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Siebentes Kapitel.
Die letzten Tage am Löwenfluß.

Weiße Kränze und Ringe aus Eis bedeckten am Morgen des 15. November den halben Fluß. Die Luft war klar und windstill; kein Hauch kräuselte das grüne Wasser des Indus, auf dessen Oberfläche sich lässige Wirbel in anmutigen Mustern nach einem unbekannten Ziele ringelten. Alles lud zu einer Bootfahrt ein, und der stolze Strom durfte mich auch den ganzen Weg bis zum nächsten Lagerplatze tragen. Ich selbst nahm in der vorderen Boothälfte Platz und zeichnete jede Biegung, die wir zurücklegten, in meine Karte ein. In der hinteren Hälfte übernahm Robert die Verantwortung für die Ruder und das Manövrieren. Rabsang und Tundup Sonam begleiteten uns mit den Pferden längs des Ufers.

Dort, wo der Fluß am breitesten ist, treibt das Eis ebenso lautlos und langsam dahin wie wir. In den engeren Windungen schrammen die schwimmenden Schollen gegen das Ufer, dann hört man einen scharrenden Ton. Über uns erheben die Hochgebirgsmassen ihre Kämme, das Land ist still und friedlich. Die Tempelburg von Taschi-gang ist noch eine Weile auf ihrem Hügel sichtbar, wird dann aber durch die Uferterrassen und die Unebenheiten des Talbodens verdeckt.

Das Wasser ist nicht ganz klar; die Tiefe wechselt gewöhnlich zwischen 60 und 70 Zentimeter, und nur bei 50 Zentimeter Tiefe sieht man den Grund. Das Bett ist regelmäßig gebaut. Manchmal gleiten wir über fußtiefes Wasser hin; dann scheint sich der Flußgrund aufwärts zu bewegen, und das Boot steht still. Das Treibeis warnt uns vor seichten Stellen. Dort, wo die porösen Eisschollen sich mitten im Laufe zu Wülsten aufgetürmt haben, steuern wir in die breiteste Strömung neben der Untiefe hinein.

Der Fluß ist merkwürdig gerade; die vorhandenen Windungen sind nur schwach angedeutet. Unsere Fahrt geht längs der Felsen der rechten Talseite, von welchen Blöcke und Steine in das Bett hinabgestürzt sind. Hier entrollt sich vor uns eine Reihe schöner Bilder, und wir gleiten auf einer Bahn im Sonnenscheine glitzernder Kristalle dahin. Eine leichte südöstliche Brise schiebt uns vorwärts. In vollen Zügen genieße ich die Ruhe, die Schönheit des Landes und das Bewußtsein, von einem der königlichsten Flüsse der Erde getragen zu werden.

Öde und schweigend liegen auf beiden Seiten die Ufer da. Nur gelegentlich zeigt sich eine Manimauer oder eine kleine Ringmauer aus Steinen, in deren Rondell irgendein Jäger den Antilopen aufzulauern pflegt. Weiter abwärts grast eine Yakherde; ein paar Tiere wittern uns und schnuppern mit verwunderter Miene. Dort hinten an der Biegung streift ein Fuchs herum; es wässert ihm der Mund nach einer Schar schnatternder Enten, die er am andern Ufer schwimmen sieht.

Drei und vier Meter hohe Uferterrassen rahmen das Flußbett ein und stehen da als Zeugen aus einer Zeit mit ergiebigeren Niederschlägen. Das Gefälle ist gering, nur selten hört man das Wasser in einer Biegung schwach rauschen. An einem vorgeschobenen Felsenvorsprung bildet das Wasser Stromschnellen, und in sausender Fahrt werden wir zwischen tückische Blöcke hinein gesogen.

Der Tag ist kühl, und es ist ein kaltes Vergnügen, Stunde auf Stunde zwischen Treibeis in einem Zeugboot stillzusitzen. Jetzt streichen wir mit großer Geschwindigkeit längs des Fußes jäher Felswände hin. Da wird man vor Spannung warm! In geschützten Klüften wachsen Sträucher, sonst sind die Ufer kahl. Oft fahren wir an verlassenen Lagerplätzen vorüber, die im Sommer von Nomaden besucht werden. Auf einer steilen Wand in unserer Nähe weiden einige Wildschafe.

Eine Reihe kleiner Steinmale war auf einem Vorsprung errichtet. Zwischen einigen davon waren Schnüre ausgespannt, und ein einsamer Tibeter mit seiner Gabelflinte auf der Schulter ging dort umher, seine Schlingen legend. Wenn die Antilopen ihren Weg durch eine derartige Anlage gekreuzt sehen, können sie sich nicht entschließen, darüber wegzuspringen, was ihre Rettung sein würde; sie laufen an der Reihe der Steinmale bis ans Ende entlang, und gerade dort hat der Jäger eine Schlinge auf dem Boden gelegt, wenn er nicht selbst auf der Lauer liegt.

Gegenwind, die Fahrt wird gehemmt! Tundup Sonam muß ins Boot steigen und rudern helfen. Das Treibeis wird vom Wind nach dem rechten Ufer hingetrieben und macht mehr Lärm als vorher. Das Thermometer zeigt mittags um ein Uhr Null Grad im Wasser. Das Treibeis hält stand. Es gewinnt Tag für Tag Terrain, wenn der Winter heranzieht. Und schließlich kommt der Tag, an welchem die durchsichtigen Brücken ihre Bogen von einem Ufer zum andern spannen.

In starker Fahrt gleiten wir über seichtes Wasser; der Kiel schrammt gegen den Kies auf den Boden. Siehe da, nun sitzen wir rettungslos fest! Das Treibeis huscht an uns vorüber und stößt gegen das zerbrechliche Boot. Wir rudern aus Leibeskräften, werden endlich flott und treiben weiter den Indus hinab.

Zur Rechten öffnet sich das Tor des Pataö-sang-Tales; in seinem Hintergrund schimmert ein ziegelroter Gebirgsstock. Durch dieses Tal führt ein drei Tagereisen weiter Weg nach Rudok am Panggong-tso.

Die Strömung wird reißender, es kommt eine Reihe einander folgender kleiner Stromschnellen. Der Fluß wird mit dem Tale schmaler, und mit schwindelnder Fahrt gleiten wir nach dem Lager 259 hin, wo starke Arme das Boot anhalten. So sind wir denn wieder daheim an dem fremden Ufer.

Zwei stattliche Exemplare des Ammonschafes weideten an einem Abhange, und Tundup, der Jäger, wollte wieder sein Jagdglück versuchen. Durch Schluchten und Täler schlich er sich auf Umwegen nach dem Kamme hinauf, um die Tiere von oben her zu überraschen. Im Fernglase sah ich ihn wie einen Panther heranschleichen und die Unebenheiten des Bodens zur Deckung benutzen. Aber die Sinne der Tiere sind ungeheuer fein und scharf entwickelt. Plötzlich sah ich beide den Kopf heben und nach der Seite des Jägers hin blicken. Wie auf ein gegebenes Zeichen machten die Wildschafe kehrt und stürmten in wilden Sätzen die steilen Felswände hinunter. Es war ein großartiger Anblick, wie sie in einer Staubwolke auf den ebenen Boden herabkamen und innerhalb zweier Sekunden mit unverminderter Geschwindigkeit den Abhang eines andern Vorsprungs hinaufsausten, um hinter dessen Gipfel zu verschwinden.

Ein wütender Sturm aus Südosten heulte im Tauwerk und riß an der Zeltleinwand, als ich am nächsten Morgen erwachte. Staub und verdorrtes Gras tanzten wirbelnd in die Zelte hinein, den Himmel bedeckten schwere Wolken, und rauh und naßkalt war das Wetter, als wir zu Pferd aufbrachen.

Das Tal verschmälert sich, sein Boden wird koupierter und ist mit Geröll bedeckt. Der Fluß hält sich eigensinnig an der rechten Seite des Tales; aber an der linken zeigt sich, 25 Meter über dem Talgrund, eine uralte Flußterrasse, die von der Zeit abgerundet ist und oft durch Seitentäler unterbrochen wird. Jenseits des Nebentales Tavuk werden die Berge der rechten Talseite wilder und steiler als vorher, und auch hier sieht man prächtige Terrassen, an denen eine deutlich erkennbare horizontale Geröllschichtung bloßgelegt ist.

Jenseits des Hügels Tsänmo mit seinem jetzt menschenleeren Sommerlager folgt eine Reihe Manimauern, die nun in ihrer Form immermehr ihren Verwandten in Ladak ähneln: lange mit flachen Steinplatten bedeckte Mauern aus Geröllblöcken.

Das Geröll spielt in der Gegend, in der wir uns jetzt befinden, eine wichtige Rolle. Ganz Demtschok, unser letztes Dorf auf tibetischem Gebiete, ist daraus gebaut. Es besteht aber auch nur aus vier oder fünf Hütten mit Reisigdächern (Abb. 46). Und Geröllsteinmauern umzäunen die ärmlichen Gerstenfelder und die Schafhürden und die ebenen Flecke festgestampften Bodens, wo später gedroschen wird. Eine zerlumpte Alte und ein ausgehungerter Junge waren die einzigen Bewohner, die sich sehen ließen. Unsere Maulesel gingen in dem Gerölle umher, Abfälle und Schafmist knabbernd, und kaum besser war das spärliche Gras, das zwischen Quellen und Eisscheiben am Flußstrande noch stand.

46. Demtschok. (S. 54.)

Unsere tibetischen Führer betrachteten Demtschok als die Grenze der Staaten des Maharadscha, denn weiter reiche, erklärten sie, die Macht des Devaschung und des Dalai-Lama nicht. In Wirklichkeit ist die Grenze eine knappe Tagereise weiter abwärts. Meine Ladaki freuten sich darüber, mich aber grämte es, Tibet mit so vielen ungelösten Problemen hinter mir zurücklassen zu müssen. Ich war jedoch entschlossen, nach einigen Monaten wieder in dem unbekannten Lande zu sein.

Am 17. November sagen wir Tibets letztem Dorfe Lebewohl und ziehen aus unserm Lager 260 (Abb. 45) von dem Schuttkegel von Demtschok nach dem Indusufer hinunter. Unter dem am Lande haftenden Eisrande stehen die Fische in dichten Scharen, und wenn man sie mit Steinwürfen verscheucht, so kommen sie sofort wieder, möglicherweise deshalb, weil es unter dem Treibhausdache der Eisscheiben wärmer ist. Das Tal nimmt eine ganz besondere Form an; während die Straße an der linken Seite gerade weitergeht, macht der Fluß einen Bogen nach Norden und Nordosten, um einen freistehenden Felsrücken zu umgehen, an dessen Fuß er sich ein wildes Bett ausgemeißelt hat.

45. Lager in Demtschok. (S. 54.)

Das Terrain fällt merklich. Steril und wüst überall! Dort marschiert eine Yakherde aus Ladak heran! Es war gut, daß wir endlich einmal lebende Wesen auf dieser Straße erblickten, die zwar Spuren eines nicht geringen Verkehrs zwischen den beiden Ländern zeigt, auf der wir aber bisher ganz allein gewesen sind.

Den höchsten Punkt einer kleinen Schwelle ziert ein Steinmal, und die üblichen Wimpel hängen an Schnüren, die zwischen Gerten ausgespannt sind. Unsere Tibeter machen eine Runde um das Mal, um den Erdgeistern ihre Ehrfurcht zu bezeigen. Hellblau und weiß zeichnet sich in der Ferne unweit des Dorfes Tschuschul ein mächtiger Bergstock ab; bis dorthin haben wir noch fünf Tagereisen. Steifgefroren von dem Sturmwind, der uns während der letzten Stunden gerade entgegengekommen war, freute ich mich, als ich endlich an der Quelle Na-gangkal im Lager 261 die Zelte aufgeschlagen stehen sah und unter ihr schützendes Dach eilen konnte. Der Platz war übrigens mehr als einfach. Wasser gab es im Überfluß, aber fast gar keine Weide und keine Spur von Brennmaterial. Wir opferten daher zwei Kisten, die nicht mehr zu gebrauchen waren.

Zwei Hunde sind einer ehrenvollen Erinnerung wert. Wir hatten neun vierbeinige Wächter, eine hergelaufene Garde asiatischer Landstreicher, Parias, die, ohne daß wir sie darum ersucht hatten, gekommen waren, uns ihre Dienste anzubieten. Von den meisten habe ich nicht ausfindig machen können, wo sie heimatsberechtigt waren und wo die Zelte standen, denen sie unsertwegen entlaufen waren. Die braune Puppy war die einzige, die alle meine Abenteuer miterlebt hatte. Sie war eine Veteranin von Srinagar; aber ihre Tage in meinem Dienste waren gezählt, denn sie sollte während eines Sturmes in dem bevorstehenden Winter verloren gehen. In meinem Zelte hatte sie ihre Ecke und ihre Filzdecke, wo sie des Nachts schlief. Mit einem gelben Hunde aus Gartok pflegte sie sich in aller Freundschaft zu necken, und er wurde ihr Unglückskamerad bei jenem Sturme.

Zu den Stammgästen gehört auch der uralte hinkende Lagerwächter aus der Gegend im Norden des Ngangtse-tso, der schon ungefähr ein Jahr bei mir war. Sein Pelz hängt bis auf den Boden herab, und er sieht aus wie ein alter Yak; aber er kann auch nicht laufen wie die andern, sondern geht langsam Schritt vor Schritt. Am Morgen bricht er mit den Lastyaks auf, wird aber bald müde und legt sich am Wegrande nieder, um mich zu erwarten. Dann begleitet er mich so weit, wie seine Kraft es erlaubt, und legt sich darauf wieder unterwegs hin und wartet, bis Tsering als letzter mit meinem Zelte und der Küche herankommt. Schließlich läßt er auch diesen allein weiterziehen und erscheint dann zu sehr später Stunde atemlos und keuchend als einsamer Wanderer im Lager. Trotz seines unvorteilhaften Äußern und seiner Gebrechen, oder vielleicht gerade deshalb, erfreut er sich größerer Beliebtheit als irgendein anderes Mitglied unserer Fremdenlegion. Puppy scherzt mit ihm und springt über ihn hinweg, wenn er mit gesenktem Kopf und schleppenden Schritten gegen die Länge des Weges ankämpft. Wenn alle unsere Hunde des Nachts zugleich bellen, dann ist es nicht leicht, Ruhe zu finden.

So brechen wir denn zu einem neuen Tagemarsch auf. Die Kälte war nicht unter 12,1 Grad herabgesunken, aber hier und dort lag der Fluß an ruhigen Stellen gefroren da. Die Schönheit der Landschaft wurde durch den jetzt kristallklaren, blauschillernden Wasserstreifen erhöht, der vergeblich gegen die Winterkälte ankämpfte. Bei Puktse, wo hin und wieder ein Strauch zwischen dem verdorrten Grase wuchs, führte eine schmale Eisbrücke quer über den Fluß (Abb. 47). Es knackte in der Brücke, als meine Leute sie auf ihre Tragfähigkeit prüften.

47. Eisbrücke über den Indus. (S. 56.)

Farbengesättigt und entzückend in all ihrer verzweifelten Öde liegt die Landschaft entblößt unter dem blauesten Himmel, der weder ein Wölkchen, noch beginnenden Nebeldunst zeigt. Daher machen sich die Gesetze des Abstandes und der Perspektive ohne störende Einflüsse in der Atmosphäre geltend. Eine unzählige Menge Ausläufer der mächtigen Ketten, die das Tal einrahmen, zeigt sich noch immer vor uns in Nordwest. Zwischen ihnen strömt der berühmte Fluß, an dessen Ufer wir der endlosen Straße nach Ladak folgen.

In Puktse hat mein tibetisches Geleite seinen Auftrag vollzogen und sollte wieder nach Gar-gunsa zurückkehren. Sie hatten mich geleitet, um mich an Abstechern auf verbotenem Boden zu verhindern. Dennoch war es mir ein Vergnügen, sie reichlich zu belohnen, denn ihr Betragen war über jedes Lob erhaben gewesen, und sie hatten den an sie ergangenen Befehlen gehorcht und ihre Pflicht getan.

Anstatt ihrer machen mir im Lager 262 der Gova und die ganze Einwohnerschaft des benachbarten Dorfes Kujul ihre Aufwartung. Höflich und gefällig, aber arm und elend waren sie alle, seitdem kürzlich eine Räuberbande von der tibetischen Grenze ihr kleines Gemeinwesen, den äußersten Vorposten der Staaten des Maharadscha, rein ausgeplündert hatte. Wohl hatten sie bei den Behörden in Ladak Klage eingereicht, und diese hatten auch versprochen, ihr Bestes zu tun; aber das Beste, was ein Bezirksrichter in Leh tut, ist – nichts. Die guten Leute in Kujul sind Untertanen des berühmten Klosters Hemi. Dem Äußern nach sind sie den letzten Tibetern nur in der Kleidung unähnlich. Ihre Pelze tragen sie langherabhängend wie in Leh, nicht bauschig und über dem Gürtel in die Höhe gezogen wie in Tibet. Ihre Kopfbedeckung ist die charakteristische Ladakimütze aus Schaffell, die sich zum Schutze der Ohren und des Nackens herunterklappen läßt.

Die Leute aus Kujul blieben die Nacht über meine Lagergäste und erhielten kostenloses Logis unter freiem Himmel. Zwar sind diese Söhne der Wildnis an die Kälte gewöhnt, aber bei 20,4 Grad unter Null muß es ihnen in ihren zerlumpten Pelzen doch recht kühl geworden sein. Sie erinnerten auch an struppige Uhus, als wir sie am Morgen ihrem Schicksal überließen und weiterzogen, von dem Gova und zweien seiner Leute geleitet.

Der Indus, der bisher treu dem Fuße des Transhimalaja gefolgt war, strömt jetzt in der Mitte des Tales und macht zwischen seinen mit Buschwerk bestandenen Ufern mehr Windungen als vorher. Den Boden bedeckt jener grobe Verwitterungssand, der übrigbleibt, nachdem die Winde mit ihrer Sortierungsarbeit fertig sind und den feineren Flugsand weggetragen haben. Manchmal reitet man über sterile Flecke, welche so eben sind wie der feinste Parkettfußboden. Eine solche Form nimmt der Erdboden dort an, wo der mikroskopische Schlamm des Regenwassers sich in flachen Einsenkungen absetzt.

Mane-tumtum heißt eine hübsch gemauerte Steinmauer, deren Platten große Schriftzeichen in Rot und Weiß enthalten. Nicht weit davon geht die Karawane über den Fluß an einem Punkte, wo die Treibeisschollen sich über- und untereinander geschoben haben und zu einer dicken, tragfähigen Masse zusammengefroren sind.

Das Lager Dungkang (263) befindet sich daher am rechten Ufer. Hier war der Fluß 79 Meter breit; seine mittlere Tiefe betrug 0,46 Meter, während die größte Tiefe sich auf 0,78 Meter belief und die Stromgeschwindigkeit 0,36 Meter war. Der Indus führte nicht ganz 13 Kubikmeter Wasser in der Sekunde und hatte reichlich drei Kubikmeter eingebüßt, seitdem ich sein Volumen zuletzt gemessen hatte. Aber um diese Jahreszeit wird die Kälte mit jedem Tage größer, die Quellen versiegen, und die Nebenflüsse frieren zu. Weiter westlich in Ladak wächst jedoch der Fluß allmählich; bei Nurla ist seine Wassermenge im Januar größer als bei Dungkang im November!

Noch eine Tagereise, am 20. November, ohne nennenswerte Veränderungen! In Südost fällt der Blick auf dieselben Gebirgsmassen, deren wir uns von Demtschok her erinnern, in Nordwest wird das Schneemassiv größer, das wir schon so lange gesehen haben. Links und rechts ragen die gewaltigen Ketten empor, die wir seit unserm Aufenthalt in Gartok kennen, und mitten im Tale schlängelt sich der Fluß, dessen Wasser wir nun schon zwei Monate getrunken haben. Jetzt trägt der Indus meistens eine Eisdecke. Aber an Schnee fehlt es noch, auch auf den flach hügeligen Kämmen des Transhimalaja; nur in schattigen Schluchten der Ladakkette bleiben das ganze Jahr hindurch kleinere Schneereste liegen. Gras wächst jetzt überall, und hier und dort stehen auch die Sträucher ziemlich dicht. Aber keine Zelte, keine Hütten, weder Hirten noch Herden! Nur an der Flußbiegung Tavuk standen drei erbärmliche Zelte. Dort, wo der Fluß nach der linken Talseite hinübergeht, schlagen wir unser Lager zum letztenmal an seinem Ufer auf.

Bei diesem Lager, das die Nummer 264 trägt, war der Indus mit Ausnahme schmaler Eisstreifen am Lande beinahe offen. Dunkelblau gleitet das Wasser zögernd in lautlosen Wirbeln und Spiralen dahin und durchbricht mit südwestlicher Richtung in einem Quertale die Ladakkette. Im Nordwesten erblicken wir den Paß Tsake-la, der die Wasserscheide zwischen dem Indus und dem Panggong-tso bildet. Er ist kein Kammpaß in einer Kette, sondern eine flache Schwelle zwischen zwei Gebirgsketten, dem Transhimalaja und der Ladakkette.

Bei schneidendem Frost und eisiger Kälte heulte der uralte Westwind über den Ufern des Indus und hätte unsere Zelte in den Fluß hinuntergefegt, wenn wir sie nicht mit Seilen doppelt stark versichert gehabt hätten. Die ewigen Westwinde aus Tschang-tang hatten ihren munteren Tanz auf dem höchsten Hochlande der Erde wieder begonnen. Ich erkannte, wie sie wieder zugriffen, und verstand, daß der Sturm mich aufforderte, die Herrschaft mit ihm zu teilen. Und ich lächelte am Lagerfeuer in dem Gedanken, daß ich ja die Einladung schon angenommen hatte und daß die neue Karawane, die mich dort hinaufführen sollte, bereits in einigen Tagen der ersten Reveille lauschen würde. »Wähle zwischen Tibets Winter und Indiens ewigem Sommer!« flüsterte der Wind im Grase am Indusufer. Ohne Zaudern hatte ich meine Wahl getroffen; aber dennoch hegte ich bei dem Gedanken an die entsetzliche Kälte, die meiner wartete, ein gewisses Gefühl des Mitleides mit mir selbst.

In heftigen Stößen fährt der Wind über uns hin und wälzt sich in wilden Kaskaden von den Kämmen herab. Ich verschließe mein Zelt und krieche in meine Höhle, draußen aber herrscht die ganze Nacht hindurch brausende Unruhe.


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