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In der Mitte des vorigen Jahrhunderts trugen drei berühmte englische Doktoren, Hooker, Thomson und Campbell, in verdienstvoller Weise zur Erweiterung der Kenntnisse Europas über den Himalaja, seine Geologie und seine Natur bei. Sie selbst erstreckten ihre Hypothesen nicht über ihren eigenen Gesichtskreis hinaus und hüteten sich wohlweislich davor, Bergketten aufzubauen, die vielleicht schon nach einigen Jahren wieder eingestürzt wären.
Sir Joseph Hooker (1848–50) sah aus dem Passe Donkia-la, der die Grenze zwischen Sikkim und Tibet bildet, am äußersten Horizont im Nordwesten und Norden Nepals »einige ungeheuere Schneeberge, die kleinen Flecken am Horizont glichen … und eine Kette mit Schneespitzen nach der andern durch den Purpur der Entfernung hervorschimmern«. Er war davon überzeugt, daß sie jenseits des Tsangpo im Lande der Salzseen lagen, dessen hervortretendsten Charakterzüge die ungeheuer große Höhe und die Farben waren, die grell gegen die schwarzen, mit Schnee bedeckten Felsen des Himalaja in Sikkim abstachen. Die Entfernung bis zu diesen Bergen erschien ihm kolossal. Vorher hatte er sich Tibet nur als ein Flachland gedacht, das in schwachgeneigten Steppen nach dem Tsangpotal abfiel. Es ist schwierig, aus der Beschreibung Hookers zu erkennen, welche Berge er meint. In seinen Worten über die Aussicht auf dem Donkia-la glauben wir aber einen Schimmer des Transhimalaja aufzufangen und ahnen eine Welt unbekannter Berge – nova quaedam series elatiorum nivosorumque montium ad Boream!
Hooker sieht in dem Hochland um den Manasarovar herum einen, wichtigen Knotenpunkt, von welchem vier Bergketten ausgehen: der östliche Himalaja, der nordwestliche Himalaja, der Kwen-lun und »die Kette im Norden des Yaru (Tsangpo), über welche nichts bekannt ist«.
Hooker ließ seine » Himalayan Journals« im Jahre 1854 erscheinen. Im Jahre vorher war die Abhandlung veröffentlicht worden, in der Hodgson den Nien-tschen-tang-la erwähnt. Hätte Hodgson jenes Gebirge wirklich gekannt, so würde Hooker das Land im Norden des Flusses nicht eine terra incognita genannt haben, ja er hätte dies um so weniger getan, als beide Forscher persönliche Freunde waren und auf der Höhe der Bildung ihrer Zeit standen, besonders in ihrer Kenntnis des Himalaja.
Sir Alexander Cunningham führte im Jahre 1854 den Namen Trans-Himalaja ein und gab ihn der Kette, die den oberen Satledsch vom Indus trennt. Da aber diese Kette zum eigentlichen Himalaja gehört, verschwand der Name bald wieder aus der geographischen Literatur. Für das Gebirge im Norden des Manasarovar schlägt er den Namen Kailas oder Gangrikette vor, der sich seitdem lange gehalten hat. Über den Verlauf der Kette – oder auch nur über ihre Fortsetzung jenseits des Kailasberges – sagt aber Cunningham weder ein Wort, noch spricht er irgendeine Vermutung aus.
In das Jahr 1865 fällt Nain Sings berühmte Reise. Er gehörte zu Hauptmann Montgomeries Topographenschule, die aus wohlgeübten Punditen oder gebildeten Hindus und Eingeborenen aus den oberen Tälern des Himalaja bestand. Montgomerie entwarf den Plan zu Nain Sings Entdeckungsreise und versah seinen Schützling mit einem Sextanten, einem Kompaß, einem Chronometer, Thermometern und andern Instrumenten. Der Pundit wanderte zu Fuß und führte eine Gebetmühle und einen Rosenkranz mit sich. In jener hatte er dünne Papierstreifen, auf denen er seine Beobachtungen aufzeichnete, in diesem schob er alle hundert Schritt eine Kugel weiter und konnte danach die Länge des zurückgelegten Weges berechnen.
Nain Sing ging von Katmandu aus. Wir können ihm nicht Schritt für Schritt folgen. Er besuchte Lhasa, zog am Tsangpo aufwärts nach dem Manasarovar und kehrte nach sechsmonatiger Reise wieder nach Britisch-Indien zurück. Montgomerie hat Nain Sings Resultate ausgearbeitet und er bedauert, daß es so schwierig sei, sich nach der Beschreibung des Punditen eine Vorstellung von dem Lande zu machen.
Zwischen dem Manasarovar und Tradum sah Nain Sing im Norden keine bedeutenden Höhen. Eine Strecke weiter östlich waren die Berge sogar ziemlich niedrig. Noch weiter ostwärts aber zeigte sich im Norden »eine sehr hohe Schneekette, welche 20 Meilen mit dem Raga-tsangpo parallel lief«. Vom Kamba-la aus, wo die Kapuziner die hohen Schneeberge erblickt hatten, sah der Pundit nur verhältnismäßig niedrige Berge.
Wer durch das Tsangpotal gezogen ist, der versteht die Eindrücke des Punditen. Außer Desideri haben nur fünf Europäer dieselbe Landschaft gesehen wie er, und von ihnen gehörten vier zu einer und derselben Expedition, zu derjenigen, die unter Hauptmann Rawlings Führung stand. Ihren Spuren bin ich drei Jahre später gefolgt. Naheliegende Kämme und Verzweigungen verdecken dort die Aussicht nach Norden. Wo Nain Sing keine bedeutenden Höhen im Norden sehen konnte, da habe ich auf dem Ding-la, einem Passe von nicht weniger als 5885 Meter Höhe, eine Bergkette überschritten. Derartige Geheimnisse entdeckt man nicht vom Tsangpotal aus, denn die südlichsten Verzweigungen sind sowenig wie andere Berge durchsichtig. Es genügt auch nicht, sich den Rand eines unbekannten Landes anzusehen; will man wissen, was sich in seinem Innern verbirgt, so muß man es auf mehreren Linien durchqueren. Da, wo noch einen Schritt weiter ostwärts die Höhe der Berge, nach Nain Sings Ansicht, noch mehr abnahm, erhoben sich, im Norden versteckt, die mächtigen Zentralketten des Transhimalaja, der Lunpo-gangri, der Lunkar, der Laptschung und der Kantschung-gangri. Von der hohen Schneekette, die der Pundit erwähnt, habe ich nur den westlichen Teil gesehen, der zum Kantschung-gangri gehört. Nain Sing hatte 700 Kilometer zwischen Schigatse und dem Marium-la, und davon sind nur 140 unmittelbar längs des Nordufers des Flusses vom Gebirge eingenommen. Die Reise des Punditen verrät nichts von einem fortlaufenden Gebirgssystem, ja, nicht einmal etwas von einer ununterbrochenen Kette, und kann auch nichts davon verraten. Montgomerie ahnt auch nichts von ihrem Dasein, er spricht wenigstens nicht davon. Er gedenkt nicht Hodgsons hypothetischer Kette, und vom Nien-tschen-tang-la ist gar nicht die Rede. Nur auf der Karte zu Nain Sings Reise erkennt man, daß sich längs des Flusses Berge hinziehen, die indessen ebensogut der äußerste Rand eines Plateaus sein können. In dieser Beziehung bietet D'Anville mehr. Wir begnügen uns nicht mit den peripherischen Teilen dieser schwer zu erobernden terra incognita, wir müssen die Außenwerke forcieren und in ihr Inneres eindringen.
Ein derartiges Vordringen nach Norden führten im Jahre 1867 Punditen auf ihrer Reise nach Tok-dschalung aus. Den Plan dazu hatte wie gewöhnlich der unermüdliche Montgomerie gemacht. Es wurde der Aling-gangri entdeckt, ein mit Schnee bedeckter Gebirgsstock, dessen Verhältnis zum Transhimalaja noch nicht erkundet ist. Auf dieser Reise näherte sich einer der Punditen auf fünf Tagereisen Entfernung der Indusquelle, wurde aber durch eine Räuberbande wieder zurückgetrieben. Dadurch verzögerte sich die Entdeckung der Singi-kabab, der Quelle des Löwenflusses, um 40 Jahre und fiel mir zu.
Im Jahre 1868 wurden jene Gegenden wieder von Punditen besucht. Sie hörten dort von Selipuk und vom Nganglaring-tso erzählen, deren Existenz ich später durch das Besuchen jener Stellen bestätigen konnte.
In Verbindung mit den Entdeckungen der Punditen im westlichen Tibet sprach Sir Henry Rawlinson die Vermutung aus, daß, wenn man einmal über den Indus und die »innere nördliche Bergkette« hinüber sei, man sich »droben auf dem Plateau der Tartarei« befinde und mit Pferd und Wagen nach der großen Wüste hinabfahren könne, ohne einen einzigen Paß zu überschreiten. Zu Wagen über Kara-korum, Arkatag und Kwen-lun, wo man Gott danken kann, wenn man zu Pferd heiler Haut hinüberkommt! So wenig wußte man noch vor nur 40 Jahren von dem höchsten Gebirgslande der Erde. Es liest sich komisch, wie die großen Geographen jener Zeit für und wider das Vorhandensein jener Gebirge stritten. Gewöhnlich »glaubte« man nur, daß es so oder so sei, aber warum, das erfuhr niemand. Rawlinson glaubte nur, daß man nach Ostturkestan fahren könne. Und doch war es schon dem Schweden Strahlenberg während seines langen Aufenthalts in Sibirien nach den Kriegen Karls XII. klar geworden, daß Ostturkestan im Süden durch mächtige Berge begrenzt sein müsse.
Eine bedeutungsvolle Reise unternahm im Jahre 1871-72 einer der Eingeborenen Montgomeries, der durch das Schangtal nach Namling hinaufzog, wie es hundert Jahre vor ihm Bogle getan hatte. Im Gegensatz zu diesem begnügte er sich nicht mit dem Kloster Namling, sondern setzte die Reise nach Norden fort und zog über den Paß Kalamba-la nach dem »großen himmlischen See«, dem Tengri-nor. Diese Reiseroute sollte 35 Jahre hindurch als Ostgrenze des Unbekannten dienen, welches noch übrig war, als ich meine letzte Reise antrat.
Von einem Kloster am See aus konnte sich der Reisende des Anblicks »einer Anzahl großartig schöner Schneegipfel, die Ninjinthangla heißen« erfreuen. »Die Lamas sagen, daß die höchste Spitze ein Gott sei und daß ihn dreihundertsechzig kleinere Schneespitzen umringten, die ihm als Gefolge dienten.« Am Seeufer gewährten alle diese Spitzen einen imposanten Anblick. Dies war das erstemal, daß ein zuverlässiger Reisender das Vorhandensein des berühmten Nien-tschen-tang-la bestätigte, den die Kapuziner seine vom Sonnenschein überfluteten Schneehauben über einem Meere versteinerter Wellen einer Welt kahler, bunter Felsen hatten erheben sehen.
Auf dem Rückweg überschritt der Wanderer auf dem Passe Dam-largen-la zum zweitenmal den Transhimalaja und weckte in dem Dorfe Dam die Erinnerung an della Pennas Herzogtum gleichen Namens.
Montgomerie freute sich mit Recht über die eingebrachte Ernte und schrieb im Jahre 1875, daß er es von Zeit zu Zeit versucht habe, durch seine ausgesandten Leute Aufklärungen über das unbekannte Land im Norden des Flusses zu erhalten. Aber auch jetzt sprach er nicht von einer fortlaufenden Kette. Nur der Nien-lschen-tang-la war durch die Passierung des Kalamba-la und des Dam-largen-la bekannt geworden. Nach Westen hin war das Land noch immer terra incognita; Montgomerie ahnte nicht, daß diese verlockende Bezeichnung noch nach 31 Jahren auf englischen Karten stehen sollte.
Der große Nain Sing brach im Jahre 1873 wieder auf, diesmal von Leh nach Lhasa und im Auftrag des Hauptmannes Trotter. Diese Reise ist eine der glänzendsten, die je in Tibet gemacht worden sind. Er fand den Targot Lha wieder, meinen Targo-gangri, der schon auf D'Anvilles Karte spukte, entdeckte eine Kette, die von dort ausgeht und sich 300 Kilometer ostwärts erstreckt, und er stellte auch eine Reihe Gipfel fest. Den Targo-gangri sah er nur aus 170 Kilometer Entfernung und die Bergkette aus 100 Kilometer. Vieles ist daher fehlerhaft und, was schlimmer war, nach bloßem Hörensagen zeichnete er weiter südwärts große Flüsse ein, die dann 30 Jahre lang auf allen Tibetkarten figurierten, bis es mir vergönnt war, diese Märchenflüsse für immer von der Erde zu entfernen.
Nachdem Nain Sing eine Reihe großer Seen entdeckt hatte, ging er schließlich über den Dam-largen-la nach Lhasa, und als er sich wieder in Kalkutta einstellte, hatte er eine Aufnahme von 2000 Kilometer völlig unbekannten Landes ausgeführt.
Während ihrer Reisen von 1865 bis 1875 hatten die Punditen vier Pässe des Transhimalaja überschritten, zwei im Westen und zwei im Osten. Sie hatten im Norden und Süden durch ihre Routen die Grenzen des unbekannten Gebirgslandes angegeben, das noch 1906 auf allen Karten durch, weiße Stellen mit der Inschrift » Unexplored« bezeichnet wurde.
Die Geschichte des Himalaja geht weiter zurück, ihr Anfang versinkt im Sagendunkel der indischen Hymnen, und die Umrisse dieses Gebirges treten schon in der klassischen Literatur deutlich hervor. Die Chinesen kannten den Kwen-lun seit uralten Zeiten, und auf europäischen Karten aus dem Anfange des 18. Jahrhunderts ist er eingezeichnet, wenn auch in groben Zügen und nur teilweise. Aber der Transhimalaja! Wie aussichtslos ist der Kampf gegen seine Riesen gewesen! Über den Bau des Himalajagebirges, über die Architektur des Kwen-lun und des Karakorum sind oft heiße Kämpfe zwischen den Gelehrten geführt worden. Die Kämme des Transhimalaja aber hat kein Lärm gestört, um ihre Höhen herum hat das Schweigen der Unkenntnis geherrscht, ein beredtes, undurchdringliches und vornehmes Schweigen. Das Land war unbekannt. Genaue Nachrichten aus erster Hand abwartend, stellte man sich entweder auf D'Anvilles oder auf Klaproths Seite. Stubengelehrte konnten nach eigenem Gutdünken, ihrem Geschmacke folgend, gewaltige Ketten in die weißen Stellen der Karte einzeichnen, ohne daß sich die Kritik auch nur mit einem Worte dagegen auflehnte. Erst dann, als endlich, in den Jahren 1906-1908, die zentralen Ketten entdeckt worden waren, begann ein kleiner Streit. Das ist einmal der Lauf der Welt. Mit der Phantasie nimmt man vorlieb, die Wirklichkeit aber verwirft man!
Während einer langen Reihe von Jahren war Henry Strackey die Hauptautorität für die Geographie Tibets. Schon auf seiner 1846 unternommenen, bedeutungsvollen Reise nach dem Manasarovar sah er von dem Himalajapasse Lankpya Dura aus »durch eine Lücke im Norden einen Schimmer ferner blauer Berge, vielleicht einen Teil der Gangrikette im Norden des Satledsch«. Auf dem Wege nach dem See machte er folgende Beobachtung: »Den nordwestlichen Horizont begrenzt die Kette der Gangriberge, die ziemlich mit Schnee bedeckt und durch ihre tiefe blaue Farbe in den inneren Felsengegenden merkwürdig ist; ungefähr in der Mitte der Kette erhebt sich die mit Schnee bedeckte Kailasspitze ein wenig höher als die übrige Kontur. Ich glaube nicht, daß dieses Gebirge auch nur entfernt so hoch ist wie die Hauptketten des indischen Himalaja.« Er sieht in dem Marium-la den östlichen Grenzpfeiler der Gangrikette und glaubt nicht an das Vorhandensein irgendwelcher Bergketten im Norden des Tsangpo; denn jenseits des Marium-la »nach Osten hin, dehnt sich auf dem ganzen Wege nach Lhasa und so weit, wie meine Gewährsmänner das Land nach Norden hin kennen, ein Plateauland mit kleinen freistehenden und ziemlich unregelmäßigen Hügeln aus«. Damals glaubten also einige an das Vorhandensein einer gewaltigen Kette, andere aber an ein mit zerstreutliegenden Hügeln übersätes, flaches Plateau.
Die Brüder Schlagintweit, die ersten Europäer, welche die ganze tibetische Anschwellung zwischen Indien und Ostturkestan im Westen durchquert haben, kannten drei Systeme: Himalaja, Kara-korum und Kwenlun. Sie betrachteten den Kara-korum als das Rückgrat Hochasiens, das sich nach Westen hin im Hindukusch fortsetzte und sich im Osten gabelte; wie konnten sie dies wissen, da niemand dort gewesen war! Tibet ist ein Tal, das Kara-korum und Himalaja begrenzen. Diese Ansicht änderte Hermann von Schlagintweit nicht einmal nach Nain Sings erster Reise. Es zeigt dies, daß er aus den Beschreibungen des Punditen gar nicht den Eindruck erhielt, daß noch eine Kette da war, die das Tsangpotal im Norden begrenzte. Aber das Vorhandensein des Nien-tschen-tang-la ließ sich doch nicht leugnen. Diese Kette wurde ganz einfach mit dem südlichen Arme des Kara-korum verbunden, und so entstand ein ungeheuerlicher Bastard zweier verschiedener Systeme.
In seinem Buche »Indische Altertumskunde«, das 1867 erschienen ist, hat Meister Christian Lassen auf Grund des Wissens jener Zeit die Grundlinien des Bergkettenskelettes Asiens zu zeichnen versucht. Er betrachtet den Kailâsa oder die Gangdisrikette, den westlichen Flügel des Transhimalaja, als eine Abzweigung vom Kara-korum, der selber ein Ausläufer des Kwen-lun ist. Am Kailasgipfel berührt sich die Gangdisrikette mit dem Himalaja, ohne indessen zu ihm zu gehören. Lassen baut also eine Brücke aus Gebirgen zwischen Pamir und Himalaja und kann mit dem besten Willen auf der Welt nicht wissen, daß die verschiedenen Ketten verschiedenen Systemen angehören und parallele Falten der Erdrinde sind.
Die hervorragenden Geographen Sir Clements Markham und Trelawney Saunders besprachen in der Mitte der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts den Bau des Himalaja und berührten dabei auch seinen Zusammenhang mit den Gebirgen im Norden. Markham unterscheidet drei Ketten: die südliche, welche die gewaltigen Gipfel des Himalaja trägt, die mittlere, welche die Wasserscheide zwischen Ganges und Tsangpo-Brahmaputra ist, und die nördliche, Gangdisri, die eine Fortsetzung des Karakorum ist. Er zählt also den Transhimalaja so weit, wie dieser damals bekannt war, zum System des Himalaja und nennt ihn »die nördliche Kette«. Auf seine Südabhänge verlegt er die Quellen des Indus, des Brahmaputra und des Satledsch. Es ist mir gelungen, zu beweisen, daß der Satledsch und der Brahmaputra am Nordabhang des Himalaja entspringen und daß die Quelle des Indus nördlich vom westlichen Transhimalaja liegt, wenn auch alle drei Flüsse aus andern Richtungen her bedeutende Nebenflüsse erhalten.
Saunders betrachtet den Kwen-lun als Nordgrenze des tibetischen Hochlandes und sagt: »es fehlt uns jegliche tiefere Kenntnis über das Innere jenes außergewöhnlichen Landes, und es muß den Europäern auch fernerhin ein Buch mit sieben Siegeln bleiben, bis die Regierung in Peking durch freundliche Vorstellungen dazu veranlaßt wird, den Verkehr zwischen Indien und den chinesischen Besitzungen zu erlauben«. Verschiedene der Blätter jenes Buches mit sieben Siegeln gehören zum Kapitel Transhimalaja!
In seinem Text ist Saunders nicht ganz klar. Das eine Mal sagt er: »Die Berge im Norden des Tsangpo dienen als Widerlager, Strebepfeiler, Abhänge und steile Wände des Plateaulandes, das sie stützen«, und ein andermal heißt es: »Die Gangrikette ist nur in ihren äußersten Teilen bekannt«. Die letztere Angabe war richtig und blieb es noch 30 Jahre. Am 17. September 1908 ließ ich an den Berichterstatter der »Times« in Simla telegraphieren: »Die östlichen und westlichen Teile des Transhimalaja waren bereits bekannt, aber sein mittelster und höchster Teil liegt in Bongba und war unerforscht.« Saunders behauptet, ein Gebirgssystem müsse überschritten werden, ehe man es bekannt nennen könne, und er betont, daß dieses Gebirge noch aus keiner einzigen Linie zwischen dem Manasarovar und dem Tengri-nor überschritten worden sei. Er erneuert Ritters Irrtum, indem er den Nien-tschen-tang-la sich nach Nordosten hin fortsetzen und mit dem Tangla des Paters Huc verschmelzen läßt.
Dagegen zögert Saunders keinen Augenblick, in seine Karte, die auf Seite 369 des zweiten Bandes des »Transhimalaja« wiedergegeben ist, Hodgsons hypothetische Kette aufzunehmen, die er nach Möglichkeit mit einigen der Seen und Flüsse D'Anvilles in Einklang zu bringen sucht. Das Resultat hat einen gewissen Anschein von Glaubwürdigkeit, aber keine Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit. Wie wenig man von jenen Gebirgen wußte, geht daraus hervor, daß Saunders im Jahre 1877 eine einzige fortlaufende Kette im Norden des Flusses zeichnete, während Richthofen in demselben Jahre – in seinem berühmten Werke »China« – vier Parallelketten im Westen, zwei und drei in der Mitte und eine im Osten darstellte. Beide hatten gleich unrecht; es konnte dies auch nicht anders sein. Keiner war dort gewesen, und jeder Forscher konnte seine Karten so zeichnen, wie es ihm am wahrscheinlichsten erschien.
In seinem Werke » The Himalayan Districts of the North-western Provinces of India« (1882) erwähnt E. T. Atkinson flüchtig eine Kette hoher Gipfel im Norden des Flusses. Aber er fügt hinzu: »Es ist unmöglich, eine allgemeine Schilderung des tibetischen Hochlandes zu geben, die auf wirkliche Beobachtung gegründet ist.« Aus dem bißchen, was wir wissen, glaubt er jedoch annehmen zu können, daß hohe Gebirge Tibet durchziehen, und es erscheint ihm gewiß, daß Kwen-lun und Himalaja die nördliche und die südliche Front des Landes bilden. Die Karte, die Atkinson in seinem Buche veröffentlicht, ist eine Kopie der bekannten Karte von Saunders, aber trotzdem ist Atkinson als Autorität für den Transhimalaja hervorgesucht worden! Allerdings konnte er alles, was in den westlichen und östlichen Teilen jenes Gebirges unternommen worden war, in Büchern lesen, aber von der Hauptmasse des Systems, den zentralen Regionen, hatte er nicht die geringste Ahnung und konnte sie auch nicht haben.
In demselben Jahre, 1882, ließ auch Elisée Réclus den siebenten Band seiner bewunderungswürdigen » Nouvelle Geographie Universelle« erscheinen, worin er den Vorschlag macht, die nördlichste Kette des Himalaja, die sich unmittelbar im Süden des Tsangpo hinzieht, Transhimalaja zu nennen. Cunningham hatte diesen Namen auf eine Kette im Westen beschränkt. Über unser nördlicheres Gebirge äußert er: »Im Norden der Depression, in welcher der Tsangpo strömt ist das tibetische Plateau durch fließendes Wasser in unzählige Täler zerschnitten worden.« Er nimmt aber auch, gleich den Engländern, das Vorhandensein einer einzigen mächtigen Kette an, des Gang-dis-ri im Norden des Tsangpo, und läßt sie im Osten mit dem Nien-tschen-tang-la verschmelzen.
Um das Jahr 1896 herum schrieb Richthofen die tibetischen Kapitel des dritten Bandes seines Werkes »China«, der, erst kürzlich, sieben Jahre nach dem Tode des Meisters, durch Dr. Ernst Tießen herausgegeben worden ist. Richthofen sammelte darin alle die Nachrichten, die es über die Gebirge von Tibet gab, und gelangte zu dem Schlusse, daß sich im Süden des Tengri-nor eine bereits von D'Anville angedeutete sehr hohe Bergkette erhebe, die reich an Gletschern und Felsspitzen sei, sich von Westsüdwesten nach Ostnordosten hinziehe und die Wasserscheide zwischen dem Tengri-nor und dem Ki-tschu, dem Flusse von Lhasa, bilde. Nach Westen zu nehme die Kette eine mehr westliche Richtung an, und von ihren Südabhängen ströme das Wasser dem Tsangpo zu. Vergeblich sucht er sich aus den Karten Nain Sings, Bowers und Littledales eine Vorstellung von dem orographischen Aufbau des Landes zu machen – aus ihnen ist ein solches Bild nicht zu gewinnen. Hierbei denkt er jedoch an die Gegend im Norden des Transhimalaja. Wenn Gegenden, die von drei Reisenden durchstreift worden waren, dennoch dunkel blieben, was konnte man dann von denjenigen erwarten, in denen noch keiner gewesen war? Dort hatte sich nur die fortlaufende Phantasiekette, bald Nien-tschen-tang-la, bald Gangri, Gang-dis-ri oder Kailas genannt, mit solcher Schärfe in dem Bewußtsein vieler auskristallisiert, daß selbst Richthofen an ihr Vorhandensein glaubte.
Durchforschen wir aber die Schriften und betrachten wir die Urkunden mit der Lupe der Kritik, so suchen wir darin vergeblich nach Nachrichten über den eigentlichen, den mittleren Transhimalaja. Aus vergangenen Jahren finden wir nicht eine Zeile, nicht ein einziges Wort über ihn. Beständig stoßen wir auf den Kailas und das Gangrigebirge im Westen und den Nien-tschen-tang-la im Osten. Dort sind Europäer und Asiaten gewesen. Fragt man aber nach der Bergkette, von der man glaubte, daß sie sich einer Brücke gleich von einem jener beiden Grenzpfeiler zum andern spanne, so stellt sich bei näherer Betrachtung stets heraus, daß sie in Europa oder Indien zurechtkonstruiert, aber nie an Ort und Stelle erforscht worden ist. Sie war ein Phantasiegebilde, dessen Tage gezählt waren und das, wenn die Zeit dazu gekommen war, keine Daseinsberechtigung besitzen sollte.
Wenden wir uns nun den drei europäischen Expeditionen zu, die in unserer Zeit den Transhimalaja berührt haben, so finden wir, daß sie sich alle drei nach der Kette und den Gipfeln, die von alters her unter dem Namen Nien-tschen-tang-la bekannt gewesen sind, hinbewegt haben. Sie haben das Dasein jenes Gebirges bestätigt, aber kein neues Licht über unser System verbreitet.
Im Jahre 1889 führte Gabriel Bonvalot in Begleitung des Prinzen Heinrich von Orléans jenen denkwürdigen Zug aus, auf dem er das ganze östliche Tibet durchquerte und bis an den Nordfuß des östlichen Transhimalaja vordrang. Der von Norden her kommende Bonvalot näherte sich voller Spannung dem Tengri-nor. Endlich führt der Pfad zu den letzten Höhen hinauf, welche die Aussicht nach Süden verdecken. »Wie wir die Paßhöhe erreichen, erblicken wir den Ningling Tanla und den Ostrand des Sees. Mit beschleunigten Schritten erklimmen wir die Nachbarhöhen, um unsern Horizont zu erweitern … Am längsten fesselt der Ningling Tanla unsern Blick. Diese Kette dehnt gerade vor uns ihren mit Schnee bepuderten Kamm aus und schließt unsern Gesichtskreis vollständig ab. Man erstaunt über die Regelmäßigkeit und die Höhe dieser Reihe mächtiger Gipfel, die sich über den Ausläufern erheben, die ihrerseits, geordnet wie die Zelte eines Kriegslagers, nach dem See hin abfallen. Und alles dies beherrschen majestätisch vier hohe Eisspitzen, welche die Tibeter anbeten, denn dahinter liegt Lhasa, die Geisterstadt. Richtet man den Blick auf das Nordufer des Sees, so gewahrt man auf der ihn begrenzenden kleinen Kette keinen Schnee, während die Seiten des Ningling Tanla weiß sind, und man erkennt die Wahrheit des tibetischen Sprichworts: ›Das Wasser des Namtso wird vom Schnee des Ningling Tanla gebildet‹.«
Es stand nicht in den Sternen geschrieben, daß die berühmte französische Expedition den Transhimalaja überschreiten und in das verbotene Land hinter den hohen Bergen eindringen sollte. Aber Bonvalot stieg doch zum Passe Dam hinauf, auf welchem schon Nain Sing sein Glück versucht hatte.
Auf seiner Karte hat Bonvalot unmittelbar im Süden des »Ningling Tanla« eine zweite noch höhere Kette und die Legende: » Sommets très élevés (dominant la chaîne)«, ein Zug in der Skulptur, den wir auf keinem andern Bilde dieser Gegend wiederfinden. Selbst hier in dem damals am besten bekannten Teile des Systems standen gleichwohl die Angaben in scharfem Widerspruch miteinander!
Vier Jahre später nahte sich den Ufern des himmlischen Sees wieder eine französische Expedition, die von Dutreuil de Rhins und Grenard; der letztere schreibt: »Am 30. November entdeckten wir endlich von der Höhe eines letzten Rückens aus den Himmelssee, den heiligen und göttlich verehrten See, dessen dunkles, ruhiges Blau grell gegen das leuchtende Weiß des tausendgipfligen Gebirges abstach, das sich am Südufer erhob und den Wellen eines aufgewühlten Meeres glich.« Der Expedition wurde hier von den Tibetern haltgeboten, und sie verlor durch nutzloses Unterhandeln fünfzig Tage. Nach einem kurzen Besuch am Fuße des Passes Dam mußten die Franzosen nach Nordwesten abziehen, um dem traurigen Schicksale, das Dutreuil de Rhins beschieden war, entgegen zu eilen – dem Schicksale, durch tibetische Kugeln zu fallen.
Dem Forscher St. George Littledale lächelte das Glück freundlicher, als er sich 1895 von Norden her dem See der Geister näherte. Gleich seinen Vorgängern war er von der herrlichen Aussicht ergriffen.
»Im Süden begrenzte den See die großartige Kette des Nien-tschen-tang-la – eine Reihe mit Schnee bedeckter Gipfel und Gletscher, teilweise in Wolken und Dunst gehüllt, die den Umfang und Größe noch erhöhten, und über dem Ganzen türmte sich mit staunenswert steilen Felsen der gewaltige, 7364 Meter hohe Pik des Charemaru auf.« In diesem Namen erkennen wir D'Anvilles »Tchimouran« wieder. Littledales Weg führte über den Paß Goring-la. Seit der Zeit des Pater Huc war es keinem Europäer geglückt, den östlichen Transhimalaja zu überschreiten.
Eine epochemachende Reise wurde im Jahre 1904 in Verbindung mit dem englischen Kriegszug nach Lhasa von den vier Offizieren Ryder, Rawling, Wood und Bailey ausgeführt, die der Spur Nain Sings den Tsangpo aufwärts folgten. Das Hauptergebnis dieser Reise ist die genaue Aufnahme des Tales und des Dreiecksnetzes, das alle sichtbaren Gipfel miteinander verband. Ryder hat diese Reise in der Geographischen Gesellschaft zu London geschildert. Wohl erwähnt er eine Schneekette, deren Gipfel eine Höhe von 23 200 Fuß erreichten und die von den im Norden von Tradum liegenden Hügeln aus sichtbar sei. Aber ebensowenig wie Rawling in seinem Buche über die Reise äußert Ryder ein Wort über irgendein fortlaufendes Gebirgssystem; er bestreitet vielmehr, daß ein solches existiere, und auf seiner Karte finden wir auch keines angedeutet. Dort erhält man den Eindruck, daß man den Rand eines Plateaulandes, der zerstreutliegende Gipfel trägt, vor sich habe. Erst nachdem ich in Indien Gelegenheit gehabt hatte, Major Ryder meine Resultate mitzuteilen, gab er willig zu, daß »ein hohes, kompliziertes Gebirgssystem« sich im Norden des Tsangpo parallel mit dem Himalaja hinziehe.
Es bleibt nur noch der letzte Besucher des Transhimalaja vor meiner letzten Reise übrig. Im Jahre 1905 kam Graf de Lesdain von Norden her und rief beim Anblick des himmlischen Sees und der himmelhohen Bergspitzen aus:
»Als es am 13. September gegen Abend ging, gewahrten wir den Tengri-nor, der sich majestätisch vor uns ausdehnte. Ein schöneres, großartigeres Schauspiel kann man sich nicht denken. Jenseits seiner weiten, tiefblauen Wasserfläche zeigte sich die mit ewigem Eis bedeckte, ungeheuere Kette Nien-tschen-tang-la. Die höchsten Gipfel spiegeln sich in der ruhigen Durchsichtigkeit des Sees. Diese unermeßlichen Höhen bilden einen glorreicheren Rahmen, als irgendeiner der Schweizerseen prahlend aufweisen kann.«
Das ist alles! Nur aus seiner kleinen Kartenskizze können wir den Schluß ziehen, daß er den Transhimalaja auf dem Passe Kalamba-la überschritten hat, auf demselben Wege also, den man schon seit 1872 durch die Reise der Punditen genauer kannte. Von einem fortlaufenden System aber sagt er nichts.
Es ist, als ob die Gipfel des Nien-tschen-tang-la ein Zauber umschwebe. Wie die Spitzen einer Königskrone erheben sie sich hoch über der Erde, höher als irgendein anderer Teil des Transhimalaja. So schauten sie unermeßliche Zeiträume hindurch auf die Nomaden hernieder, ehe der nördliche Buddhismus in Tibet eindrang, so blickten sie auf die Chinesen herab, welche die ersten Kenntnisse über das heilige Land sammelten, so erregten sie bei den Kapuzinern Bewunderung als eine Reihe » nivosorum montium ad Boream« und warfen einen blassen Widerschein der Wohnungen des ewigen Schnees in die Studierstube, wo der gelehrte Klaproth die Urkunden der Chinesen ergründete, so erhellten sie die jetzt vergilbten und in irgendeinem deutschen Archiv aufbewahrten Blätter, denen die Altmeister Ritter und Humboldt ihre Gedanken anvertrauten, so erregten sie auch das Erstaunen der mutigen Punditen, die die erste sichere Kunde über sie stach Europa brachten, so glänzten sie wie Leuchttürme den drei französischen Expeditionen, die sich ihnen von Norden her näherten, und so entlockten sie sogar dem unerschütterlich ruhigen Littledale einen Ausruf des Entzückens.
Doch der Fäden,. mit denen man jene Riesen umsponnen hat, sind wenige, und diese wenigen sind schwach. Wir wissen beinahe nichts über jenes Gebirge. Tiraden voll poetischer Ausrufe, das ist eigentlich alles. Dort sind Gletscher und Firnfelder, die sich in dem azurblauen See spiegeln, Schwindel erregende Höhen und versperrte Horizonte. Aber was sonst noch? Photographien und Karten sind nicht vorhanden, nicht eine einzige Gesteinsprobe ist dem Schoße des Gebirges entnommen worden. Und die Pässe im Osten und Westen, der Dam-largen-la, der Kalamba-la und der Goring-la? Wir müssen dankbar sein, daß wir wenigstens ihre Namen und ihre Höhen erfahren haben.
Der Nien-tschen-tang-la gleicht einem katholischen Münster, in welchem beständig eine Totenmesse gefeiert wird. Man nähert sich ehrfurchtsvoll und bleibt stumm. Man ist durch das, was man erblickt, überwältigt und vergißt das Reden. Es ist keinem geglückt, den Zauber zu brechen. Um den Nien-tschen-tang-la herum ist es immer gleich still. Und ehe man sich dessen versieht, verhallen die Hymnen, und man wird wieder unter die schwarzen Zelte der Tibeter hinausgeführt.
Und doch war der Nien-tschen-Lang-la der Teil des Transhimalaja, der vor meiner Reise am besten bekannt war. Sechs Expeditionen hatten ihn besucht, von denen vier das System überschritten hatten. Westlich davon war niemand gewesen.
Die letzte theoretische Darstellung des Transhimalaja verdanken wir der Karte des Oberst S. G. Burrard im ersten Teile seines Buches » A sketch of the Geography and Geology of the Himalaya Mountains and Tibet«, das im Jahre 1907 erschienen ist, also um die Zeit, als ich fünf meiner acht Querzüge über das Gebirge ausgeführt hatte. Auch auf dieser Karte zieht sich im Norden des oberen Indus und des Tsangpo eine Kette hin. In ihrem westlichen Teil heißt sie Kailas-Kette, in ihrem östlichen Nien-tschen-tang-la-Kette. Sie. gabelt sich jedoch auf dem 85. Grade östlicher Länge; der östliche Arm liegt zwischen dem Raga-tsangpo und dem Tsangpo. Weiter östlich teilt sich der nördliche Arm wieder zweimal. Aus dem darüber vorhandenen Material konnte man solche Schlüsse ziehen. Was aber den mittelsten Transhimalaja betrifft, so hatten die Schlüsse nichts mit der Wirklichkeit gemein.
Nach Littledales Vortrag in der Londoner Geographischen Gesellschaft im Jahre 1896 erhob sich der Vorsitzende der Gesellschaft, Sir Clements Markham, und sagte:
»Ich möchte einige Worte sprechen über die Bergkette, die Herr Littledale tatsächlich überschritten hat … Jenes Gebirge ist von größtmöglicher Wichtigkeit und größtem Interesse. Es ist nur auf dem Meridian des Tengri-nor durch eingeborene Entdecker und durch Herrn Littledale überschritten worden, aber in seiner ganzen Länge vom Tengri-nor bis zum Marium-la hat es, soviel wir wissen, noch kein einziger Reisender überschritten. Einer der letzten Vorschläge des Generals Walker war, daß eine flüchtige Aufnahme jener nördlichen Teile des Himalajasystems ausgeführt werden solle, und ich glaube, daß nichts in Asien von größerer geographischer Wichtigkeit ist als die Erforschung jener Bergkette.«
In einer Begrüßungsrede an die Gesellschaft sagte Sir Clements Markham in demselben Jahre:
»Es liegt mir sehr am Herzen, die Aufmerksamkeit der Geographen darauf zu lenken, daß es wünschenswert ist, die Forschungen in jener mächtigen Kette zum Abschlusse zu bringen … Ich glaube, daß die Entdeckungsreisenden jetzt vor allem ihre Anstrengungen auf das Gebirge verwenden sollten, das aus dem Tsangpotale aufsteigt … Es scheint eine großartige Bergkette zu sein.« Er erwähnt wieder der Punditen und Littledales und fährt dann fort: »Dies ist, wie ich glaube, die ganze Kenntnis, die wir über die interessanteste aller Bergketten besitzen … Der Teil dieser nördlichen Himalajakette, der sich vom Kailas bis zu Littledales Goring-la erstreckt, eine 600 englische Meilen lange Strecke, verlangt erforscht zu werden … Eine gründliche Erforschung seines Aufbaues ist ein großes geographisches Desideratum … Wohlan, hier ist ein Stück Arbeit, wert, den Ehrgeiz künftiger Forschungsreisenden zu wecken.«
In einer andern Begrüßungsrede im Jahre 1899 sagt Markham wieder: »Eine der interessantesten geographischen Aufgaben, die in Asien noch gelöst werden müssen, ist eine ins Einzelne gehende Untersuchung der großen Bergkette, die das Tsangpotal im Norden begrenzt und die ich die nördliche Himalajakette genannt habe.«
Noch im Jahre 1904 klagt Markham: »Im Jahre 1896 lenkte ich in meiner Begrüßungsrede die Aufmerksamkeit auf die Wichtigkeit einer Erforschung der großen nördlichen Kette des Himalajasystems vom Kailas bis zu Littledales Goring-la, und ich legte, alle Nachrichten vor, die wir darüber besitzen. Aber es ist dies ein Unternehmen, das immer noch der Ausführung harrt.«
Im Herbste 1905 schrieb ich die letzten Kapitel meines Buches » Scientific Results of a Journey in Central Asia 1899–1902«, das mit folgenden Worten schließt:
»Kürzlich ist der äußerste Süden Tibets, das Tsangpotal, von den Mitgliedern der englischen Expedition (Ryder und Rawling) rekognosziert worden; aber das ganze weite Gebiet, das sich zwischen diesem Teile und meiner Route nach Ladak (1901) ausdehnt, ist eine absolute terra incognita. Der Forscher, der ein Bild der allgemeinen Züge der tibetischen Anschwellung zu geben versuchte, würde es nie vermeiden können, sich gerade in dieser Lücke in Vermutungen und Theorien ohne eine Spur von Grund zu verlieren. Ehe ich mich einem solchen Risiko aussetze, habe ich beschlossen, lieber das unbekannte Land zu erforschen und es mit eigenen Augen zu sehen. Nur dann, wenn die Lücke ausgefüllt ist und die weißen Stellen auf unsern, Karten neuen Seen, Flüssen und Bergketten Platz gemacht haben, wird es gelingen, ein treues Bild der Morphologie der tibetischen Hochländer zu geben … Deshalb ziehe ich es vor, eine allgemeine Beschreibung des Landes aufzuschieben bis nach meiner Rückkehr von der Reise, die ich soeben anzutreten im Begriff bin. Das Werk, das ich dann schreiben zu können hoffe, muß betrachtet werden als unmittelbare Fortsetzung und Ergänzung des Werkes, das ich hiermit abschließe.«
Ich reiste also in einer bestimmten Absicht; der Zweck meiner Reise war, die gewaltigen Gebiete des mittelsten Transhimalaja, die noch unerforscht waren, auszufüllen. Wie weit es mir geglückt ist, meine Pläne auszuführen, ist in diesem Buche geschildert worden. Der Transhimalaja wurde auf sieben verschiedenen Linien überschritten, die Grundlinien seiner Konfiguration wurden auf einer Karte niedergelegt, und ich bewies, daß das Ganze ein zusammenhängendes System war, und zwar eines der mächtigsten auf Erden. Anstatt der einzigen schematischen Kette, die an europäischen Schreibtischen entstanden war, fand ich ein Labyrinth hoher Ketten, deren Entdeckung das » Unexplored« der englischen Karten für immer in den Gegenden im Norden des Tsangpo auslöschen.
Da hielt, nach meinem Vortrag in London am 23. Februar 1909, der alte Sir Clements Markham wieder eine Rede, in der er sagte:
»Das sogenannte Nien-tschen-tang-la-Gebirge war vom Tengri-nor bis zum Marium-la unbekannt, und ich habe jederzeit und aus vielen Gründen seine Entdeckung zwischen jenen beiden Meridianen als das wichtigste Ziel der Wünsche in der Geographie Asiens betrachtet.« Und er sprach auch seine Freude darüber aus, daß die ersehnte Entdeckung jetzt endlich gemacht worden sei.
Was wußte man vor dem Jahre 1906 über die Geologie des Transhimalaja? Man kannte den äußersten Zipfel seines westlichen Flügels an der Stelle, wo er englisches Gebiet streift, und Stoliczka war der erste, der vor einigen vierzig Jahren Ordnung in das wirre Durcheinander zu bringen versucht hat. Im Osten hatte man eine Linie festgestellt, den Weg von Sikkim über Gyangtse nach Lhasa. Der Chef der geologischen Untersuchung Indiens, Dr. H. H. Hayden, der an Younghusbands Expedition teilnahm, hat geologische Karten und detaillierte Schilderungen des Aufbaus jener Gegend gegeben.
Über die zentralen Teile aber wußte man gar nichts. In orographischer Hinsicht war die der Erde zugekehrte Seite des Mondes viel besser bekannt als die inneren Teile des mittelsten Transhimalaja, was durfte man da erst vom geologischen Aufbau erwarten! Auf theoretischem Weg hatte man im Norden des Tsangpo eine einzige fortlaufende Kette gezogen. Weil der Fluß von Norden her große Nebenflüsse empfing, konnte man sich ohne Risiko das Vorhandensein hoher Berge in ihren Quellgebieten denken. Aber für geologische Hypothesen gab es gar keine Anhaltspunkte. Demjenigen, der darüber Klarheit gewinnen wollte, stand nur ein Weg offen: das Gebirge selbst reden zu lassen (Abb. 83).
83. Gebirgslandschaft in Südwesttibet (S. 146.)
Von allen den Stellen, wo ich anstehendes Gestein antraf, habe ich Gesteinsproben mitgenommen, und ich habe dort auch jedesmal das Streichen und Einfallen der Schichten untersucht. Auch in Gegenden, wo anstehendes Gestein nicht zutage trat oder sich nicht erreichen ließ, sind den Verwitterungstrümmern ehemaliger Berge Gesteinsproben entnommen worden. Es ist oft vorgekommen, daß ich, um mein Pferd und mein eigenes Herz zu schonen, an einer allzuhoch oben liegenden Felswand vorüber geritten bin. Daher befinden sich in meiner 1170 Proben enthaltenden Serie viele Lücken, die in einem Lande, in welchem man nicht beständig mit der mörderischen Luftverdünnung zu kämpfen hat, leicht hätten ausgefüllt werden können. Man hat, mit andern Worten, oft die Qual der Wahl, ob man seine Pferde töten oder seine Gesteinsprobensammlung vervollständigen soll. Und da eine Reise in Hochtibet beinahe ausschließlich von der Widerstandsfähigkeit der Karawane abhängt, so muß die Gesteinssammlung nicht selten den kürzeren ziehen.
Aber jede Gesteinsprobe aus einem bisher völlig unbekannten Lande ist ein Gewinn, und eine zweifellos ansehnliche Auswahl solcher Proben aus einem der mächtigsten Gebirgssysteme der Erde verbreitet immerhin ein klares Licht über die Grundzüge seiner Architektur. Ich bin daher überzeugt, daß die Denksteine, die ich auf meinen mühevollen Wanderungen aus den Felsen des Transhimalaja herausgeschlagen habe, wenn sie unter dem Mikroskope des Fachmannes untersucht, miteinander verglichen und auf einer Karte in einer Reihe von Querprofilen mit verschiedenen Farben wiedergegeben worden sind, uns wenigstens einen vorläufigen Einblick in den geologischen Bau des Systems werden bieten können. Sie werden ein Verständnis vermitteln für die Kräfte, die in der Erdrinde tätig waren, als die Kettenfalten des Transhimalaja ihre Runzeln in Asiens Stirn zogen, als seine Kämme in die Höhe gepreßt wurden und seine hochaufgetürmten Gipfel der Sonne ihre eisigen Zinnen entgegenstreckten.
Nach meiner Heimkehr ist das geologische Material Herrn Professor Anders Hennig in Lund anvertraut worden. Mit unablässigem Bemühen und ständig wachsendem Interesse hat er sich in meine Sammlungen vertieft, er hat die Steine ihre stille Sprache reden lassen und ihnen ihre in der Form der Kristalle verborgenen Geheimnisse entlockt. Sie haben tibetischen Glocken geglichen, deren Erz erst hier in Schweden zum Erklingen gebracht worden ist. Mir ist jeder Stein eine Erinnerung an einen Paß, an ein Lager oder an einen stürmischen Tag, ein mikroskopisches Stück meines eigenen Transhimalaja. Und Professor Hennigs Hände haben sie mit derselben Pietät in Empfang genommen, die ich empfand, als ich sie ihm anvertraute.
Ich sehe die Mängel meines eigenen Anteils an der Arbeit ein. Mein Mitarbeiter kann aus dem unzureichenden Material nicht mehr hervorzwingen, als es zu geben vermag. Aber ich glaube dennoch, daß man seine Schlüsse epochemachend nennen wird, weil sie einen geologischen Überblick über ein vorher unbekanntes, immer außerordentlich schwer zugängliches Land bieten und obendrein eines der mächtigsten Kettengebirgssysteme der Erde betreffen. Professor Hennigs Arbeit erscheint in kurzem als ein Band der wissenschaftlichen Ergebnisse meiner letzten Reise. Folgende Zeilen, die Professor Hennig auf meinen Wunsch geschrieben hat, werden bei den Geologen sicherlich Interesse erregen:
»Die älteren Ablagerungen bestehen aus weißen, grauen oder dunkelgrauen Quarziten, und phyllitischen Schiefern, sowie untergeordneten Lagen schiefrigen, kristallinischen Kalksteins; die Serie ist so stark metamorphosiert, daß, wenn sie auch ursprünglich fossile Überreste umschlossen hätte, diese gänzlich zerstört sind. Die Serie wird von einer weiter unten erwähnten eruptiven Gangformation durchsetzt und hat im Zusammenhang mit deren Eruption eine deutlich erkennbare Piezometamorphose erlitten; sie ist daher älter als jene. Ganz sicher bildet sie eine direkte, nach Westen und Nordwesten gerichtete Fortsetzung der jurassischen Schiefer und Quarzite mit Kalksteinen, die Hayden aus Lhasa und der Gegend im Nordwesten der Stadt Gyangtse beschrieben hat. Die Formation hat ihre hauptsächliche Ausbreitung im Brahmaputratale, tritt aber auch, obgleich sehr selten, am Nordabhang des Transhimalaja und im westlichen Tibet zutage.
»Jünger als diese Serie sind die dunkeln, grauen und rötlichen Kalksteine, die die Hauptmasse der Unterlage des westtibetischen Hochlands bilden. Die Kalksteine enthalten Orbitolina-Arten und Radioliten und entsprechen dem Aptien und Albien-Cenoman. Irgendwelche Fossilien enthaltende, noch jüngere sedimentäre Ablagerungen sind in dem Gebiete, das Dr. Sven Hedin durchreist hat, nicht gefunden worden.
»Die eben genannten Jura- und Kreideablagerungen werden, wie oben angedeutet, von einer eruptiven Formation durchsetzt, die innerhalb des Brahmaputratals aus ultrabasischen Peridotiten, Gabbroarten und Graniten besteht, von denen die erstgenannten oft in Serpentin umgewandelt sind. Diese Formation bildet einen Teil der aus den westlichen und auch aus den östlichen Gebieten des Himalaja bekannten Eruptivformationen, die allgemein dem Eozän zugeschrieben werden. Innerhalb des Transhimalaja selbst besteht die Formation aus gangförmig auftretenden Graniten (weißen Alkalikalkgraniten und grauen Hornblendegraniten oder Quarzbiotitdioriten des Kyi-Chu-Typus), Pegmatiten, Granitporphyren, Dioritporphyriten, Diabasen usw., aus echten vitrophyrischen Oberflächenlaven, wie Lipariten, Trachyten, Daciten, Andesiten und Basalten, sowie auch aus subaërischen Vulkantuffen.
»Jünger als die erwähnten Bildungen und diskordant auf ihnen lagernd, ist eine graugrüne, violette oder rotbraune Konglomerat-Sandstein-Schiefer-Formation, von der sich in vielen Fällen hat nachweisen lassen, daß sie sich auch auf Kosten der porphyrartigen Ganggesteinsarten in den Graniten und Peridotiten gebildet hat und daher jünger als das Eozän ist. Der Formation, die wie ein oft nur sehr wenig umgelagertes Verwitterungsmaterial des Eruptivgesteins der Gegend entwickelt ist, fehlt es gänzlich an Fossilien.
»Sie wird im Brahmaputratal diskordant von einer grauen horizontal geschichteten Konglomeratsandsteinbildung überlagert, die zu dem gehört, was die Geologen des Geologischen Instituts für Indien als Pleistozän beschrieben haben.
»Bemerkenswert ist, daß der Untergrund des Brahmaputratals, abgesehen von den jüngeren tertiären Ablagerungen, die in dem ganzen untersuchten Gebiete vorkommen, durch ältere jurassische Ablagerungen und in der Tiefe erstarrte Teile der eozänen Eruptivformation gebildet wird, während der Untergrund der Höhen des Transhimalaja und der westtibetischen Hochebene sogar aus Cenoman-Kalksteinen und auch – im Transhimalaja – aus einer deutlich erkennbaren Gang- und Flächenfazies der erwähnten Eruptivformation besteht. Dieses Verhältnis zeigt, daß das Brahmaputratal, das den Transhimalaja vom Himalaja trennt, in seiner gegenwärtigen Gestaltung als ein tiefgeschnittenes Erosionstal angesehen werden muß und daß Verwerfungen hierbei nicht die hervorragende Rolle spielen, die ihnen Oswald in seinem auf Dr. Sven Hedins vorläufigen Mitteilungen fußenden Aufsatz zugeschrieben hat.«