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Erstaunt darüber, daß Rabgjälings hoher Lhakang in der Nacht nicht heruntergestürzt war, sondern noch immer rot und massig auf seiner Bergspitze thronte, brach ich am folgenden Tag von neuem mit den Meinen auf. Im Zickzack erklimmen wir die Höhen auf einem schmalen Pfad, der wie eine Wandleiste über tiefen Schluchten und an jähen Wänden schwebt. Ehe wir uns dessen versehen, geht es wieder in ein tiefes Tal hinunter, dessen oberer Teil den Namen Rildigjok trägt und der weiter abwärts Tschang-tang heißt. Man verweilt gern einen Augenblick am Ufer seines Baches und erfrischt sich durch einen Trunk klaren, kalten Wassers, das murmelnd talabwärts rieselt, um seinen Herrscher, dem Satledsch, den vorgeschriebenen Tribut zu bringen.
Die Hütten, Äcker und Tschorten von Rildigjok sind nicht imstande, meine Neugierde zu erregen. Wir ziehen weiter, nach neuen Höhen hinauf und über Kämme zwischen tiefen Schluchten hinweg. Wie gewöhnlich geht es über eine Reihe Täler bergauf und bergab, bevor wir in Karu-sing, das zwar Quellen und Weide bietet, aber keine menschlichen Behausungen enthält, halt machten. Ein »Dakpa«, ein tibetischer Postläufer, eilte in sachtem Trab an unseren Zelten vorüber. In einer kleinen Tasche trug er Thakur Jaj Chands englische Post; er war damit, wie er uns erzählte, seit drei Tagen unterwegs. Die Tasche, die zwischen Simla und Gartok mehrmals aus einer Hand in die andere übergeht, sollte bald von einem neuen Marathonläufer weiter befördert werden.
Auch in dieser Nacht blieb die Minimaltemperatur dem Gefrierpunkt so nahe wie möglich, aber die Höhe war auch bedeutend, 4300 Meter. Von dem regelmäßigen Gefälle des Satledsch halten wir keinen Vorteil. Wir waren hier um 600 Meter höher als bei Totling. Diese Straße nach Indien ist trostlos lang. Man glaubt, zehn Kilometer zurückgelegt zu haben, und ist doch nur um fünf oder noch weniger weiter gelangt. Und immer scheint die Entfernung bis zur Grenze und nach den Wäldern auf der Südseite des Himalaja hin gleich groß zu bleiben.
Am 20. August hatten wir noch immer dasselbe Gelände, eine Reihe hinderlicher, durch Anschwellungen und Höhen voneinander geschiedener Täler. Öfter als bisher tritt anstehendes Gestein zutage, und die Gesteinsart ist ein starkgefalteter, verwitterter phyllitischer Schiefer. In einem dieser Täler liegt Sumur-gumpa, ein ganz kleines Kloster mit zwei Mönchen und zwei Hütten. Ein auf der rechten Seite einmündendes Nebental heißt Ldat; seine Quellen und Weiden mahnen uns, hier in 4478 Meter Höhe das Lager 477 aufzuschlagen. In einer Terrassenwand dicht beim Lager gab es eine Höhle mit verriegelter Tür und geschlossenen Fensterscharten. Ein meditierender Mönch hatte das ganze vorige Jahr hindurch in ihrer Finsternis zugebracht, und er sollte bald wieder in sein freiwilliges Gefängnis zurückkehren.
Pfiffe und Pferdegetrappel hallten im Tale wider. Ein Lama mit einem Scheitelkäppchen nahte mit zwei Eingeborenen aus Beschahr, die einige Pferde und einen Esel vor sich hertrieben.
»Wohin zieht ihr?« fragten wir.
»Nach Bongba in Tibet.«
»Was habt ihr dort zu tun?«
»Wir besitzen dreihundert Schafe, die dort droben von Tibetern gehütet und gepflegt werden. Nun wollen wir die Wolle holen und sie nach der indischen Seite bringen.«
»Zieht ihr jeden Sommer dort hinauf?«
»Ja; aber in diesem Jahre haben wir dort auch noch etwas anderes zu besorgen. Wir haben erfahren, daß ein Kerl aus Ladak einige unserer Schafe gestohlen und sich mit seiner Beute nach Nubra begeben hat. Wir wollen den Schurken verfolgen.«
»Viel Glück dabei und lebt wohl!«
Der Weg war bisher greulich gewesen, aber etwas so Tolles wie am 21. August hatte ich bisher noch nicht erlebt. Wie gewöhnlich begannen wir den Tag mit mühsamem Emporklimmen an steilen Abhängen, und endlich erreichten wir den Paß Dato-la, der in einen scharfen Felsenkamm eingesenkt ist. Ich trete an sein Steinmal hinan und bin ebenso enttäuscht wie verdutzt über das, was ich von dort aus gewahre. Wie in aller Welt sollen wir jemals über diesen Abgrund hinüber gelangen? Zwischen mir und einem ebenso hoch liegenden Punkte der andern Talseite gähnt das größte, tiefste Erosionstal, das ich bisher gesehen habe. Hier fehlt ein ungeheuer großes Stück der Erdrinde. Ist es eingesunken und ein Graben an seine Stelle getreten? Nein, das fließende Wasser hat im Laufe unfaßbarer Zeiträume diese Furche gepflügt; der Ngari-tsangpo hat sich hier nach der Tiefe zu eingefressen, und dort ein Staubkorn nach dem andern, einen Block nach dem andern fortgetragen, und noch heute setzt er seine Arbeit fort, wenn auch in langsamerem Tempo als während der Pluvialzeit (Abb. 130).
130. Tal des Ngari-tsangpo. (S. 315.)
Ich bleibe eine Weile neben dem Steinmal stehen. Die Höhe beträgt 4657 Meter. Nur ein kleiner Schritt trennt mich von dem gegenüberliegenden Felsenrand. Und der Weg dorthin nimmt vier Stunden in Anspruch! Die Vogelperspektive, die sich über diesen herrlichen, reich und phantastisch ausgemeißelten Teil der Erde darbietet, können Worte nicht beschreiben. Es wird mir schwer, mich vom Dato-la loszureißen und weiter zu wandern. Es ist besser, hier vorsichtig zu sein und sich nicht von der erhabenen Aussicht fesseln zu lassen. Dort erheben sich felsige Zacken und Vorsprünge, und hinter ihnen zeigen sich – der Abgrund und die uns gegenüberliegende Talseite. Wo aber geht der Pfad? Meinen Augen erscheint es, als ob er unter überhängenden Bergwänden verschwinde. Halloh, hier ist er, schwindelerregend steil! Verliert nicht den Boden unter den Füßen, haltet euch an der Bergwand, achtet auf das Ausgleiten der Beine, sonst kann es ein rasendes Abrutschen durch eine bluttriefende Rinne geben!
Jetzt wird es besser. Der Weg macht einen Bogen nach rechts, ist weniger abschüssig und hat an der Außenseite eine Steinmauer. Die Freude dauert aber nicht lange. Wieder geht es kopfüber abwärts, bis wir den Gipfel einer Abzweigung, die uns eine Strecke weiterhilft, erreichen. Einmal geht es sogar wieder bergauf, dann aber folgen steile Halden zwischen Felsenvorsprüngen und senkrechten Wänden, und aus der Außenseite haben wir eine greuliche, tiefeingeschnittene Talrinne, die in das Tal des Ngari-tsangpo einmündet.
Wir gleiten, rutschen und stemmen uns fest auf; man fühlt es hinterdrein in den Knien. Man hütet sich wohl, der Karawane voranzuschreiten, wenn man nicht kleine Steine und kleinere Blöcke, die sich unter den Tritten der Tiere gelöst haben und mit rotierenden Sprüngen die Wände hinabrollen, auf den Kopf erhalten will.
Die erste Stunde ist verstrichen, es wird noch lange dauern. Jetzt kriecht der Pfad in eine sehr abschüssige Rinne hinein, die so schmal ist, daß man mit ausgestreckten Armen ihre beiden Seitenwände berührt. Achtet darauf, daß die Tiere im Gänsemarsch bleiben! Kommen sie paarweise in dieses Loch hinein, so bleiben sie so fest darin stecken, daß man sie nie wieder herausziehen kann. Dort ist eine Last abgeglitten und rollt auf eigene Faust abwärts, um einen munteren Maulesel an den Hinterbeinen zu kitzeln. Er schlägt hinten aus, mit der Wirkung, daß nun auch seine eigene Last abrutscht. Es ist besser, ihn erst wieder in Ordnung zu bringen, sonst verstopft sich die Rinne so fest wie eine verkorkte Flasche.
Herrlich läßt es sich auf dem feinen Schutt, der die Geröllhänge bedeckt, glitschen, wenn nur der Abhang nicht zu lang ist und direkt in den Tod führt. Seht nur, dort zur Rechten die ungeheuere Felsenwand, die senkrecht nach dem Talgrund abstürzt! Sie steht nackt und bloß da. Der Rgari-tsangpo hat sich mitten durch dieses Massiv hindurchgesägt. In den rauhen, wilden Schiefer- und Quarzitmauern ahnt man die Lücken oder Rischen, welche die kolossalen Felsblöcke hinterließen, die sich einst dort gelöst haben und mit entsetzlichem Getöse in die Taltiefe hinabgestürzt sind, um die natürliche Brücke über den Rgari-tsangpo zu bilden.
Doch sieh, wir sind ja bald unten! Ja, aber das letzte Ende ist das schlimmste! Eine Reihe sehr steiler Treppen in dem anstehenden Gestein. Rutscht man auf einer Stufe aus, so nimmt man gleich noch einige weitere mit. Es ist das Beste, hier rechtzeitig zu bremsen; es wäre doch schade, wenn man sich gerade jetzt, da der Talboden so nahe ist, noch das Genick brechen würde.
Endlich sind wir drunten angelangt, und alle Knochen der Karawane sind noch heil. Der Blick an den zurückgelegten Wänden hinauf ist viel weniger schwindelerregend als der Blick in die gähnende Tiefe, denn vorspringende Klippenzähne und Felsenhöcker verdecken die Abschüssigkeit des Weges, und man sieht den Abhang nicht im ganzen.
Auf dem Rande am Steinmale hörte man nicht einen Laut von mahlendem wirbelndem Wasser. Auf der Hälfte des Weges dringt an das Ohr ein schwaches Rauschen, das, je weiter wir abwärts gelangen, immer stärker wird. Und nun, da wir den Talgrund erreicht haben, hören wir das Wasser wütend zwischen Felsen und Blöcken tosen. Beim Hinabklimmen sieht man nur zwei Windungen des Flusses. Im übrigen verdecken ihn Felswände und Vorsprünge. Die Erosion nach der Tiefe hin ist so kräftig gewesen und so schnell vor sich gegangen, daß die Verwitterung der Talseiten ihr nicht in demselben Tempo hat folgen können. Stellenweise hat der Fluß einen so großen Vorsprung gewonnen, daß ganze Felsenwände unterwaschen sind und wie Gewölbe über dem Wasser schweben.
Auch hier unten in der Taltiefe ist die Landschaft großartig in ihrem wilden, kühnen Aufbau, und gern bleibt man eine Weile an der kleinen, höchst originellen Brücke stehen (Abb. 131). Doch wo ist die Brücke, und wo bleibt der Fluß? Das grüne, schäumende Wasser scheint in die Erde hinabzugehen und dort zu verschwinden. Halt, hier haben wir die Brücke! Sie ist gerade zwei Meter lang! Sähe ich sie nicht mit meinen eigenen Augen, so würde ich unter keinen Umständen der Behauptung Glauben schenken, daß der größte der nördlichen Nebenflüsse des oberen Satledsch, jener Fluß, der das Wasser gewaltiger Gebiete des Gebirgslandes Tschumurti sammelt, unter einer zwei Meter langen Brücke Platz finde. Selbst dann, wenn die Brücke eingestürzt gewesen wäre, hätten wenigstens Fußgänger den Fluß noch überschreiten können. Aber der Sprung wäre gefährlich, und ein Fehltritt würde unvermeidlich zum Tode führen.
131. Die kleine Brücke über den Ngari-tsangpo. (S. 317.)
Zwei, mehrere tausend Kubikmeter mächtige Felsblöcke sind in die schmälste Rinne des Flusses hinabgestürzt und haben dabei eine wunderbar günstige Lage erhalten. Sie sind oben genau gleich hoch und gleich abgeplattet und bilden ein Gewölbe, unter welchem der Fluß sich durchzwängt. Aber das Gewölbe hat oben eine Lücke, denn die Blöcke lehnen sich nicht aneinander. Eine zwei Meter breite Spalte trennt sie. Auf den ersten Blick hin könnte man zehn gegen eins wetten, daß sie zu einer Schwelle aus anstehendem Gestein gehöre, denn ihre unteren Ränder sind durch kleinere Blöcke, Geröll und Sand verdeckt. Ein Augenblick des Nachdenkens sagt jedoch, daß ein so großer Fluß sich nicht in einer so schmalen Rinne hätte einsägen können, ohne sie vermittelst loser Blöcke, scharfkantigen Schuttes und anderer abschleifender Stoffe nach den Seiten hin zu erweitern. Ngurup Dortsche wußte auch, daß, nach örtlicher Überlieferung, die Blöcke wirklich abgestürzt sind und ganz vorzügliche Brückenköpfe gebildet haben. Ursprünglich waren beide wohl ein Block, der herunter gestürzt und beim Fallen gerissen ist.
Nachdem die Natur die schwerste Arbeit ausgeführt hatte, brauchten die Menschen nur noch zwei kurze Baumstämme über die Spalte zwischen den Blöcken zu legen. Quer über die Stämme hatte man Latten und Äste gelegt, und das Ganze war mit festen Steinen bedeckt worden. Die anderthalb Meter breite Brücke, die keine Brustwehr hat, schwebt wohl einige zwanzig Meter über der Wasserfläche. Allerdings hört man es drunten in der Tiefe kochen und brodeln, aber man sieht den Fluß nicht, denn in dem grabenartigen Abgrund ist es pechfinster. Gleich unterhalb der Brücke erweitert sich die Spalte, und dort erblickt man die schäumenden, sich wölbenden Wasserwirbel in ihrem wahnsinnig wilden Ringkampfe mit Blöcken und Klippen. Der Unglückliche, der in diesen Strudel hinabfiele, würde in kleine Stücke zermalmt werden. Mächtige Wasserstrahlenbündel, kräftig wie die Schwungräder einer Maschine, tauchen an einer Stelle unter, um an einer andern in flachen, zischenden Blasen aufzuwallen und sich im nächsten Augenblick mit heftigem Tosen in einen engen Felsenhals hineinzuzwängen. Und wenn der Verunglückte auch den ersten Wasserschwall noch überlebte und das Bewußtsein nicht verloren hätte, so würde er sich hier vergeblich nach einem Felsenzahn umsehen, an welchem er sich festklammern könnte. Diese Wände sind senkrecht, blankpoliert und glatt, und keine Macht auf Erden könnte dem Wasserdruck von oben her Widerstand leisten und dem wütend heranrauschenden Strahle standhalten (Abb. 133).
133. Schlucht bei Optil. (S. 318.)
Die Brücke heißt, gleich der Gegend, Optil. Schäumend braust der Ngari-tsangpo aus Nordwesten heran, und so weit, wie man nach beiden Seiten hin sieht, ist das Tal gleich tief und wild, wenn auch seine Rinne bei der Brücke enger zusammengedrängt ist als sonst irgendwo (Abb. 134). Ngurup Dortsche hatte sicherlich recht, als er sagte, daß der ganze gewaltige Umweg, den man auf der Nordseite des Satledsch machen muß, nur durch den Ngari-tsangpo veranlaßt sei, der sich unterhalb der Brücke von Optil an keiner einzigen Stelle überschreiten lasse. Der Teil des Flusses, den wir zunächst oberhalb der Brücke am Fuße der senkrechten, unterwaschenen Felswand sehen, gibt einen Begriff von seinem gewöhnlichen Aussehen. Das Wasser bildet hier Stromschnellen in einer schmalen, schäumenden Rinne zwischen großen Massen rundgeschliffener Blöcke, und es strebt danach, sich unter die Basis der Felswand einzusägen. Möglicherweise ist der Fluß ebenso tief wie breit, daher ist es schwer, seine Wassermenge zu taxieren. Einen solchen Fluß durchwatet man nicht; das Bett ist zu schmal und zu tief, das Gefälle ist zu stark, und die Wassermasse besitzt eine unwiderstehliche Kraft. Daher hat man keine andere Wahl als auf Umwegen über die kleine Brücke zu gehen, die wie ein Streichholz über einer gewaltigen Wasserrinne schwebt.
134. Im Höllenloch des Ngari-tsangpo. (S. 318.)
Wir probierten die Brücke. Wind und Wetter haben ihre Balken halbverzehrt, und sie ist viel zu schwer durch die darüber gelegten Steine belastet, deren einzige Aufgabe es ist, die Tiere daran zu verhindern, daß sie beim Hinüberschreiten mit den Füßen zwischen die Latten geraten. Dennoch gähnen tückische Löcher zwischen den Schieferplatten; sie mußten ausgefüllt und mit neuen Steinen überdeckt werden. Zwei Männer versuchten ihr Glück auf dem jämmerlichen Ding und schritten schwankend und stampfend über den Schlund hinweg. Ein Maulesel wurde hinübergeführt. Die Brücke hielt. Der zweite ging beladen hinüber. Die scheuen Pferde aus Tschang-tang blieben stehen, spitzten die Ohren und scheuten vor dem dumpfen, unheimlichen Donnern, das aus dem Schoße der Erde aufstieg. Ein Peitschenhieb machte ihnen Beine; die Brücke war ja nur zwei Meter lang, und mit zwei Schritten waren sie glücklich drüben angelangt.
Wohl dröhnt es hier von gewaltigen Wassermassen, wohl plätschert und tost es gegen Felsplatten und Blöcke, aber dennoch kann man sich hier auch nicht einen Tropfen Wasser verschaffen, wenn man nicht Lust hat, oberhalb der Brücke in das Bett zu fallen. Wir zogen es alle vor, bis zur nächsten Quelle zu warten. Dorthin aber sehnten wir uns. Denn in dem Höllenloche des Ngari-tsangpo herrschte ein ganz anderes Klima als droben auf den freien offenen Höhen, wo die Winde des Himmels ungehindert das Steinmal umsausten. Das Thermometer zeigte 21,8° im Schatten; kein Lüftchen regte sich in dem eingeschlossenen Tale, wo eine glühende Sonne die Felswände erhitzt hatte, und die stickige Hitze war sehr drückend. Ich hatte meinen tibetischen Mantel abgelegt und trat in einem Anzuge auf, der zwar leicht, aber eher lächerlich als kleidsam war.
Beim Steinmale des Passes hatten wir uns in 4657 Meter Höhe befunden; die Höhe bei der Brücke von Optil betrug 3827 Meter, also 830 Meter Höhenunterschied, nahezu drei Eiffeltürme übereinander in anderthalb Stunden! Das Steinmal lag 68 Meter über dem Spiegel des Langak-tso, jetzt aber waren wir 762 Meter unter dem See. Nach solchen Zahlen kann man sich einen Begriff von diesem Wege machen! Auf der tibetischen Seite des Himalaja tanzt man nicht leichtfüßig und fröhlich über Rosen hin. Aber großartig, bezaubernd, hinreißend und erhaben ist die über die Nebenflüsse des Satledsch hinwegführende Straße dennoch, und zu den Schritten des Wanderers greifen die Flüsse in ihre Saiten, und ihr metallisch klingendes Spiel weckt in den steilen Felswänden ein tausendstimmiges Echo.
Wie ungleich dem Tale des Tsangpo! Dort bedarf es zu einem tausend Meter betragenden Höhenunterschied ebenso vieler Monate wie hier der Stunden. Das ist der Unterschied zwischen dem Plateaulande, wo die horizontalen Linien vorherrschen, und dem peripherischen Himalajagebiete, dem Lande der vertikalen Linien. In dem abflußlosen Becken des Tschang-tang wird aller Verwitterungsstaub nach dem Zentrum hin getragen und trägt während unfaßbarer Zeiträume zur Einebnung der Landschaft bei. Hier dagegen wird alles fortgeschwemmt und die Erdrinde nach der Tiefe zu ausgemeißelt. Man erbebt vor diesem Übergang von der flachen Landschaft zur skulptierten. An überwältigender Schönheit kenne ich nichts, was sich mit den Bildern messen könnte, die sich bei jeder Wegbiegung vor den Augen des Wanderers entrollen, wenn er Zeuge des Kampfes des Satledschflusses gegen den Himalaja ist. Die Natur bietet kein großartigeres Gegenstück zu dem Kampfe des heiligen Georg mit dem Drachen. Durchbohrt liegt der Himalaja zu unsern Füßen, während der Fluß sein Siegeslied singt, tosend bis ans Ende der Zeiten.
Wieder beginnt das Klettern. Jetzt müssen wir ebenso hoch hinaufklimmen, wie wir eben an den steilen Wänden der linken Seite hinabgerutscht sind. Man quält und müht sich ab und hat doch keine nennenswerte Wegstrecke zurückgelegt. Könnten wir alle Abstiege für sich und alle Aufstiege für sich zusammenlegen, so würde das Resultat zu einem vielfachen Überschreiten des Himalaja ausreichen.
Am Abhang der rechten Seite gewahrt man die Spuren eines großartigen Bergrutsches. Ein Block, der sich mit allen Pyramiden Ägyptens messen konnte, hat sich gelöst und ist auf den Boden des Tales hinuntergestürzt. Zwischen seinen Trümmern und der stehengebliebenen, schroffen Felsenwand hindurch führt der Pfad sehr steil aufwärts, an Blöcken vorbei, durch Geröll und über Hügel, Schluchten und Talrinnen hinweg. Eine kleine, ebenso klare wie eiskalte Quellader erbarmt sich unseres Durstes, und wir trinken alle in langen Zügen. Dann geht es wieder weiter. Die Steigung ist steil, und in verzweifelt langsamem Tempo klimmen wir im Zickzack bergauf. Die Tiere mühen sich ab, schwitzen und keuchen mit dicht aufeinanderfolgenden, hastigen Atemzügen; man glaubt, sie müßten vor lauter Atemnot platzen. Das Tal, dem wir folgen, führt zu einer kleinen Schwelle hinauf. Jenseits queren wir eine neue Talmulde, deren Wasser sich in einem Bette sammelt, das ebenfalls dem Ngari-tsangpo tributpflichtig ist. Auf den Höhen erschließt sich wieder die Perspektive über das wilde Tal, und jetzt sehen wir den Dato-la mit der Steinpyramide, neben der wir noch vor kurzem gestanden haben. Doch von dem Rauschen des Flusses dringt hier nicht einmal ein Flüstern zu uns.
Gras, Kräuter und stachlige Sträucher bilden hier und dort zottige Dickichte. Im übrigen schlängelt sich der Pfad über lauter Blöcke und Verwitterungsschutt hin, und in seiner Nähe steht Schiefer an. Streichen und Einfallen des Gesteins, gegen 30° nach Nordosten, sind auf beiden Seiten gleich. Das Tal ist isoklinal, der Fluß hat eine Tendenz, den Schichtköpfen zu folgen; daher sind die Bergwände der linken Seite am steilsten, und der Ngari-tsangpo arbeitet an ihrer Unterwaschung.
Das Lager dieses Tages wurde in 4351 Meter Höhe an der Quelle Koldoktse aufgeschlagen. Regen ließ sich in der Nacht nicht vernehmen, obgleich der Himmel mit Niederschlägen drohte. Aber nach einem Minimum von 7,4 Grad während der Nacht brach das Unwetter los, als der Tag graute, und als wir unsere Sachen zum Weiterziehen zusammenpackten, peitschte der Regen die Seiten der Berge.
Die Quelle Koldoktse war nur eine Station auf dem Weg nach dem Passe Dambak-la. Wenn man endlich dessen Sattel erreicht hat, geht es jäh nach dem von einem Bächlein durchflossenen Tale Sasser hinunter. Dann klimmen wir in dem Nebentale Tsanglangma-kesa wieder steil bergauf und gelangen in der Gegend von Sanak, zwischen felsigen Zähnen und Spitzen hindurch und über teils flache, teils steile Hügel hinweg bei westnordwestlicher Marschrichtung in immer höhere Regionen. Endlich sind wir droben an dem Steinmale des abgeplatteten Passes Pootsche-la, wo die Instrumente 4927 Meter Meereshöhe ergaben, 1100 Meter über der Brücke von Optil.
Schon auf der Schwelle selbst beginnt ein Bach, dem wir nach der Talerweiterung Mantschu-tschen hinab folgen, wo auf einer üppigen Wiese eine ringförmige steinerne Schafhürde steht. Sumbu-tar und Bitschutse sind neue Täler auf unserm Wege; in dem letztgenannten lagerten wir wieder an einer Quelle.
Wir hatten im Lauf des Tages Gegenwind, Regen und Hagel gehabt, und ich freute mich wieder, daß ich den tibetischen Mantel hatte. Der Donner krachte, das Wetter war rauh und kühl. Um ein Uhr zeigte das Thermometer 6,4 Grad, also einen Grad weniger als das Minimum in der Nacht vorher. Dies war etwas anderes als die Sommerhitze in dem Hohlwege von Optil, wo wir beinahe 22 Grad Wärme gehabt hatten. Die Nacht auf den 23. August war sternenklar und windstill, und die Luft kühlte sich bis auf 1,4 Grad unter Null ab. So kalt halten wir es nicht wieder gehabt, seitdem wir vor einem Monat aus Toktschen abgezogen waren. Strahlend klar goß die Morgensonne ihr Gold auf die Erde aus, aber ihre Pläne durchkreuzte der Monsun, der schon in der Frühe anfing, mit seinen blaugrauen Wolkenwagen über das Hochgebirge hinzufahren.
In gedämpfter Beleuchtung und behaglich warmer Luft zogen wir nach einer Paßschwelle hinauf und von dort in das Tal Tschuwang-tschung hinunter, dessen Bach sich mit dem Flusse Gjäsowang vereinigt. Die Landschaft erhält jetzt einen andern Charakter. Jenseits des Passes Piang-la fällt das Gelände nach Norden und Nordosten hinab, und da, wo der Weg einen Bogen nach Südwesten macht, geht es unaufhörlich bergauf. Zur Rechten unserer Straße erhebt sich eine recht ansehnliche Bergkette mit Schneegipfeln und Formen, die lebhaft an die Surlakette im Transhimalaja erinnern (Abb. 132). Sie scheint sich westnordwestlich zu erstrecken.
132. Bergkette an der Grenze zwischen Tibet und Indien. (S. 321.)
Aus einem Tale in dieser Kette tritt der wasserreiche, aus mehreren Quertälern Zuschuß erhaltende Fluß Toktschen-tschu heraus. Wir lassen uns durch die lockenden Weiden jener Täler nicht zum Aufschlagen des Lagers verleiten, sondern suchen nach der Mündung des Tales Lungun hinunterzugelangen, an dessen Bach vier schwarze Nomadenzelte einen ungewöhnlichen Anblick gewährten. In ihrer Nähe lagerten wir (Lager 480) in 4753 Meter Höhe. Wir waren wieder im unverfälschten Hochtibet. Hirten, die gegen Abend ihre gemütlich blökenden Lämmer und Mutterschafe in die Hürden trieben, grunzende Yaks, blaugraue Rauchsäulen aus schwarzen Zelten, keine festen Ansiedlungen, keine Klöster, keine Äcker und keine Pappeln. Starker Schneefall, hin und wieder durch Regen unterbrochen, eine Dunkelheit, die aus dichten Wolken die Erde beschattete – alles erinnerte daran, daß wir aus der Tiefe der warmen Täler wieder ins hohe Tibet zurückgekehrt waren, um den freundlichen, liebenswürdigen Nomaden ein letztes Lebewohl zu sagen.
In der Nacht auf den 24. August 2,8 Grad unter Null! Auch dieser Kältegrad war ein Abschied von der Heimstätte des ewigen Winters. Es war, als ob der Sommer schon an uns vorübergehuscht sei und ihm nun ein früher Herbst folge. Doch wartet nur! Schon in der nächsten Nacht sollten wir es zwölf Grad wärmer haben als hier, und nach zwei Tagen würden unsere Minima höher sein als jetzt die Maxima. Und in einigen Wochen würden wir beinahe vor Hitze zerfließen und mit Bedauern der frischen Höhenluft und des kühlenden Sommerschnees gedenken.
Doch als ich im Lunguntal erwachte, die eisigkalte Luft spürte und den Himmel regendrohend und finster auf kahle Schutthügel und beschneite Berge herabblicken sah, da dachte ich, daß wir während des Monates, der uns von Toktschen trennte, doch eigentlich recht wenig erreicht hätten. Noch immer gleich kalt und rauh, und noch immer dieselbe kolossale Höhe über dem Meeresspiegel! Was hatten mir die beiden Überschreitungen des Satledsch bei Kjung-lung und Totling genützt, und warum hatten wir uns selbst und unsere Tiere mit den unzähligen Nebentälern bis zur Erschöpfung angestrengt. Die Wärme, das Leben und Simla lagen noch ebenso fern, und ich hatte noch nicht einmal mit der eigentlichen Durchquerung des Himalaja begonnen. Noch strömt der Satledsch nordwestwärts. Erst bei Schipki macht der Fluß einen entschlossenen Bogen nach Südwesten, um den Sturmlauf gegen den Himalaja zu beginnen und alle sich ihm entgegenstellenden Hindernisse zu überwinden. Der Indus geht noch einen Schritt weiter und biegt in der Gegend von Gilgit rechtwinklig ab, um das Gebirge auf dem kürzesten Wege zu durchbrechen. Und am weitesten geht der Brahmaputra, der durch zwei Drittel Tibets mit dem Himalaja parallel fließt, bevor der Fluß seine Kräfte zu dem berühmten Durchbruch im Dihongtal aufbietet.
Die Gegend um Lungun herum wurde ein Grenzstein auf unserm Wege. Nun war es mit den tiefen, anstrengenden Nebentälern vorbei, und wir hatten die Labyrinthe des Cañonlandes besiegt. Eine andere Natur erwartete uns, andere Flächenformen, die nicht weniger großartig waren als die bisherigen, eher sogar noch gigantischer und staunenerregender. Aber nun handelte es sich auch um den Durchbruch durch das mächtigste Gebirgssystem der Erde!