ich bin hierher gekommen, um die Tempelsäle von Totling zu besehen. Wollen Sie Befehl erteilen, daß alle Türen geöffnet werden?«

»Ha, ha, ha! Ein Europäer in Totlings Tempelsälen! Nein, nimmermehr!«

Er lehnte sich auf seinem Diwan zurück und schnurrte, lachte und schnurrte in seinem kalten Gemache wie ein alter Kater. Aber er war doch ein wenig aufgetaut, und das Donnerwetter auf seiner Stirn hatte sich verzogen.

»Können Sie uns Lebensmittel verkaufen, Tschangtsö? Ich bezahle anständig.«

»Das habe ich schon von Daba her gehört. Ich werde mich erkundigen; Sie sollen morgen Antwort erhalten. Ihre Karawane ist wohl gut bewaffnet?«

»Wir haben eine Flinte und zwei Revolver.«

»Kann ich mir Ihre Waffen ansehen?«

Kutus wurde sogleich abgeschickt, um das Arsenal heraufzuholen. Der Tschangtsö wurde noch freundlicher; er wog den kleinen Revolver in seiner Hand und sagte in fragendem Tone:

»Ich möchte diesen gern kaufen.«

»Er ist nicht verkäuflich.«

»O doch; sagen Sie mir, wieviel Sie dafür haben wollen; ich kann ihn bezahlen.«

»Aber ich brauche kein Geld. Lassen Sie mich die Tempel sehen, so erhalten Sie den Revolver geschenkt.«

»Nein, das geht nicht an«; damit gab er den Revolver zurück.

»Nun gut, können Sie ohne den Revolver fertig werden, so kann ich ohne die Tempel leben. Wenn ihr Inneres nicht besser gehalten ist als die Außenseite, so ist der Verlust nicht groß.«

Nun hatte ich genug von dem Tschangtsö. Ich erhob mich und ging, nachdem wir uns höflich voneinander verabschiedet hatten. Auf dem Wege nach den Zelten hinunter überfiel mich ein prasselnder Sturzregen. Die grünenden Gerstenfelder erhielten eine herrliche Dusche; gelbe Bächlein strömten von den Terrassen herunter und luden ihr trübes Wasser im Satledsch ab; der Weg, den ich vor kurzem zurückgelegt hatte, war im Nu unpassierbar geworden, und es war ein Glück, daß ich nicht gerade jetzt dabei war, die Abhänge hinabzuklettern.

Als der Tag sich seinem Ende näherte, saß ich in meinem Zelte, schaute über den großen Fluß hin und lauschte dem Regen, der auf den Uferkies herunterprasselte. Plötzlich ertönte Pferdegewieher. Ein Fremder zeigte sich in der Zelttür. Aha, Mohanlal, der indische Arzt, den ich im vorigen Jahre in Gartok kennen gelernt hatte! Abdul Kerim hatte also meinen Brief an Thakur Jaj Chand richtig abgeliefert, und dieser war so freundlich gewesen, Mohanlal mit allen den Bedarfsgegenständen, um die ich gebeten hatte, und sogar noch mit zwei Büchern zu schicken. Es war am 13. August 1908. Seit dem Oktober des Jahres 1907 hatte ich kein Echo aus der Außenwelt vernommen! Der gute Mohanlal war allerdings in dem großen Weltgetümmel jenseits der Berge und der Meere nicht sonderlich bewandert, aber es war mir doch ein großes Vergnügen, ihn das, was er wußte, erzählen zu hören. Er gab mir auch ein sehr willkommenes Verzeichnis der noch übrigen dreißig Etappen nach Simla und der Abstände zwischen ihnen in englischen Meilen. Vor zwanzig Tagen hatte ich Toktschen mit dem Gefühle verlassen, schon bald daheim zu sein. Und jetzt! Noch ein ganzer Monat!

Wir rauchten Zigaretten, tranken Tee, aßen Abendbrot und schwatzten bis Mitternacht. Mohanlal war wirklich unterhaltend. Er erzählte mir unter anderm eine tragikomische Geschichte, die sich eben erst in Gartok zugetragen hatte.

Einer der Freunde Thakur Jaj Chands auf der Südseite des Himalaja hatte ihn durch einen reitenden Boten um leihweise Überlassung von tausend Rupien gebeten. Das Geld wurde aufgezählt und in eine Doppeltasche eingenäht, die der Bote nebst seinem Schnappsack und seinen Kleidungsstücken hinter seinem Sattel festband. Am 2. August brach er in Begleitung zweier Diener des Thakur Jaj Chand auf, die ihm die Furten des stark angeschwollenen Gartong zeigen sollten. Der Fluß war in drei Arme geteilt, von denen zwei mit Leichtigkeit durchwatet wurden. Daher schickte der Bote, augenscheinlich ein leichtsinniger Bursche, die beiden Männer nach Hause und überschritt, das Wasser durchwatend und das Pferd am Zügel führend, den dritten Flußarm allein. Die linke Uferbank war hoch, und als das Pferd aus metertiefem Wasser hinaufspringen wollte, geriet der Sattel ins Gleiten und rutschte mit allem Zubehör in den Fluß hinunter. Der arme Kerl begann sofort danach zu fischen, er fischte den ganzen Tag und den ganzen nächsten Tag und vier Tage hindurch durchwühlte er trotz der reißenden Strömung den Bodenschlamm. Am fünften Tage erwischte er endlich den Sattel, die Kleidungsstücke und den Schnappsack, aber nicht die Geldtasche. Als Mohanlal an der Stelle vorüberritt, saß der unvorsichtige Pechvogel ganz verzweifelt noch immer am Ufer und wartete darauf, daß nach beendeter Regenzeit der Fluß sinken und seinen Raub wieder herausgeben würde!

Das einstmals berühmte Tsaparang, das unmittelbar unterhalb Totling am linken Satledschufer liegt, ist heutzutage noch verfallener als das Klosterdorf. Ein »Dsong« soll in Tsaparang für die Gerechtigkeit sorgen, aber nur zwei Wintermonate lang, und den übrigen Teil des Jahres nach einem andern Dorfe verlegt sein. Nur sechzehn Menschen wohnen in jenem Orte und bauen Gerste. Den Hintergrund bilden die hohen gelben Lößterrassen mit ihren phantastisch modellierten Formen. Unterhalb des Dorfes singt der Satledsch ein Lied von einem König, der vor dreihundert Jahren sein Zepter über dem Tale schwang und sein Reich mit Reitern und Lanzen verteidigte.


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