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Wunderbar erscheint es uns, daß gewaltige Gebiete Südtibets, eines Landes, das der Grenze Indiens so nahe und nur dreihundert Kilometer von englischen Eisenbahnstationen entfernt liegt, bis auf den heutigen Tag ihre Geheimnisse unverraten bewahrt haben und daß keines Europäers Auge ihre Landschaften gesehen hat. Vor fünf Jahren gelang es mir, durch die einst unerbittlich verschlossenen Felsentore einzudringen, die Hauptlinien bisher unbekannter Bergketten aufzuzeichnen, Flußläufen zu folgen, von deren Vorhandensein kein Echo in die Welt der Weißen gedrungen war, und mein Zelt an Seeufern aufzuschlagen, wo noch nie ein Europäer den Liedern der Wellen gelauscht hatte.
Seit Jahrhunderten das Ziel der Sehnsucht, sind im Laufe jener fünf Jahre auch die Pole der Erde erreicht worden. Sie galten als unerreichbar. Nichts Schwierigeres konnte es geben, als es durchzusetzen, mit Hundegespannen zu einem der Pole zu fahren. Und dennoch wurden beide Pole in der aufregenden Jagd erobert, deren Haupttriebfedern die nationale Eitelkeit und die am Ziele winkende Siegespalme bildeten. Nach den Polen drangen kühne Männer zu einer Zeit vor, in der in den tiefen Tälern, wo die indochinesischen Flüsse ihre Bahnen eingeschnitten haben, noch so viele Geheimnisse ungelöst lagen. An den Polen wurden Flaggen aufgepflanzt, ehe der Sturmlauf auf die Gipfel des Gaurisankar, Kantschindschanga oder Mount Everest begonnen hat. Die Zukunft wird zeigen, daß die höchsten Bergspitzen der Erde unzugänglicher sind als die beiden Punkte, durch welche die Erdachse geht. Die Tatsache, daß das Land im Norden des obern Brahmaputra erst wenige Jahre vor den Polen erobert worden ist, verrät, daß die über die Grenzen Tibets ins Innere führenden Wege nicht mit Rosen bestreut sind.
Aus den Dschungeln Bengalens, aus der reichen Pflanzenwelt des Gangestals und aus den Ebenen des Pandschab steigen bewaldete Höhen hinauf nach kahlen schroffen Felsen und jäh abstürzenden Wänden, nach wildzerklüfteten, zackigen Gebirgsmassen und schließlich zu der Dynastie versteinerter Könige, die unter Kronen ewigen Schnees auf das stickige, dunstige Indien hinabschauen. Aus Ehrfurcht vor dieser geheimnisvollen, eisigkalten und unzugänglichen Welt verlegten die alten Inder, das Volk der Ebene, den Wohnsitz ihrer Götter und ihre heiligsten Orte gerade in jene hohen Regionen, die den Sterblichen unerreichbar waren.
Aber der religiöse Glaube der Hindus hat doch nicht den ganzen Himalaja mit Göttern bevölkert, und nicht überall im Hochgebirge gibt es Wallfahrtsorte. In ihrem Bewußtsein spielt der mittelste Himalaja keine Rolle. Auch das Land Nepal mit seinen herrlichen, üppigen Tälern wird in ihrer klassischen Literatur nur in unbestimmten, dunklen Ausdrücken erwähnt, und erst in neuerer Zeit sind die Hindus dorthingelangt. Dagegen pilgerten die Inder seit uralten Zeiten zur Gangesquelle, und ihre vornehmsten Götter verlegten sie nach jenem Teile des Himalaja und dem auf seiner Nordseite liegenden Lande, wo die großen Flüsse ihre Quellen haben und alle die Wassermassen sammeln, die auf Indiens Ebenen das Korn wachsen und zu goldenen Ernten heranreifen lassen.
Die indischen Arier kamen aus Nordwesten und zogen über das Gebirge nach Kaschmir, nach dem Pandschab und nach den Ländern des Indus und des Ganges hinunter. Eine uralte Kenntnis der Gegenden, wo ihre in Götter verwandelten Vorfahren gelebt und gewandert, erhielt sich in ihrem Bewußtsein als dunkle Erinnerung aus grauer Vorzeit. Daher wurde das Land um die heiligen Seen und um die Flußquellen herum auch der Wohnsitz ihrer Götter. (Vgl. Anton Freiherr von Ow, »Hom, der falsche Prophet aus der noachitischen Zeit«, S. 152, und »Religionsgeschichtliches aus Sven Hedins Transhimalaja«, im »Anthropos«, V [1910], Heft 5 und 6; ferner auch Lassen, »Indische Altertumskunde« usw.).
Nach den alten Büchern des Veda lag Asien wie eine auf der Oberfläche des Ozeans schwimmende Lotosblume ( padma) da. Die Blume hatte vier Blätter. Das nach Süden gerichtete Blatt war Indien. Inmitten der gewaltigen Berggipfel, die mit ihren Flüssen die Erde befruchteten, erhob sich Meru, der Götterberg, die höchste Anschwellung der Erde, einem Fruchtknoten in der Mitte der Blume vergleichbar. Denn Meru umfaßte das ganze Hochland, das von Indien nach Norden hin ansteigt. Ganz Tibet gehörte dazu. Nicht nur die arischen Inder erhoben ihre Hände zu den Bergen, von denen ihnen ihrem Glauben zufolge die Hilfe kam, auch andere in der Umgegend wohnende Völker schauten zu den geheimnisvollen Höhen auf. Den Birmanen ist das Schneeland der Wohnsitz der Seligen nach dem Tode, und sogar die Chinesen erwählen sich den Kven-lun, einen Teil des Meru, zum Aufenthaltsorte ihrer ältesten Heiligen und Unsterblichen.
Von diesem Meru strömen fünf Riesenflüsse herab, der Ganges, der Indus und der Oxus nach Süden und Westen, die beiden andern nach Sibirien und China. Im Norden und Süden umrahmen dreifache Bergketten den Meru. Die drei südlichen sind: Himavan oder Himalaja in unmittelbarer Nähe Indiens, Hemakuta oder das Gebirge mit den goldglänzenden Gipfeln; die dritte, »das Beste unter den Bergen«, dient dem Indra als Thron, dem Gotte des Regens und des Gewitters, der die schimmernde Brücke des Regenbogens sich am Himmelsgewölbe spannen läßt, nachdem er seinen Donner über die Erde hatte dröhnen lassen. Diese dritte Bergkette ist der Kailas, das Paradies des Siwa, das Heim der Götter. Jenseits heiliger Seen und jenseits der heiligen Quellen des Indus, des Satledsch, des Brahmaputra, des Ganges und des Dschamna erhebt er seinen von der Sonne beleuchteten Scheitel über einem Lande, das auf Erden an erhabener Majestät und großartiger Einsamkeit seinesgleichen sucht.
Die mystische Dichtung bevölkert den Kailas mit einer Welt wunderbarer Gestalten. Über ihm erhebt sich Siwas Himmel, und dorthin nach dem Tode zu gelangen, ist ein heiß ersehntes Glück – eine Überzeugung, die auch von den Tibetern geteilt wird. Im »Wolkenboten« singt Kalidasa von dem luftigen Zuge der heiligen Alpenschwäne nach dem Kailas und seinen Nachbarn, die hoch über den Ländern der Erde wie weiße Lotosblumen glänzen, ein Widerschein des Lächeln Siwas und des Lichtes Mahadevas. Der Kailas, der Kristall, ist der Ursprung der göttlichen Flüsse, und dort verehrt man Ramas Fußspur.
So umhüllten die alten Arier, die Vorfahren der Hindus, diese Welt undurchdringlicher Berge mit einem Sagen- und Liedergewande und machten sie zum Schauplatz der Heldentaten und der wunderbaren Begebenheiten der epischen und mystischen Dichtungen. Aus dem Dunkel der indischen Sagen drang schließlich ein kaum vernehmliches Echo vom Himalaja nach dem Abendland, fortgepflanzt durch Berichte, die auf Hörensagen beruhten und auf phönikische und persische Kaufleute und Wanderer zurückzuführen waren. Herodot erzählte von den goldgrabenden Ameisen nordwärts im Nebelheim, eine Sage, deren Wurzeln bei den alten Indern zu finden sind. Er sagt, die seltsamen Ameisen seien kleiner als Hunde, aber größer als Füchse. Nearchos erzählt, daß er selbst im Lager Alexanders eine Haut jener goldgrabenden Tiere gesehen und gefunden habe, daß sie dem Felle eines Panthers gleiche. In unsern Tagen haben sich die Ameisen der Sage in Murmeltiere verwandelt, die Löcher in den Erdboden graben und vor dem Eingange ihrer Höhlen Erd- und Sandhaufen aufwerfen, worin vielleicht hin und wieder etwas Goldstaub enthalten gewesen ist.
Die geographischen Autoren und die Geschichtschreiber nach Alexanders Zeit erwähnen nur die hohe Bergkette, die Indien im Norden begrenzt. Megasthenes nannte den Himalaja Emodos, ein Name, dessen sich auch Plinius bedient. Arrian gibt dem westlichen Teile jenes Gebirges den Namen Kaukasus. Pomponius Mela läßt Indiens Nordgrenze den Taurus sein, dessen gewaltiger Rücken sich, seiner Meinung nach wie schon früher nach der des Eratosthenes, von Kleinasien bis in den äußersten Osten erstreckte. Strabo erzählt, daß, wenn man vom Hyrkanischen oder Kaspischen Meere ostwärts ziehe, rechts das Gebirge liege, das die Hellenen den Taurus nannten und das sich bis an das Indische Meer erstrecke. Über die hohen Gebirgsmassen jenseits der Länder Baktriana und Sogdiana und des Landes der wandernden skythischen Hirten sagt er: »Alle übrigen Gebirge, vom Lande der Arier an, nannten die Makedonier Kaukasus, aber bei den Barbaren bezeichnete man die verschiedenen Teile mit den Namen Paropamisus, Emodus, Imaus und anderen ähnlich lautenden.« An einer andern Stelle betont er diese Auffassung in folgenden Worten: »Indien wird im Norden, von Ariana bis ans Ostmeer, durch die letzten Teile des Taurus begrenzt, welche die Eingeborenen teils Paropamisus, teils Emodus, Imaus und noch anders, die Makedonier aber Kaukasus nennen.«
Im zweiten Jahrhundert n. Chr. schrieb Ptolemäus, der größte Geograph des Altertums, seine berühmte Erdkunde, mit der er das Fundament legte, auf welchem in viel späterer Zeit Araber und Europäer weiterbauten.
Der Name Imaus umfaßt bei Ptolemäus nicht nur den östlichen Teil des Hindukusch und den westlichen Teil des Himalaja, sondern auch das östliche Randgebirge des Pamir. Daher trennt der nordsüdliche Imaus das westliche Skythien vom östlichen, während der westöstliche Teil, der dem Himalaja entspricht, eine Grenzmauer bildet zwischen India intra Gangem fluvium und Scythia extra Imaum montem, dem Lande, in dessen südlichem Teile sich die mächtigen Bergketten des Transhimalaja auftürmen.
Das ganze Mittelalter lebte, wie man wohl sagen kann, von der Weisheit des Ptolemäus, und mit dogmatischer Schärfe wuchs sein Weltsystem in dem Bewußtsein der Gelehrten fest. Elfhundert Jahre lang strömten die hochgeborenen Flüsse aus ihren heiligen Quellen herunter, und die dunklen Wolkenmassen des Monsuns kämpften mit dem Sonnenschein um die Herrschaft über den Transhimalaja und seine Nachbarn. Die Europäer hatten keine Ahnung von der höchsten Anschwellung der Erde. Einer Festung gleich, welche gewaltige Mauern und gefüllte Wassergräben schützen, träumte das unbekannte Tibet in ungestörter Ruhe. Wie lange sollte es noch dauern, bis die Außenmauern fielen! Siebzehnhundertundfünfzig Jahre hindurch sollten die Winterstürme über den Hochgebirgsmassen von Bongba ihre uralten Hymnen singen, bevor sich auch die letzten Verschanzungen dem Drängen der europäischen Forschung ergaben.
Als die Erde ihre elfhundert Runden um die Sonne gemacht hat, dringt ein erstes flüchtiges Gerücht über Tibet nach Europa. Unter wilden Verheerungen waren die Mongolen in die Welt der Weißen eingefallen. Um über die Heimat und die Lebensverhältnisse jenes kriegerischen Reitervolkes Aufklärung zu erhalten, schickte der Papst im Jahre 1245 Piano Carpini zum Großchan. Dieser Gesandte hörte auf seinen weiten Reisen von Tibet erzählen. »Die Bewohner jenes Landes sind Heiden«, sagt er, und er berichtet dann weiter: »Sie haben eine sehr erstaunliche oder vielmehr schreckliche Sitte, denn, wenn der Vater eines jener Leute im Begriff ist, den Geist aufzugeben, so versammeln sich alle seine Angehörigen, um ihn aufzuessen, was mir als der Wahrheit entsprechend mitgeteilt worden ist.«
Auf seiner berühmten Reise während der Jahre 1253–1255, deren Ziel ebenfalls der Hof des Großchans war, erfuhr der prächtige Franziskanermönch Wilhelm Rubruquis, daß jenseits der Tanguten die Tebeter wohnten, »ein Volk, bei dem es Brauch ist, seine toten Eltern zu verspeisen, weil man aus lauter Frömmigkeit seinen Eltern keine andere Grabstätte geben will als seine eigenen Eingeweide. Jedoch haben sie diesen Brauch aufgegeben, weil sie deshalb von allen Völkern mit Abscheu betrachtet worden sind. Indessen machen sie noch hübsche Schalen aus den Schädeln ihrer Eltern, auf daß sie beim Trinken aus diesen (Schalen) mitten in ihrer Heiterkeit daran (an ihre Eltern) denken sollen. Dies hat mir einer erzählt, der es selber gesehen hat. Jene Menschen haben viel Gold in ihrem Lande, so daß der, welcher Gold braucht, so lange gräbt, bis er welches findet, und er nimmt nur gerade so viel davon, als er braucht, und steckt den Rest wieder in den Boden hinein; denn, wenn er es in eine Schatzkammer oder in eine Kiste legte, so würde ihm, wie er glaubt, ein Gott das (Gold) im Erdboden rauben. Ich sah unter diesem Volke viele mißgestaltete Individuen.«
Rockhill, der die beste Ausgabe des Reiseberichtes des Rubruquis besorgt und kommentiert hat, zweifelt daran, daß die Tibeter im Mittelalter Kannibalen gewesen seien. Dagegen gibt es noch heutigentags kaum einen Tempel in Tibet, wo nicht Menschenschädel sowohl als Trinkgefäße wie als religiöse Trommeln benutzt werden. Eine solche Trommel ist als Abbildung Nr. 100 auf S. 433 der zweiten Auflage meines Buches »Durch Asiens Wüsten« dargestellt.
Während der zwanzig Jahre (1275–1295) seines Aufenthalts am Hofe des Herrschers Kublai Chan hörte Marco Polo, der berühmteste Reisende des Mittelalters, allerlei über Tibet und erzählt davon:
»Diese Provinz, Tebet genannt, hat eine sehr große Ausdehnung. Die Bewohner haben ihre eigene Sprache, sind Götzenanbeter und grenzen an Manzi und verschiedene andere Gegenden. Überdies sind sie sehr große Diebe. Das Land erstreckt sich tatsächlich so weit, daß es acht Königreiche und eine große Anzahl Städte und Dörfer umfaßt. Es umschließt in vielen Gegenden Flüsse und Seen, in denen es Goldstaub in großer Menge gibt. Zimt wächst dort auch in großer Fülle. Korallen sind ein sehr gesuchter Artikel in diesem Lande und bedingen dort hohe Preise, denn man freut sich, sie seinen Weibern und seinen Götzen um den Hals hängen zu können. Sie haben in diesem Lande auch eine Masse feiner Wollstoffe und anderer Zeuge, und viele Arten Gewürze, die man bei uns zulande niemals sieht, werden dort gezogen. Unter diesem Volke findet man auch die besten Zauberer und Sterndeuter, die es in diesem ganzen Teile der Welt gibt; sie führen durch ihre Teufelskünste so außerordentliche Wunderwerke aus, daß man erstaunt, wenn man sie sieht oder auch nur davon hört. Deshalb will ich eines solchen in unserm Buche nicht erwähnen; die Leute wären starr vor Staunen, wenn sie davon hörten, aber es hätte keinen guten Zweck. Die Leute in Tebet sind eine schlechte Rasse. Sie haben Bulldoggen von Eselsgröße, die im Einholen wilder Tiere sehr geschickt sind. Sie haben auch verschiedene andere Jagdhundarten und vorzügliche Jagdfalken, die schnell im Fluge und gut abgerichtet sind und in den Gebirgsgegenden des Landes eingefangen werden.« Zum Schlusse teilt Marco Polo noch mit, daß Tebet unter der Herrschaft des Großchans stehe.
Im Jahre 1328 reiste der Franziskanermönch Odorico de Pordenone von Schan-si aus durch Schen-si, Setschuan und Tibet. Henri Cordier, der die beste Ausgabe der Reisebeschreibung dieses Mönchs besorgt hat, spricht die Vermutung aus, daß der zweite Abschnitt der Reise, von welchem keine Nachrichten vorhanden sind, den Mönch durch Badakschan, Chorasan, Täbris und Armenien nach Europa zurückgeführt habe, wo er im Jahre 1330 anlangte. Sein Name ist nicht nur deshalb denkwürdig, weil er eine der merkwürdigsten Reisen quer durch ganz Asien ausgeführt hat, sondern auch deswegen, weil er der erste Europäer ist, der Tibet durchzogen hat und in Lhasa gewesen ist, in jener weißen Stadt, die noch ein halbes Jahrtausend später die Sehnsucht europäischer Reisenden entflammte und in deren Einbildung himmelhohe Fassaden unter goldenen Tempeldächern aufwies. Odorico nennt Lhasa Gota, nach Cordier eine Verdrehung des Namens Potala, den das Klosterschloß des Dalai-Lama führt. Das Land nennt er Riboth; er weiß, daß es an Indien grenzt, und sagt:
»Dieses Königreich steht unter der Herrschaft des Großchans, und man findet dort Brot und Wein und viel größeren Überfluß als in irgendeinem andern Teile der Welt. Die Bevölkerung dieses Landes lebt in schwarzen Filzzelten. Die Königsstadt ist sehr hübsch, ganz und gar aus weißem Stein gebaut und hat gut gepflasterte Straßen. Sie heißt Gota. In dieser Stadt wagt niemand, Menschenblut, auch nicht das irgendeiner Tierart zu vergießen, und zwar aus Ehrfurcht vor einem Götzen, den man dort verehrt. In dieser Stadt wohnt der ›Obassy‹, das ist der Name ihres Papstes in ihrer Sprache. Er ist das Oberhaupt aller Götzenanbeter und verteilt die Priesterstellen des Landes auf seine Weise.«
Odorico weiß auch, wie die Tibeter mit den Toten verfahren, wie die Priester der Leiche den Kopf abschneiden und ihn dem Sohne geben, der eine Trinkschale daraus anfertigt, aus der er auf das Andenken seines Vaters trinkt, während der Leib zerstückelt und Adlern und Geiern hingeworfen wird, die gleich Gottes Engeln den Entschlafenen in die Freuden des Paradieses führen.
Wieder verflossen drei Jahrhunderte, ohne daß aus dem Schneelande, wie die Tibeter ihre Heimat zwischen den Bergen und Tälern oft nennen, irgendeine neue Kunde nach Europa gedrungen wäre. Drei Jahrhunderte hielt sich die Festung, ohne daß Fremdlinge ihre Gräben überschritten. Die Stürme fegten den Schnee wie früher die Abhänge hinauf und ließen ihn wie weiße Tücher von Kämmen und Gipfeln hinabflattern. Es stöhnte und pfiff um die Felsvorsprünge, und die Wellen schlugen einsam und melancholisch gegen die Ufer des Sees des Brahma und des Tengri-nor. Ungestört und sicher wie in einer Freistätte zogen die Nomaden mit ihren schwarzen Filzzelten von einer Weide zur andern, gerade so wie in jenen Tagen, als Odorico in ihrem Lande weilte.
Im Jahre 1625 reiste der Pater Antonio de Andrade nach Tsaparang. Wir werden später, wenn wir uns jener Gegend nähern, von ihm sprechen. Jetzt wollen wir nur jene Reisenden anführen, die auf ihren Streifzügen den Transhimalaja berührt haben. Wir haben gesehen, daß das indische Altertum keinen andern Teil dieses Systems als den Kailas kannte. Ob Odorico die östlichen Ketten jenes Systems überschritten hat, ist nicht bekannt. Aber nun setzt die neuere Zeit ein mit ihren verschärften Anforderungen an eine gründlichere Kenntnis der Erde. Während dieser Periode werden nach und nach die Flügel des Transhimalaja bekannt.
In der Erforschung der Erde ist ein großartigeres, verführerischeres Problem als die Verbindung dieser beiden Flügel und die Feststellung des ganzen Systems kaum denkbar. Jedenfalls habe ich nie vor einer schönern Aufgabe gestanden. Daher verweile ich mit Vorliebe bei dem Gedanken an die Reisenden, die in früheren Zeiten und vor noch nicht langer Zeit Steine herbeigetragen haben zu dem gewaltigen Bau, der jetzt in seinen Hauptzügen fertig ist. Vielleicht verlohnt es sich auch der Mühe, zu untersuchen, wie eine der riesenhaftesten Falten der Erdrinde, die in ihrer Erstarrung heute noch ebenso unerschütterlich dasteht wie in jenen Zeiten, als die Veden geschrieben wurden, allmählich aus der Nacht der Sagen und Legenden hervortritt, wie sie stückweise entschleiert wird, auf den Karten der Europäer immer weiter wächst und vollendet wird, einem Geduldspiel vergleichbar, und wie sie sich schließlich dem Bewußtsein der Geographen als eines der höchsten, längsten und größten Gebirgssysteme der Erde vertraut macht.
Die letzte Strecke, die noch fehlte, um das Bild zu einem Ganzen zu vereinigen, hatte ein Areal von ungefähr 110 000 Quadratkilometer, war also größer als Bayern, Württemberg und Baden zusammen. Auf der Karte las man dort nur die Worte » terra incognita«, und es galt, diese auszulöschen. Nur wenn dies gelang, war das Spiel gewonnen.
Der erste Reisende, der Europa umfassendere und wertvolle Kunde von Tibet gebracht hat und von dem man sicher weiß, daß er den östlichen Transhimalaja überschritten hat, war der Jesuitenpater Johannes Grüber, der in Begleitung Albert Dorvilles, eines Mitgliedes desselben Ordens, im Jahre 1661 Peking verließ, um über den Koko-nor, Lhasa, Schigatse und Katmandu ganz Osttibet zu durchwandern, und der nach glücklicher Beendigung seiner Reise im Jahre 1662 in Agra anlangte. Die Beschreibung dieser Reise steht jedoch nicht im richtigen Verhältnis zu ihrer Bedeutung. Athanasius Kircher und Thévenot haben eine kleine Anzahl Briefe und Aufzeichnungen von Grübers Hand veröffentlicht, ersterer in seinem berühmten Werke » China illustrata«, das im Jahre 1670 in Amsterdam erschienen ist.
Daraus erfährt man, daß die beiden Geistlichen den Hwang-Ho zweimal überschritten und daß sie, nachdem sie Sining-fu hinter sich hatten, drei Monate durch die Wüste der tatarischen Kalmücken zogen, bevor sie das Königreich Lhasa, das von den Tataren Barantola hieß, erreichten. Ihr Weg führte über Ebenen und Gebirge und über Flüsse mit grasbewachsenen Ufern, wo die Herden der Nomaden in genügender Menge Weide fanden. »Es gibt viele, welche glauben, daß diese Wüste sich von Indien bis ans Eismeer erstrecke.« Dort kommen keine andern Tiere vor als »wilde Stiere«. Die Einwohner wohnen in »tragbaren Häusern«, wie Grüber das nennt, was Odorico dreihundert Jahre früher ganz richtig als »schwarze Filzzelte« bezeichnet hatte.
Im südlichen Teile des so beschriebenen Landes, zwischen Naktschu am Saluen und dem Kloster Reting im Südosten des Tengri-nor, gingen Grüber und Dorville über die Höhen des Transhimalaja, ohne zu ahnen, daß sie dadurch den vielen andern Entdeckungen, die sie auf ihrer weiten Reise schon gemacht hatten, noch eine neue hinzufügten. Daß dieses Gebirgssystem in Grübers Aufzeichnungen nicht mit dem scharfen Relief hervortritt, das der Wirklichkeit entspricht, und daß Kircher seiner nicht einmal erwähnt, darf nicht wundern, denn auch die Bergketten im Süden von Zaidam, den gewaltigen Tang-la, der zweihundert Jahre später Pater Hucs Erstaunen und Entsetzen erregte, scheint Grüber nicht im Gedächtnisse behalten zu haben.
Was er um so besser behalten und in lebhaften Farben beschrieben hat, das sind die Langurberge im Süden des Tsangpo, die der nördlichen, die Wasserscheide bildenden Kette des Himalaja zwischen Schigatse und Katmandu entsprechen. Dort hat ihn die Bergkrankheit überfallen, und um sich das unerträgliche Kopfweh, das in seinen Schläfen hämmerte, zu erklären, hat er einige gewagte Schlüsse gezogen, die von seinen katholischen Nachfolgern auf den hochgelegenen tibetischen Straßen mit dogmatischer Treue angenommen worden sind.
Er sagt, das Langurgebirge sei so hoch, daß Menschen dort nicht atmen könnten, weil die Luft gar zu »subtil« sei, und er fügt hinzu: »im Sommer wachsen dort gewisse giftige Kräuter, die einen so übelriechenden, gefährlichen Duft ausdünsten, daß man dort oben nicht ohne Gefahr, sein Leben zu verlieren, verweilen, ja das Gebirge nicht einmal ohne Lebensgefahr überschreiten kann«. Einen ganzen Monat lang muß man über gewaltige Berge und längs grauenhafter Abgründe ziehen, ehe man die erste Stadt in Nepal erreicht.
In Kirchers Werk lesen wir auch von der Unterredung, die der Großherzog von Toskana mit dem guten Grüber nach seiner Heimkehr hatte. Der Großherzog fragte unter anderm, ob Pater Johannes von der Tartarei oder dem Lande der Usbeken aus in das Reich des Großmoguls hineingezogen oder ob er von Osten hergekommen sei und ob er die Gegenden Tibets, die Antonio de Andrade geschildert, kennen gelernt habe. Hierauf antwortete Grüber, daß er von Peking bis Sining-fu immer westwärts gegangen sei und daß er von der großen Mauer an eine südwestliche Richtung eingehalten habe. Um in die Länder des Großmoguls zu gelangen, sei er durch die Wüste der Tartarei und die Königreiche Barantola, Nepal und Maranga gewandert und schließlich an den Ganges gekommen. »Was das Königreich Tibet anbetrifft, so sind meine Kenntnisse hinsichtlich dieses Landes ziemlich genau, denn sowohl unsere Jesuitenpatres, wie auch die Christen, die dort gewesen sind, haben mir gründliche Auskunft gegeben.«
Als der Großherzog sich erkundigte, ob Pater Johannes die außerhalb Chinas liegenden Provinzen und Staaten zu beschreiben gedenke und ob es seine Absicht sei, der Öffentlichkeit geographische Karten darüber zu schenken, erhielt er leider zur Antwort, nachdem Pater Athanasius Kircher in seinem Werke » China illustrata« schon alles über die Reise Grübers mitgeteilt habe, werde es verlorene Liebesmühe sein, dem, »was bereits von einem so großen Manne gesagt worden, noch etwas hinzufügen und ein besonderes Buch schreiben zu wollen«. Man erhält den Eindruck, daß es Grüber wie eine Vermessenheit oder geradezu wie Insubordination gegen Kircher erschienen ist, Anspruch darauf zu erheben, daß er selber etwas schreiben könnte, was besser und ausführlicher wäre als das bereits in » China illustrata« enthaltene.
Auf einer der Karten Kirchers erkennen wir in den » Montes Tebetici« den Himalaja, obwohl der zum Transhimalaja gehörende Kailas dazu gerechnet ist. Im Norden dieses Gebirges liest man die Worte Tibet Regnum.
Volle fünfzig Jahre verliefen im Strome der Zeit, ohne daß aus dem Lande, wo die Berge des Transhimalaja ihre Gipfel in Stürmen und Sonnenschein baden, ein Echo nach Europa drang. Da trat in Rom ein Ereignis ein, das den Weg nach dem geheimnisvollen Lande bahnte. Die Kapuzinerväter in der Mark Ancona bewarben sich um die ausschließliche Berechtigung zur Missionstätigkeit in Tibet und erhielten sie auch durch eine besondere Verordnung der Congregatio de propaganda fide. Darauf brachen der Pater Felice da Montecchio, der Pater Domenico da Fano und andere Mitglieder des Kapuzinerordens im Jahre 1704 aus Rom auf, um nach Indien und Tibet zu reisen. Da Fano langte im Jahre 1707 in Lhasa an. Seine Bemühungen, in der Hauptstadt des Dalai-Lama eine Missionsstation zu gründen, stießen auf große Schwierigkeiten; um kräftigere Unterstützung aus der Heimat zu erlangen, kehrte er nach der Ewigen Stadt zurück. Im Jahre 1715 war er zum zweitenmal in Indien, zu einem neuen Sturmlaufe gegen Tibet gerüstet.
Inzwischen hatte der Jesuitenpater Ippolito Desideri von seinem Ordensgeneral die Erlaubnis zum Bekehren der Tibeter erhalten; nachdem der Papst ihm seinen Segen erteilt hatte, machte er sich ebenfalls auf den Weg. Von Indien nahm er den Pater Manuel Freyre mit. Beide reisten über Kaschmir nach Leh, wo sie den Sommer des Jahres 1715 verlebten und sich mit dem Erlernen der Sprache beschäftigten, alles in der Hoffnung, dereinst »zwischen den Bergen von Tibet der Majestät Gottes wohlgefällige Früchte aufsprießen zu sehen«.
Desideri verließ Leh im August 1715 und reiste im Gefolge einer Tatarenprinzessin mit großen Karawanen und vielen Begleitern über Gartok und den Manasarovar nach Lhasa, wo er im März 1716 anlangte. Er hatte eine Reise ausgeführt, die seinen Namen auf immer berühmt machen sollte. Es dauerte noch volle 188 Jahre, bis die nächste europäische Expedition – unter Hauptmann Rawling und Major Ryder – durch das Tal des oberen Brahmaputra zog. Pater Desideri aber war der erste Europäer, der am Südfuße des Transhimalaja das ganze Gebirge entlang gewandert ist.
Gegen zweihundert Jahre kannte man über jene Reise nichts anderes als das, was Desideri in einem aus Lhasa am 10. April 1716 geschriebenen Briefe, der später in den » Lettres Edifiantes« abgedruckt worden ist, dem Pater Ildebrand Grassi anvertraut hat. In wohl zehn andern berührt er keine geographischen Fragen. Endlich fand man in seiner Vaterstadt ein ausführliches, inhaltsreiches Manuskript von seiner Hand, und diese wertvolle Urkunde wurde 1904 in Rom veröffentlicht. Unter den katholischen Missionaren, die zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts Tibet besuchten, ist Desideri der hervorragendste.
Monatelang ritt er am oberen Indus entlang, am heiligen See vorüber und durch das Tsangpotal, und beständig hatte er dabei auf der Nordseite Felsschultern und Vorsprünge des Transhimalaja, der in das Tal hinabschaute wie Häusergiebel in eine alte Gasse. Trotzdem weiß Desideri über diese Berge so gut wie nichts zu sagen, sondern spricht, wie Grüber, nur vom Langurgebirge. Wenn man dieselbe Straße zieht wie Desideri, ist es nicht schwer, ihn zu verstehen. Das Langurgebirge, das er mühsam überschritten hat, machte einen mächtigeren Eindruck auf ihn als der Transhimalaja, den er nur teilweise vom Tsangpotale aus erblickte. Von der vergleichsweise tiefen Rinne dieses Flusses aus gesehen, macht jenes System nur an zwei Stellen einen bedeutenden Eindruck; sonst sind die naheliegenden Berge, die die Hauptkämme verdecken, nicht sehr hoch.
Aber Desideri ist der erste Europäer, der den Kailas gesehen und davon erzählt hat. Er berichtet, daß er Mitte Oktober Gartok verlassen habe und am 9. November die größten Höhen erreicht habe, die er auf dem Wege nach Lhasa habe bekämpfen müssen. Hier in der Provinz Ngari, sagt er, ist ein außerordentlich hoher Berg, der beträchtlichen Umfang hat, mit ewigem Schnee bedeckt ist und in die entsetzlichste Kälte eingehüllt erscheint. Vielleicht hat er den Kailas umwandert, denn er erzählt von dem Zuge der Pilger und der religiösen Bedeutung des Berges.
Er kennt die verschiedenen Straßen von Lhasa nach Sining-fu, er weiß, daß Tibet im Osten und Nordosten an China und an die Tartarei und im Norden an wilde, öde Gegenden und das Königreich Jarkent grenzt. Er erzählt denjenigen, die seine Schriften erst zweihundert Jahre später kennen lernen sollten, daß Schigatse die Hauptstadt des Königreiches Tsang sei, daß Lhasa, das Herz der mittelsten Provinz Tibets, die U heiße, inmitten hoher Berge liege und daß sich auch im Norden des Klosters Sera hohe Kämme erheben.
Desideris Schilderung hätte jedoch in unserer Phantasie nie das Bild eines fortlaufenden Gebirgssystems längs des Weges von Ladak nach Lhasa hervorgerufen. Ein solches Bild existierte noch im Jahre 1904 höchstens theoretisch. In demselben Jahr erschien die Beschreibung des Desideri, ohne unsere Ansichten erweitern oder unsere Begriffe hinsichtlich des geheimnisvollen Gebirges im Norden entwirren zu können.
Das Langurgebirge aber hat auf den Pater Eindruck gemacht. »Es hat die Eigenschaft, daß ein jeder, der hinüberzieht, unbedingt großes Unbehagen verspürt, besonders starkes Kopfweh, Brechreiz und Atemnot, wozu noch Fieber kommt.« Desideri hat eine viel vernünftigere und richtigere Erklärung der Bergkrankheit als Pater Huc, der sie giftigen aus dem Boden aufsteigenden Kohlensäuredämpfen zuschreibt. Jener sagt: »Viele Menschen glauben, daß das Unbehagen, das man empfindet, von den Dämpfen gewisser Mineralien herrühre, die im Innern der Langurberge vorkommen; da man aber bisher keine sichere Spur solcher Minerale gefunden hat, so glaube ich lieber, daß die ungemütlichen Zustände durch die dünne, scharfe Luft verursacht werden. Ich neige dieser Ansicht um so mehr zu, als meine Schmerzen noch unerträglicher wurden, wenn sich Wind erhob, und als ich gerade auf den Höhen des Langurgebirges an mörderlichem Kopfweh litt.«
Während der langen, beinahe vier Jahrzehnte umfassenden Zeit, als die Kapuzinermission, wenn auch mit Unterbrechungen, in Tibet wirkte, hätte doch, sollte man annehmen, eine ganze Literatur über das merkwürdige Land entstehen müssen. Denn damals reisten viele Priester über den Himalaja hin und her. Und doch ist die geographische Ausbeute mager. Das wichtigste Werk jener Zeit ist Georgis » Alphabetum Tibetanum«, zu welchem Orazio della Penna und Cassiano Beligatti beinahe das ganze Material geliefert haben. Dazu kommt Beligattis eigene Reisebeschreibung, die neuerdings in Macerata in der Biblioteca Communale Mozzi-Borgetti entdeckt und im Jahre 1902 in Florenz herausgegeben worden ist.
Der 1708 in Macerata geborene Beligatti weihte mit 17 Jahren sein Leben dem Dienste der Religion und begab sich im Jahre 1738 als Missionar nach Tibet, wo er zwei Jahre blieb. Über Nepal und Bengalen kehrte er im Jahre 1756 nach Italien zurück und starb dort 1785 in seiner Vaterstadt.
Seine Reise nach Tibet führte er in Gesellschaft des Paters della Penna aus. Die Kapuzinermission hatte inzwischen ihre Glanzperiode verfließen sehen, und nicht einmal die letzte Verstärkung, die sie aus Rom erhielt, vermochte das heilige Feuer, dem Dalai-Lama und den Götzenbildern in Potala zum Trotz, in Glut zu erhalten. Im April 1745 erlosch die Flamme auf immer, als die letzten Missionare Lhasa verließen. Ihre Häuser wurden zerstört, und ein Jahrhundert sollte verstreichen, ehe wieder Missionare aus Europa, die Lazaristen Huc und Gabet, nach der heiligen Stadt drangen. Doch noch im Jahre 1904 fanden die Engländer unter Younghusband in Potala eine Bronzeglocke, die einst zum Gottesdienste in der Kapuzinerkirche geläutet hatte. » Te Deum laudamus« steht in der Bronze zu lesen, und der Ambrosianische Lobgesang scheint in den Tonwellen zu schlummern, wenn die Glocke durch heidnische Hände in Schwingungen versetzt wird und das Echo schwermütig und siegesfroh von den Felsen Tibets widerhallt.
Beligatti erzählt von seiner Fußwanderung auf dem ganzen langen Wege von seinem Heimatorte nach Paris, von seiner Einschiffung in Lorient nach dem Hafen Tschandernagor, den er nach einem halben Jahre erreichte und. von welchem aus er und seine Kameraden im Dezember 1739 nach Patna weiterreisten. Von hier aus brachen acht Brüder und sechzehn eingeborene Diener auf Schusters Rappen auf, um auf holperigen Pfaden durch Nepal zu ziehen.
Sobald Beligatti in seiner Schilderung über die tibetische Grenze führt, lesen wir gespannt weiter und fragen uns, ob er uns wohl einen Blick auf den Transhimalaja werfen lassen werde. Doch wir warten vergeblich auf das Aufziehen des Vorhangs und verzeihen dem Fra Cassiano gern diese Unterlassung, wenn wir daran denken, daß ihm der Blick in die Ferne vielleicht durch die verhüllenden Draperien der Monsunwolken begrenzt worden ist.
Auf den Höhen des Langurgebirges kann er es ebensowenig wie seine Vorgänger unterlassen, von dem »sonderbaren Einflusse« zu sprechen, »den das Gebirge sowohl auf Menschen wie auf Tiere ausübt, mag dies an der Luftverdünnung oder an irgendeiner schädlichen Ausdünstung liegen«. Mit drei gesattelten Saumtieren, auf denen die am meisten Erschöpften der Schar ritten, arbeiteten sich die Geistlichen mühsam an den steilen Hängen des Gebirges hinauf. In einem Schuppen am Wege brachten sie, ihre Leute, die Reittiere und Reisende aus Lhasa eine Nacht zu, die an »Fegefeuer und Hölle« erinnerte. Einige wimmerten, andere schrien laut, während die neben ihnen Liegenden sich übergaben oder phantasierten. Essen konnte keiner, und die vierbeinigen Gäste trugen nicht zur Belebung der Stimmung bei. Am folgenden Morgen ging es über den Paß, und als man auf seiner andern Seite Tingri erreicht hatte, waren alle Leiden vorüber.
Er schildert ebenso meisterhaft wie Desideri die täglichen Arbeiten während seiner Reise und beschreibt, wie man Lager schlägt und die Tiere grasen läßt, um unterdessen die Lagerfeuer anzuzünden und das Essen zu kochen, während einige der Brüder das Brevier lesen; wie man zu neuen Anstrengungen aufbricht, widerspenstigen Mauleseltreibern den Text liest, den schnellfüßigen rotgelben Kiangs, die die Karawane umkreisen, mit den Blicken folgt; wie man durch den heftigen Wind, der oft das Kochen der Speisen verhindert, belästigt wird und wie man so ein Dorf nach dem andern und immer wieder ein neues Kloster erreicht. Beligattis Route läßt sich auf einer modernen Karte leicht verfolgen.
In Gyangtse bleiben die Priester zwei Tage, um Weihnachten zu feiern. Dann geht es weiter über den Karo-la nach dem seltsamen See Jamdok-tso mit seiner Halbinsel und seinen Nonnenklöstern. Darauf wandern sie zum Passe Kamba-la hinauf, der in der Kette liegt, die den Jamdok-tso vom Tsangpo trennt. Auch hier sagt er nichts über die Aussicht, die am nördlichen Horizont sein Auge entzückt haben muß. Aber er, oder vielleicht della Penna, der ihn auf dieser Reise begleitete, hat dem Pater Georgi erzählt, was sie sahen. Denn das » Alphabetum Tibetanum« zieht einen Zipfel des Vorhangs weg, und zwar in folgenden Worten: » E vertice Kambalà prospicitur nova quaedam series elatorium, nivosorumque montium ad Boream. Hinc eos adorant Indi ac Tibetani viatores« (Vom Scheitel des Kamba-la aus erblickt man eine neue Reihe hoher, mit Schnee bedeckter Berge nach Norden zu. Von hier aus beten die indischen und tibetischen Wanderer sie [jene Berge] an.)
Die mit Schnee bedeckten Kämme fern im Norden sind der Teil des Transhimalaja, den die Tibeter Nien-tschen-tang-la nennen und der in ihren Augen heilig ist. Falls der Himmel klar gewesen ist, haben Odorico de Pordenone, Grüber und Dorville, Desideri und Freyre und alle die Kapuziner, die über den Kamba-la gezogen sind, einst dasselbe Bild erblickt, ohne uns etwas über die imposante Landschaft zu verraten, die sich vor dem nordwärts schauenden Wanderer aufrollt.
Schließlich setzte man in ganz denselben Yakhautkähnen, wie sie noch heute benutzt werden, über den Tsangpo, und am Morgen des 5. Januar 1741 eilten » il Padre Prefetto« (della Penna) und Padre Floriano voraus nach Lhasa, um dort die Herberge, in der sich alle am nächsten Tage versammeln sollten, in Ordnung zu bringen. An der Spitze der übrigen Schar folgte Beligatti; er ließ das große Kloster Brebung zur Linken liegen, zog an der Außenmauer Potalas entlang und betrat am 6. Januar die heilige Stadt.
Am Schlusse seiner Schilderung erzählt Beligatti von den prachtvollen Klöstern Sera und Galdan, von der Art und Weise, wie der »König« die Missionare empfing, von ihrem Besuche bei dem chinesischen Residenten, von einem tibetischen Gastmahl, von den Tempelfesten an der Jahreswende und vom Einzuge des Großlamas in Lhasa.
Ein großer Teil des ursprünglichen Manuskripts ist verloren gegangen. Doch der Teil, der aus der staubigen Dämmerung des Archivs ausgegraben und 160 Jahre nach seiner Niederschrift veröffentlicht worden ist, verbreitet neues Licht über das Leben der Kapuziner in Lhasa und ihre mühseligen Wanderungen über die Langurberge und den Kamba-la. So ist denn auch Fra Cassiano endlich aus dem Reiche der Schatten wiedergekommen und hat in seiner Reisebeschreibung seinem Lebenswerke ein würdiges Denkmal errichtet.
Von della Pennas Hand gibt es eine ebenso kurze wie vorzügliche Beschreibung von Tschang-tang, der »Nordebene«, wie die Tibeter das Plateauland nennen. » Breve Notizia del regno del Tibet« ist sie betitelt. Er erzählt auch von dem acht Tagereisen von Lhasa und zwei von Nak-tschu liegenden »Herzogtum Dam«. Heutzutage gibt es kein solches Herzogtum, wohl aber noch ein Dorf Dam, und ein Paß gleichen Namens führt im Südosten des Tengri-nor über den Transhimalaja.
In seinem kurzen Aufsatze widmet della Penna dem berühmten holländischen Reisenden Samuel van de Putte, der zwischen 1723 und 1736 aus Indien über Lhasa nach Peking zog und auf demselben Wege nach Indien zurückkehrte, einige Worte der Erinnerung. Grüber und Dorville waren ungefähr dieselbe Straße gezogen, die später auch Huc und Gabet kennen lernen sollten. Van de Putte weilte lange in Lhasa und führte dann seine Reise im Gefolge einer Lamagesandtschaft an den »Sohn des Himmels« als Chinese verkleidet aus. Er starb 1745 in Batavia. In seinem Testament sprach er den Wunsch aus, daß alle seine Manuskripte verbrannt werden sollten, denn er fürchtete, daß seine kurzen, auf losen Blättern niedergeschriebenen Aufzeichnungen falsch gedeutet werden könnten; sie könnten falsche Vorstellungen von all dem Merkwürdigen, das er gesehen und erlebt, erwecken und würden dadurch einen Schatten auf seinen Namen werfen.