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Fünfzehntes Kapitel.
Eine gespannte Situation!

Wenn man das kalte Tibet auch noch so heiß liebt, so sehnt man sich nach zwei langen Jahren auf den vom Sturme gepeitschten Höhen dieses Landes doch nach dem ewigen Sommer Indiens zurück. Ich hatte bereits den Zeitraum überschritten, in welchem man einen ununterbrochenen Aufenthalt in der stark verdünnten Luft ohne Schaden ertragen kann, und ich freute mich in Toktschen bei dem Gedanken, daß sich nur noch ein einziger hoher Paß auf dem Wege erhebe, der mich allmählich in den Schatten der Zedern des Himalaja und der Palmen und Mangobäume Indiens führen werde.

So dachte ich in meiner Unschuld. Den Weg durch das Satledschtal kannte ich nur aus den in kleinem Maßstab ausgeführten Karten, die ich mitgenommen hatte, und aus den kurzgefaßten Beschreibungen, die Ryder und Rawling darüber veröffentlicht haben. Ihre Expedition war von Gartok aus aufgebrochen und hatte daher auch die Ladakkette auf einem unangenehmen Passe überschreiten müssen, ehe sie Schipki erreichte. Ich dagegen würde dem Laufe des Satledsch schon vom heiligen See und vom Langak-tso an folgen. Die Engländer hatten ihren Zug mitten im Winter ausgeführt und waren trotzdem nicht auf wirkliche Schwierigkeiten gestoßen. Ich hatte den Hochsommer vor mir und mußte daher noch leichter als sie mit dieser Aufgabe fertig werden können.

Ja, der Sommer ist in Tibet eine herrliche Jahreszeit. Aber in den höheren Regionen des Satledschlaufes ist der Winter ihm doch weit vorzuziehen. Die Regenzeit vernachlässigte in diesem Jahre ihre Pflichten nicht, und wir waren bereits mehr als einmal gründlich gewaschen worden. Die Flüsse konnten so anschwellen, daß sie über ihre Ufer traten, und beim Übergang über die Nebenflüsse konnten wir in recht schlimme Lage geraten. Daran dachte ich jetzt nicht. Aber der Tag sollte kommen, an welchem ich diejenigen beneidete, die die winterlichen Eisbrücken über den Satledsch benutzen konnten. Mir kam es jetzt nur darauf an, mich so früh als möglich auf den Weg machen zu können. Ich hatte das Gefühl, schon halb zu Hause zu sein. Und doch war der Weg nach Indien viel weiter, als ich glaubte, als ich in Toktschen mit dem Zirkel die Entfernungen auf meinen Karten maß.

Schon in Toktschen stellte sich mir ein bedenkliches Hindernis in den Weg. Ich hatte am nächsten Tage weiterzuziehen gedacht, und ich mußte hier – volle neun Tage warten, ehe ich aufbrechen konnte! Das lange Warten führte nicht zu dem geringsten Resultate. Doch, zu einem! Meine Tiere ruhten sich ordentlich zu den ihnen bevorstehenden Strapazen aus. Und ich selbst war zu einer sehr nötigen Ruhe gezwungen, die ich mir sonst nie gegönnt hätte. Ich war todmüde und völlig erschöpft nach den anstrengenden Märschen im Transhimalaja und nach dem vergangenen Winter mit seiner entsetzlichen Kälte. Ich lag die ganzen Tage wie ein Kranker herum und Hütte alle Energie verloren, ich war gegen alles gleichgültig und aller Dinge überdrüssig.

Bereits am ersten Abend begann das Durcheinander. Mein Freund vom vorigen Jahre, der Gova von Toktschen, trat freundlich lächelnd in mein Zelt, überreichte mir zur Bewillkommnung und als Zeichen seiner Achtung ein »Kadach«, einen dünnen weißen Zeugstreifen, und schenkte mir einen Klumpen gelben »Korum«-Zucker aus Purang, der in Blätter eingewickelt war. Er wurde gebeten, auf der gewöhnlichen Audienzfilzdecke Platz zu nehmen. Seine erste Frage lautete:

»Wie ist es möglich, daß Sie wieder in Tibet sind, Sahib? Sie haben ja das Land schon vor einem Jahre verlassen. Woher kommen Sie denn jetzt?«

»Ich bin über das Nordgebirge gekommen, um die Teile des innersten Tibet, die meiner Karawane im vorigen Jahr versperrt wurden, zu sehen. Ich habe Ihnen ja damals gesagt, daß ich wiederkehren werde, und nun bin ich hier.«

»Ich verstehe Sie nicht, Sahib. Im vorigen Jahre war ich aus Lhasa rechtzeitig über Ihr Herannahen unterrichtet worden. Diesmal habe ich nur erzählen hören, daß Sie in Saka-dsong aufgetaucht seien und daß man längs der ganzen Tasam bekannt gemacht habe, daß Sie ohne Erlaubnis im Lande weilten und nicht berechtigt seien anderswohin zu ziehen als nach Norden. Ich selbst aber habe keine Befehle erhalten und weiß wirklich nicht, was ich mit Ihnen machen soll.«

»Das kann ich Ihnen sagen. Sie sollen mir für morgen früh die erforderlichen neuen Yaks herbeischaffen und dafür sorgen, daß ich glücklich auf den Weg nach Tirtapuri komme. Sie wissen, daß die Behörden in Lhasa mich, wie gewöhnlich, loszuwerden wünschen. Verhelfen Sie mir dazu! Ich verspreche, daß ich von Tirtapuri aus dem Laufe des Satledsch nach Indien hinab folgen werde.«

»Tirtapuri, ja, das ist alles sehr schön! Aber ich habe noch keinen Befehl erhalten, weder aus Lhasa noch aus Gartok. Ich weiß nur zu gut, wie es voriges Jahr ging. Da baten Sie mich um Beförderungsmittel nach dem Tso-mavang. Ich habe Ihnen nach dem See hingeholfen, und dann sind Sie einen ganzen Monat dort geblieben. Nachher mußte ich die Schuld tragen.«

»Sie sind hoffentlich nicht bestraft worden?«

»Nein, aber ich erhielt eine Warnung, mich künftig nicht ungeheißen mit Europäern einzulassen. Und man machte mir den Vorwurf, daß ich Sie nicht verhindert hätte, mit Ihrem Boote auf dem heiligen See umherzufahren.«

»Das Boot hat dem heiligen See doch wohl keinen Schaden getan?«

»Die Götter können zürnen. Der See ist ihr Eigentum. Um die Ufer herum vollenden die Pilger ihre Wallfahrt. Der Tso-mavang ist zu gut, um mit Booten befahren zu werden.«

»In diesem Jahre können Sie unbesorgt sein. Das Boot ist nicht mitgekommen; Sie können sich selbst davon überzeugen. Ich werde auch nicht einen Tag am Tso-mavang verweilen, sondern geraden Weges nach Tirtapuri ziehen. Bisher hat mir noch niemand Yaks verweigert. Der Gouverneur von Saka-dsong hat die ersten gestellt. Die letzten sind aus Taktsche. Spätestens übermorgen muß ich neue haben.«

Nach langem Überlegen erwiderte der Gova:

»Ich werde mich mit meinen Leuten beraten und Ihnen dann meine Antwort geben.«

Damit ging er. Ich kannte ihn schon als Ehrenmann. Jetzt stand er zwischen zwei Feuern. Er wäre mir gern gefällig gewesen, aber er durfte seiner Pflicht nicht untreu werden. Die Erfahrung hatte ihn gewitzigt. Er selbst hatte den Grund gegen mich, daß ich schon einmal in Toktschen gewesen und ihm dadurch Verdrießlichkeiten bereitet hatte. Und es ist immer schwerer, sich das zweitemal herauszuwinden. Nun hatte Dortsche Tsuän auch längs der ganzen Tasam, der großen Heerstraße nach Ladak, bekannt machen lassen, daß ich nirgend anderswohin ziehen dürfe als nach Norden, woher ich gekommen sei. Ich saß augenscheinlich fest, und mein Schicksal war im Begriff, eine höchst eigentümliche Wendung zu nehmen.

Nach Verlauf einer Stunde zeigten sich meine drei Yaktreiber aus Taktsche in der Zelttür. Aufgeregt und durch Schluchzen unterbrochen, sagte der älteste:

»Herr, der Gova von Toktschen und fünf andere Männer haben uns je hundert Stockprügel angedroht, weil wir Sie ohne Erlaubnis hierher geführt haben.«

»Nicht möglich! Seid nur ruhig; wer euch mit Prügeln droht, der wird es mit mir zu tun haben.«

»Ja, Herr, es gibt nur eine Art und Weise, uns davor zu bewahren, nämlich wenn Ihr mit uns zurück über den Surnge-la nach Taktsche geht.«

Nein, hört ihr; jetzt bin ich endlich hierher gekommen und ich muß nun schleunigst nach Indien.«

»Ja, aber der Gova hat gesagt, daß er uns die Prügel erlassen werde, wenn wir Sie mit uns nach Hause nähmen.«

»Was habe ich in Taktsche zu suchen; ich kann doch nicht bis in alle Ewigkeit dort bleiben?«

»Sie sollen von dort nach Kjangjang und zum Pedang-tsangpo weiterziehen. Uns ist gesagt, daß Sie genau auf dem Wege, auf welchem Sie gekommen seien, wieder zurückkehren müßten.«

Und damit warfen sich die Yaktreiber mit ihren weinerlichen Gesichtern vor mir nieder und baten mich in den stehendsten Ausdrücken, mit ihnen heim zu ihren Zelten zu ziehen.

Nun erkannte ich, daß ich nur durch einen reinen Glücksfall durch das verbotene Land hatte kommen können. Wenn die Nomadenhäuptlinge am Pedang-tsangpo, in Selipuk, in Kjangjang und in Taktsche gewußt hätten, was der Gova von Toktschen wußte, so hätten sie mir weder einen Yak vermietet, noch eine Handvoll Tsamba verkauft, falls ich nicht hätte umkehren und ostwärts ziehen wollen. Wie oft habe ich dieselben Beobachtungen wie jetzt gemacht! Jede Behörde wollte nur sich selbst von jeglicher Verantwortlichkeit befreien und suchte mich daher zu überreden, wieder dahin zurückzugehen, woher ich gekommen war. Man möchte glauben, der Gova von Toktschen hätte damit zufrieden sein können, mich nach der indischen Seite hin verschwinden zu sehen. Er dachte, aber nur an seine eigene Sicherheit. Niemand sollte ihm vorwerfen können, daß er mir durch sein Gebiet hindurchgeholfen habe. Da ich nun einmal aus Norden hierher gelangt war, blieb kein anderer Ausweg, als mich nach Norden zurückzujagen. Die Situation war gespannt. Ich mußte den Lauf der Ereignisse abwarten.

Die Dunkelheit war eingebrochen, als uns noch ein Gast besuchte, diesmal ein willkommener – der Regen. Er fiel dicht und schwer und rauschte eintönig auf die ganze Gegend herab. Das Tal verwandelte sich in einen Sumpf, dessen Schlammbrei unter den Schritten quatschte. Zwei müde Pferde, die bei den Zelten Gerste erhalten hatten, standen halb schlafend, mit tropfender Mähne und triefendem Schwanze, unter ihren klatschnassen Decken. Man fragte sich unwillkürlich, ob sie nach dieser gründlichen Wäsche wohl je wieder ordentlich trocken werden könnten. Mein Zelt wurde durch Schutzhüllen verstärkt, und ringsherum wurde ein Kanal gegraben, sonst wäre ich in Gefahr gewesen, in meinem eigenen, auf dem Boden liegenden Bette zu ertrinken. Die ganze Nacht fiel der Regen Lindfadendick, aber als die Morgensonne von einem klarblauen Himmel herab ihr Gold auf das Tal des Samo-tsangpo aus streute, glänzten alle Berge der Umgegend blendendweiß von frischgefallenem Schnee, als ob der Winter sein Leichentuch über die Bahre des zu früh entschlafenen Sommers gebreitet habe.

In Begleitung seines Gefolges erschien der Gova wieder in meinem Zelte. Er sah niedergeschlagen aus, und es dauerte eine Weile, bevor er das Wort ergriff. Schließlich begann er:

»Ich habe mich mit den Meinen beraten. Wir sehen alle ein, daß ich mich mit Ihnen nicht einlassen kann und darf. Das vorigemal bin ich gewarnt worden. Hülfe ich Ihnen noch einmal, so würde mich die Strafe treffen. Es ist für alle Teile das beste, Sie kehren nach Taktsche zurück.«

»Sie können doch wohl begreifen,« erwiderte ich, »daß ich gar nicht daran denke, wieder nordwärts zu ziehen, wenn ich so schnell wie möglich nach Indien eilen muß. Aber ich will auch nicht, daß Sie sich Unannehmlichkeiten zuziehen. Wenn Sie also einen Eilboten nach Lhasa senden und dort um Verhaltungsmaßregeln bitten wollen, so bin ich bereit, hier zu warten, bis die Antwort anlangt.«

»So lange können Sie nicht warten, Sahib. Ich werde noch einmal mit meinen Leuten Rat halten.«

Damit trabte die Schar wieder fort, aber nur um durch eine neue Gestalt abgelöst zu werden, durch einen »Jango«, einen Oberaufseher über die Transporttiere und den Karawanenverkehr auf dem Teile der Tasam, der zwischen den Stationen Parka und Schamsang liegt. In dieser Eigenschaft ist er meistens auf Reisen und er weilte nur zufällig in Toktschen. Er kam vor lauter Demut beinahe kriechend ins Zelt hinein, und der Ballen roten Wollstoffes aus Lhasa, den er mich als Freundschaftsgabe anzunehmen bat, verriet, daß er irgendeine besondere Gunst zu erbitten hatte.

»Sie sagen, daß Sie nach Tirtapuri reisen wollen, Sahib; weshalb zogen Sie denn nicht über Jumba-matsen, als Sie in Selipuk waren? Wenn Sie versprechen, geraden Weges nach Parka zu gehen, so werde ich Ihnen im Notfälle Lasttiere stellen; aber an dem heiligen See entlang nach Tirtapuri dürfen Sie absolut nicht reisen. O, Sahib, um Lama Kuntschuks willen, um der Götter willen, kehren Sie doch nach Taktsche zurück! Die Männer und die Yaks von dort werden noch immer Ihretwegen hier zurückgehalten. Sie waren nicht berechtigt, Sie hierherzubringen, und Sie selbst haben keinen Paß aus Lhasa. Die Verhaltungsbefehle, die die Regierung erlassen hat, sind viel strenger als früher. O, Sahib, kehren Sie nach Norden zurück!«

Ich lächelte dazu, klopfte dem Jango auf die Schulter und antwortete langsam, jedes Wort betonend:

»Mein Weg geht längs des Tso-mavang nach Tirtapuri. Einen andern Weg gibt es für mich nicht.«

Da erhob er sich zornig; er erhielt seinen Zeugballen wieder und trollte sich zu den schwarzen Zelten.

Beinahe auf den Tag war ein Jahr verflossen, seit ich zum erstenmal mein Zelt in Toktschen aufgeschlagen hatte. Als ich damals darum gebeten hatte, die verbotenen Wege über das Gebirge im Norden erforschen zu dürfen, hatte man mir ein unerbittliches Nein zur Antwort gegeben. Jetzt bat und flehte man mich mit den beweglichsten Worten darum und versuchte es mit Bitten und Drohungen, mich dazu zu bringen. Yaks und Führer wurden bereitgehalten. Ich hätte die Bedingung stellen können: »Verschafft mir zehn gute Pferde und Lebensmittel auf zwei Monate; laßt mich den Weg über das Gebirge selber wählen, so verspreche ich euch, nach Taktsche zu gehen,« und man wäre sicherlich darauf eingegangen, nur um mich in der Richtung, aus der ich gekommen war, verschwinden zu sehen. Ein seltsames Schicksal, ein sonderbares Land! Wenn man sich in Tibet einzuschleichen versucht, findet man die Grenzen versperrt. Und wenn es dennoch geglückt ist und man will sich wieder hinausschleichen, dann sind die Grenzen ebenfalls mit Schloß und Riegel gesperrt. Niemals hatte sich mir eine so gute Gelegenheit geboten, und Geld besaß ich im Überfluß. Ich hätte noch zwei Transhimalajapässe erobern und ein Standlager an irgendeinem See aufschlagen können. Weshalb tat ich es denn nicht? Ja, es war dumm von mir. Aber ich hatte meine Angehörigen schon viel zu lange ohne Nachricht gelassen, und ich konnte mir sagen, daß ihre Besorgnis mit jedem dahingehenden Tage zunehmen werde. Und zuletzt, aber nicht zum wenigsten: ich war tibetmüde! Ich hatte jetzt übergenug davon; ein neuer Herbst und noch ein Winter zwischen den ewigen Bergen wären mir zuviel geworden.

Ein Tag nach dem andern verrann, ohne daß sich irgendetwas Bemerkenswertes ereignete. Eines Tages traf der »Jongpun«, der Chef der privilegierten Handelsmission von Tibet nach Ladak, in Toktschen ein. Er hatte rote tibetische Wollstoffe zum Verkauf mitgebracht; ich erstand einen tüchtigen Posten davon, denn alle meine zwölf Leute bedurften neuer Anzüge. Die Sache hatte auch das Gute, daß die Leute einige Tage hindurch vollauf Beschäftigung hatten. Abdul Kerims Zelt verwandelte sich in eine Schneiderwerkstatt, dort wurde den ganzen Tag hindurch zugeschnitten, genäht und anprobiert.

Eine zweite Unterbrechung der Einförmigkeit bereitete uns unser Freund Sonam Ngurbu. Er war durch die Nomaden in Parjang, die sich geweigert hatten, ihn mit Proviant zu versehen, und die er deswegen erst noch hatte bestrafen müssen, unterwegs aufgehalten worden. Leider hatten sie sich gegen den fremden Häuptling und seine unbilligen Ansprüche tapfer gewehrt, und daher war Sonam Ngurbu entsetzlich schlechter Laune, als er in Toktschen anlangte. Seine Liebe zu dem schwedischen Offiziersrevolver war noch nicht abgekühlt, und er versuchte es, mir zum Tausch gegen den Revolver einen alten morschen Holzsattel aufzuschwatzen. Da ihm dies nicht gelang, redete er davon, daß der Garpun bald über mich herfallen und mich nach Tschang-tang hinaufjagen werde.

Der Gova von Toktschen blieb liebenswürdig und schickte im Dunkel der Dämmerstunde heimliche Boten in mein Zelt, die mich baten, ruhig zu sein und zu warten. Zwei Machthaber seien mir feindlich gesinnt, aber sie würden bald fortziehen, und dann hätten wir freie Hände. Jawohl! Jene Machthaber scheinen überhaupt nicht abgereist zu sein! Im Gegenteil, es wurden durch Eilboten sogar noch neue herangeholt, der Gova von Pangri und der Gova von Hor, durch deren Distrikte ich zuletzt gezogen war. Ein kleiner politischer Kongreß schien stattzufinden, in welchem keiner die Verantwortung übernehmen wollte. Die ganzen Tage hindurch hielten die Tibeter Beratungen ab, und wir sahen sie von Zelt zu Zelt gehen oder in kleinen, eifrig diskutierenden Gruppen draußen im Sonnenschein sitzen. Wenn ich nur nach Taktsche zurückkehren wolle, würden sie gern alle daraus erwachsenden Kosten tragen! Aber ich wollte nicht.

Eines Tages kam auch mein Freund, der frühere Gova von Kjangjang, in Toktschen an; er wurde von seinem Kollegen aus Hor tüchtig ausgescholten, weil er mich unerlaubter Weise hatte nach Hor ziehen lassen. Nun würde wohl Kjangjang auf Pedang schelten, und so weiter die ganze Reihe hinauf, die Katze auf die Maus und die Maus auf den Strick, und der Knabe ging doch nicht in die Schule. Saka-dsong, wo man uns die ersten Yaks gegeben hatte, würde die letzte Nummer sein (Abb. 84). Man konnte einen schrecklichen Lärm in den Labyrinthen des Transhimalaja voraussehen, und es war ein wahres Glück, daß er nicht schon eher ausgebrochen war, denn dann wäre aus meinen letzten Entdeckungen nichts mehr geworden.

84. Der Gouverneur von Saka-dsong. (S. 155.)

Es folgten einige schöne Sommertage, und ich freute mich der Sonnenglut über dem dünnen Zelte. Der Samo-tsangpo, der kürzlich noch stark angeschwollen gewesen war, schrumpfte wieder zusammen. Am 22. Juli zog der Herbst wieder heran, und der Regen bespülte das Tal. Der Bach wuchs zu einem grauschmutzigen, dumpf rauschenden Gewässer an mit 4,9 Kubikmeter in der Sekunde.

Am 23. Juli hoffte ich, daß die Tage der Gefangenschaft ihr Ende erreicht hätten. Von ihren Dienern begleitet, besuchten mich die Häuptlinge; soweit es der Raum gestattete, wurden sie alle in Abdul Kerims großem Zelte untergebracht (Abb. 86). Der Gova von Pangri ergriff das Wort und sprach im Namen der anderen. Er zählte alle Gründe auf, welche die Notwendigkeit eines Rückzugs nach Norden dartaten. Da er keine Miene machte, aufzuhören, unterbrach ich ihn und erinnerte die Versammlung daran, daß der Gova von Pangri in Toktschen gar nichts zu sagen habe. Ein anderer Redner setzte ein, der mir erklärte, daß man alle Häuptlinge einen Kopf kürzer machen werde, wenn ich nicht nach Taktsche zurückkehrte. Um mich zu bestechen, legte jeder ein Paket Wollstoff vor mich hin.

86. Junger Tibeter. (S. 156.)
Skizze des Verfassers.

Ich sah ein, daß ich mit ihnen nicht von der Stelle kommen würde, und um der Beratung ein Ende zu machen, fragte ich:

»Ihr gebt mir also keine Yaks nach Tirtapuri?«

»Nein!« antworteten alle wie aus einem Munde.

Ich stand schnell auf und ging zu meinem Zelte hinüber, während die Tibeter einander schweigend und unschlüssig anblickten.

Da kam der Gova von Pangri zu mir und bat, noch ein Wort mit mir sprechen zu dürfen.

»Sahib,« begann er, »weil ich ja doch enthauptet werde, da ich Sie durch mein Gebiet hindurchgelassen habe, so kann ich Ihnen ja ebenso gern noch Yaks zur Reise nach Parka geben.«

»Gut. Parka ist Tirtapuri immerhin eine Strecke näher. Haltet die Yaks morgen bereit!«

»Aber ich habe ja selber keine Yaks. Sie müssen Sie aus Toktschen mieten.«

Der Gova von Toktschen wurde befragt, aber er hatte keine Lust, auf den Vorschlag einzugehen. So mußten wir auch diesen Plan fallen lassen.

Ich berichte über, alle diese Beratungen, um zu zeigen, wie es einem in Tibet gehen kann. Sie sind in höchstem Grade charakteristisch, und die meisten Reisenden haben dort etwas derartiges erlebt. Die Behörden sind unerbittlich, aber stets höflich und freundlich.

Es war klar, daß ich mir selbst helfen mußte. Die Karawane bestand aus zehn Pferden und Mauleseln. Neun davon sollten beladen werden, und ich würde auf dem Schimmel reiten, den ich im fernen Osten von dem Räuberhauptmann Kamba Tsenam gekauft hatte (Abb. 87). Wir konnten nicht verlangen, daß die redlichen Tibeter sich unseretwegen Unannehmlichkeiten aussetzten.

87. Räuberhauptmann Kamba Tsenam. (S. 157.)
Skizze des Verfassers.

»Morgen früh brechen wir auf,« lautete der Befehl, den ich meinen Leuten erteilte.

So dunkelte denn unser letzter Abend in Toktschen; der Regen goß vom Himmel herab, und der Donner rollte so stark in dem Gebirge, daß die Erde zitterte, und schneller als vorher schwoll der trübe Fluß an.

Am frühen Morgen des 24. Juli wurden die Zelte abgebrochen, und das Beladen hatte schon begonnen, als ein Bote mir meldete, daß ich Yaks erhalten würde, wenn ich noch eine Weile wartete. Ich war natürlich so gutmütig zu warten, bis der Gova von Toktschen mit einem neuen Vorschlag kam.

»Wir haben beschlossen, daß alle Häuptlinge, die jetzt in Toktschen versammelt sind, Sie nach Parka begleiten sollen, um dort den Zusammenhang der Sache zu erklären und alles ins rechte Geleise zu bringen. Wir brauchen indessen noch einen Tag, um fertig zu werden. Morgen haben Sie die Yaks.

»Ich habe lange genug gewartet. Jetzt glaube ich euch nicht mehr.«

»Ich werde Ihnen eine schriftliche Bescheinigung darüber geben, daß morgen alles bereit sein soll.«

»Nun gut, dann werde ich so lange warten, bis das Schreiben ausgefertigt ist.«

Lobsang mußte mit in das Zelt des Gova gehen, kehrte aber bald wieder mit dem Bescheide zurück, daß dem Häuptling die Sache leid geworden sei.

Damit war das Signal zum Aufbruch gegeben. Schnell wurden die Pferde und Maultiere beladen, und angesichts aller Tibeter Toktschens zogen wir talabwärts (Abb. 88). Die Tiere hatten sich ausgeruht und waren in ziemlich gutem Zustand. Ihre Lasten waren schwerer als gewöhnlich, da die Yaks ihnen ja nicht länger tragen halfen. Über Wiesen und Geröllabhänge schritt der Zug am linken. Ufer des Samo-tsangpo vorwärts. Wir marschierten an der Flußbiegung vorüber, wo im vorigen Jahre das Lager 211 aufgeschlagen worden war. Jetzt erweitert sich das Tal, und wir sehen den großen heiligen See wieder. Dort zeigt sich auch der Gipfel des Kailas, des heiligen Kang-rinpotsche (Abb. 85). Lobsang und Kutus warfen sich der Länge nach auf die Erde und berührten den Boden mit der Stirn, um die Götter des Berges zu begrüßen.

88. Bewohner von Toktschen. (S. 157.)

85. Der Gipfel des Kang-rinpotsche. (S. 157.)
Skizzen des Verfassers.

Unmittelbar unterhalb der Talmündung wurde auf dem rechten Ufer das Lager 452 aufgeschlagen. Der Tag war hell und heiter, der Sonnenschein glitzerte in dem blauen Spiegel des Manasarovar, und, ihrer eigenen Schönheit unbewußt, breitete sich rings um mich eine der erhabensten, berühmtesten Landschaften der Erde aus. Ich hatte das Gefühl, in Freiheit und auf dem Heimwege zu sein. Doch warum zeichnete sich in der Talmündung nicht die dunkle Reiterschar ab? Weshalb kamen sie nicht hinter mir drein, alle jene Häuptlinge aus Toktschen, Pangri, Hor und Purang, die mir vor kurzem erklärt hatten, daß ich unter keiner Bedingung am Ufer des heiligen Sees entlang ziehen dürfe? Wir waren unser nur dreizehn Mann und schlecht bewaffnet. Die Tibeter verachten die Männer aus Ladak. Ich war der einzige Europäer, aber in tibetische Tracht gekleidet. Sie hätten uns zu allem Möglichen zwingen können. Im Dunkel der Nacht hätten sie uns unsere Tiere forttreiben und uns dadurch Fesseln anlegen können. Und wenn nichts anderes nützte, hätten die Nomaden der Gegend aufgeboten und mit Säbeln und Flinten bewaffnet werden können. Aber keine Hand rührte sich, als ich gerade vor ihren Augen die Bande der Gefangenschaft abstreifte. War es mein Glücksstern oder ein Widerschein, der mich von den Heiligtümern des Taschi-Lama her begleitete? Vielleicht betrachteten die Tibeter mich ganz einfach als enfant terrible, das zu bewachen doch vergeblich war. Immer wieder war ich ausgewiesen worden, und dennoch hatte ich das Land nach allen Richtungen hin durchquert und war in Gegenden aufgetaucht, wo man mich am allerwenigsten erwartete. Es war mit mir wie mit dem Winde, keiner wuße, woher ich kam und wohin ich ging.

Wie dem auch sei, jedenfalls zeigten sich in der Mündung des Tales des Samo-tsangpo keine Reiter. Wir waren uns selbst überlassen und schliefen ruhig an dem heiligen Ufer.


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