Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Durch die Labyrinthe der Nebenflüsse.

In dem Lager am Fuße der Klosterterrasse von Totling betrug die absolute Höhe bloß 3700 Meter. Jetzt ging es ernstlich bergab! Ein herrliches Gefühl, nach jahrelangem Verweilen in riesigen Höhen wieder in die dichteren Luftschichten hinabzusteigen! Zwei Jahre in der stark verdünnten Luft 4900 bis 5900 Meter über dem Meere sind ungefähr das, was ein Europäer eben noch aushalten kann. Sein Herz und seine Lungen sind nicht für den starken Sauerstoffmangel gebaut, der droben an der Grenze des unendlichen Weltenraumes herrscht. Wenn der Dalai-Lama nach Kalkutta reist, quält ihn vielleicht die Hitze, aber den vermehrten Sauerstoffvorrat in der Luft muß er als Annehmlichkeit empfinden. Dem Europäer geht es anders. Wenn er die halbe Atmosphäre unter sich zurückläßt, so werden die Muskulatur und die Klappen seines Herzens übermäßig angestrengt; ihn verfolgt Tag und Nacht das Müdigkeitsgefühl eines von einer schweren Krankheit Genesenen, das durch die zehn Stunden der Ruhe während der Nacht nicht verjagt wird.

An mir selbst konnte ich folgende Anzeichen beobachten: die Körpertemperatur fiel einen Grad unter die normale, das Atmen und der Puls gingen schneller als gewöhnlich, und auch die geringste Bewegung erzeugte Atemnot; ich wurde schließlich gleichgültig gegen alles, den Weg nach Indien ausgenommen; die beiden täglichen Mahlzeiten betrachtete ich als Strafe für meine Sünden; nur heißer Tee und eiskaltes Wasser schmeckten mir immer gut, und der Tabak war mir ein unentbehrlicher Gesellschafter während der endlos langen Stunden der Einsamkeit. Um mich herum dehnte sich beständig ein unüberwindliches Meer ohne Grenzen aus, und seine versteinerten Wellen, die sich einen Monat nach dem andern vor mir auftürmten, schienen nie ein Ende nehmen zu wollen. Ich hatte die Reise lange genug in ruhigerem Fahrwasser gemacht; jetzt näherte ich mich dem Strande des Gebirgsmeeres, wo die Brandung stürmisch wild tost, und wurde mit jedem Tage deutlicher erkennbar, daß die Besiegung des Himalaja kein Kinderspiel ist.

Nun ging es bergab, nach dem gesegneten Indien hinunter. Nach den grauen, unfruchtbaren Räumen Hochtibets glänzten die Gerstenfelder an den Nebenflüssen des Satledsch entzückend grün, und nachher hörten wir auch laue Sommerwinde durch dichtbelaubte Pappelkronen sausen. Sogar der Regen plätscherte sommerwarm und schön herab; man konnte nachts eine der Filzdecken weglegen, da die Temperatur nicht unter 8,9 Grad Wärme sank. Es war, als ob man dem Frühling entgegenziehe. Die Lebenslust kehrte zurück, die Ruhestunden wirkten besser, und der Appetit stellte sich wieder ein. Daher war es so unbeschreiblich schön, von den großen Höhen herabzusteigen.

Sogar der Tschangtsö, der sich anfänglich so hochnäsig benommen hatte, wurde schließlich richtig gemütlich; er verschaffte die Lebensmittel, deren wir bedurften, und erhielt im Tausche gegen einen Sattel den einen Revolver. Im übrigen hatte ich seine gnädige Hilfe nicht nötig, denn Thakur Jaj Chand hatte mir mit Mohanlal einen jungen Tibeter namens Ngurup Dortsche geschickt, der als Führer dienen sollte. Er kannte die Straßen nach Poo, und ich konnte ihn, wenn ich wollte, bis nach Simla mitnehmen.

Ngurup Dorische ging auch an der Spitze, als wir am 15. August Totling verließen. Über die unbedeutende Höhe sollte ich mich nicht lange freuen. Von Mangnang aus waren wir steil nach dem Kloster hinabgestiegen, das auf dem Grunde des Grabens des Satledschtales liegt; jetzt sollten wir wieder in höhere Regionen hinauf, wo die Straße in einem gewaltigen Bogen im Norden des Flusses das Land Tschumurti durchquert.

Auf der Terrasse des linken Ufers schreitet meine kleine Schar vor der Front der Klosterstadt hin, wo sich Tempelhäuser und Tschortenpyramiden zwischen den Ruinen erheben und wo hin und wieder ein Lama uns aus einer finsteren Fensterscharte eines Abschiedsblickes würdigt. Der Pfad führt in nordöstlicher Richtung flußaufwärts; nach einer Weile biegt er nach Norden ab und geht schnurgerade zu der über den Satledsch führenden Brücke hinunter. Zwischen senkrechten Sandsteinfelsen, die 18º N 85º O streichen, drängt sich der mächtige Fluß zu vielleicht 25 Meter Breite zusammen; seine Tiefe muß daher bedeutend sein. Trübe, grau und tosend braust die gewaltige Wassermasse durch ihren engen Korridor und bietet, wenn man flußaufwärts schaut, ein fesselndes, großartiges Bild unwiderstehlicher Kraft. Gleich unterhalb der Brücke verbreitert sich der Fluß wieder, er wird ruhig und tost weniger, die Berge treten zurück und gewähren flachen Uferstreifen Raum, wo die Erosionsterrassen jedoch immer scharf abgezeichnet sind, wenn sie nicht gerade durch kleinere Nebenflüsse unterbrochen werden. Aber die Talerweiterung ist nicht lang; schon bei Tsaparang bohrt sich der Flußlauf wieder durch einen engen Korridor.

Die Brücke von Totling ist ein gediegenes Bauwerk, und ihren Planken kann man seine Pferde ohne die geringsten Befürchtungen anvertrauen (Abb. 122–124). Die Brückenköpfe sind vielleicht 12 Meter über der Wasserfläche in Form kurzer Steintunnel auf Absätzen der Felsen erbaut. Zwischen den oberen Flächen der Tunnelmauern sind von Ufer zu Ufer zwei mächtige Eisenketten ausgespannt; in ihnen hängt die Holzbahn der Brücke. Das Ganze ist so fest zusammengefügt, daß die Brücke nicht einmal unter dem Gewicht der Pferde merklich zittert. Die Ketten dienen auch als Geländer, und mein Schimmel hatte keine Gelegenheit, mit einem neuen Todessprung sein Glück zu versuchen.

122. Brücke von Totling. (S. 305.)

123. Brücke von Totling. (S. 305.)

124. Übergang über die Brücke von Totling. (S. 305.)

Am rechten Ufer wird unsere Richtung wieder westlich, und der Weg geht über Rinnen zwischen Hügeln aus Lößlehm und Kies weiter. Am größten ist das Tal, durch welches die Straße von Gartok und vom Aji-la nach Totling herabkommt. In seinem steinigen Bett strömten jetzt gegen 5 Kubikmeter trüben Wassers dahin, die den Fußgängern die gewöhnliche Verzögerung ihres Marsches bereiteten. Der Pfad zieht sich, Totling gerade gegenüber, unmittelbar am Satledschufer entlang, und ich habe eine vorzügliche Aussicht auf die verödete Klosterstadt. Sie entschwindet meinem Auge auf immer, als wir durch ein Nebental aufwärtsziehen, dessen Bach seine Fluten zwischen frischen Wiesen rollen läßt. Auf den Seiten erheben sich steile Wände aus Ton, Sand und Geröll – die Cañonnatur hat noch nicht aufgehört. So bleibt die Landschaft, bis wir in eine Gegend gelangen, wo Ngurup Dortsche vorschlägt, das Lager zu errichten. Die Höhe beträgt 3746 Meter. Aus Nordosten kommt ein Tal namens Natang, in welchem Gerste gebaut wird (Abb. 125).

125. Schlucht bei Natang. (S. 305.)

Kaum waren die Zelte aufgeschlagen, so streckte auch schon der Südwestmonsun einen blauschwarzen Flügel über die Gegend aus, der Tag verfinsterte sich zu Dämmerung und Indras Herolde stießen dröhnend ins Horn. Das Echo antwortete im Gebirge und in den Tälern, die Blitze zuckten wie Säbelklingen, die sich in einer Schlacht kreuzen, die Wolken zerrissen dabei, und der Regen rauschte frisch auf das Natangtal herab. Später am Nachmittag hörte man droben vom Tale her ein dumpfes Grollen. Nahte vielleicht eine heftige Sturmbö oder ein Wolkenbruch? Nein, es war das Regenwasser, das sich von allen Seiten her zu einer Sturzflut angesammelt hatte und dessen schwere Masse sich jetzt nach, dem Satledsch hinunterwälzte. Das Getöse wurde langsam, aber stetig lauter und wurde schließlich betäubend. Alle Mann auf die Beine! Schnell wird das Gelände untersucht. Die Zelte stehen mitten im Tale, – soll etwa das ganze Lager fortgeschwemmt werden? Wenn sich der ganze Talgrund mit diesem wütend heranrauschenden Wasser füllt, dann sitzen wir wie in einer Mausefalle unter einer Wasserleitung, denn die Abhänge sind zu steil, als daß wir uns durch die Flucht retten könnten.

Es ist zu spät, einzupacken und nach einem sicherern Platze umzuziehen. Seht dort an der letzten Ecke oberhalb des Lagers! Eine dunkle graubraune Mauer rollt gegen die Zelte heran. Ja, sie rollt buchstäblich über den Talboden, schäumend und brausend, und nimmt allen losen Tonstaub, Sand und Kies, sowie alle dürren Grashalme mit. Sich verständlich machen zu wollen, wäre ganz vergeblich. Jetzt dröhnt die Luft, und der Boden zittert. Ich habe an dem kritischsten Punkte Posto gefaßt, fest entschlossen, alles in meiner Macht liegende zu tun, um meine Aufzeichnungen und meine Karten zu retten.

Wunderhübsch und prächtig ist ein solches Schauspiel, und man vergißt darüber beinahe die drohende Gefahr. Keine Sekunde kann man den Blick von dieser Wulst heranrollenden Wassers abwenden. Die Aufregung nimmt zu. Die Sturzflut schreitet jedoch nicht so schnell vorwärts, wie man denken sollte. Sie füllt einen Meter des Bettes nach dem andern an und nähert sich mit erdrückender Übermacht der Stelle, wo ich stehe. Jetzt ist sie dort angelangt. Wird sie mich und die Zelte packen und uns auf ihrem Siegeszuge mitnehmen? Muß ich schnell fortlaufen, um einen sicherern Platz einzunehmen? Das Wasser steigt und wird mich bald erreichen. Nein, diesmal tut es uns noch nichts. Die Zelte stehen auf einer kleinen Bodenerhebung, die keine Spuren früherer Überschwemmungen trägt. Wir befinden uns auf einer Insel, wohin das Wasser nicht gelangt. Aber es hing an einem Haar, und hätte uns diese Regenwasserflut auf dem Marsche in irgendeiner der engen Passagen weiter abwärts erreicht, so hätte unsere Lage verzweifelt werden können.

Volle zwei Stunden fuhr diese wohl 30 Kubikmeter Wasser in der Sekunde führende Flut fort, durch das Tal zu strömen. Gegen Abend nahm die Wassermenge ab, und am folgenden Morgen war nur noch ein kleiner Bach da. Das Wasser war in solchem Grade mit Ton vermischt, daß, wenn man die Hand hineinsteckte und sie dann in der Luft trocknen ließ, man einen Handschuh von feinstem Tonschlamm hatte. Ungeheuere Massen festen Materials werden auf diese Weise in den Satledsch hinuntergeschlämmt und finden erst dann Ruhe, wenn der Fluß in einer Talerweiterung Schlamm- und Sandbänke in seinem Bette bilden kann. Wie viel lebhafter und kräftiger ist aber diese fortschwemmende Tätigkeit während der Pluvialzeit gewesen! Man kann es verstehen, daß eine Jahrtausende hindurch vorsichgehende Erosion zu keinem andern Resultat führen kann als dem, welches man hier vor seinen Augen sieht, zu einem Labyrinthe tiefeingeschnittener Cañontäler.

Der Satledsch ist die Hauptpulsader alles Regenwassers, das aus Hundes abfließt. Der Fluß ist die Zusammensetzung der gesamten Wassermenge unzähliger Nebenflüsse. Die Tributäre schwellen und schrumpfen je nach dem ungleichmäßigen Fallen des Regens in ihrem Gebiete. Einen Tag kann das Natangtal einen kleinen Bach, am nächsten aber einen gewaltigen Fluß enthalten. Doch in der Hauptrinne des Satledsch gleicht sich das Verhältnis aus. Bei Bilaspur, wo der Fluß den Himalaja verläßt und in die Ebenen des Pandschab hinaustritt, wird man, wenn die Regenzeit naht und Tage mit Niederschlägen immer zahlreicher werden, ganz sicherlich finden, daß die Wassermenge des Satledsch regelmäßig zu einem Maximum anschwillt, um nachher ebenso regelmäßig wieder abzunehmen, wenn der Regen im Herbst wieder seltener wird.

In der Nacht auf den 16. August fiel der Regen andauernd dicht, und ich beeilte mich, das Natangtal hinter mir zu lassen, ehe sich die nächste Sturmflut herabwälzte. Das kleine Nebental, in welchem wir nordwärts ziehen, ist in gelben Lößlehm eingeschnitten, den die Nässe glatt wie Schmierseife gemacht hat. Die Tiere gehen unsicher und gleiten vorwärts oder patschen wie in der ärgsten Schlammsuppe. Auf dem Grunde des Abflußbettes des Tales stand gewöhnlich ein Brei, der frischangerührtem Mörtel glich; als wir ihn durchwaten mußten, liefen die Tiere Gefahr, zu ertrinken. Der Cañontypus herrscht hier noch immer. Wir wandern zwischen senkrechten oder sehr steilen Wänden aus gelbem äolischem Staub; gewaltige freistehende Blöcke, Türme und Säulen erinnern wieder, wie schon so oft, an die Straßen und Gassen einer im Zauberschlafe liegenden Stadt. Von den Seiten her münden unzählige Schluchten und Rinnen in jeder möglichen Größe. Einige dieser unangenehmen Rinnen sind metertief und fußbreit. Wäre der Lehm nur trocken, so würde er das Gewicht der Tiere leicht tragen; aber der Regen hat ihn aufgeweicht, er gibt nach, und ein Pferd oder Maulesel nach dem andern purzelt in den tückischen Fallgruben auf die Nase. Wenn der Leiter des Zuges seinen Purzelbaum geschlagen hat, dann versuchen die ihm folgenden Tiere es an einer andern Stelle.

Unfruchtbar, öde und still wie eine Wüste ist dieser Talgang. Die Neigung ist gering. Doch als wir die höheren Regionen erreichen, verändert sich das Aussehen der Landschaft. Ein Strauch, eine genügsame Pflanze und ein wenig Gras haben hier und dort am Fuße einer steilen Wand eine Freistatt gefunden. Die losen Ablagerungen, die einst das ganze Satledschbecken ausgefüllt haben, nehmen allmählich an Dicke zu, und an Vorsprüngen und Ecken tritt öfter anstehendes Gestein, phyllitischer Schiefer, zutage. An einer letzten Biegung zeigen sich im Hintergrunde Hügel und gewölbte Anhöhen, die wie Holme oder Halbinseln aus der Wüste der Tonfüllung auftauchen. Bevor wir diesen Boden, den die äolischen Ablagerungen nicht berührt haben, erreichen, machen wir an dem Auge einer kleinen Quelle halt, wo aber das Gras nicht ausreicht, um meine zehn Tiere zu sättigen.

Noch eine Tagereise, und die Fassaden der schlafenden Stadt werden immer niedriger. Gelegentlich ist ein unterminierter Tonblock heruntergestürzt, und seine Trümmer bedecken den Talgrund mit kubischen, scharfkantigen Stücken. Nun aber sind wir bei dem Steinmal angelangt, das auf der Grenze zwischen der äolischen Beckenfüllung und den mit Geröll bedeckten und spärlich mit hohem Gras bewachsenen Höhen von Kalingtang errichtet ist. Durch kleinere Steinmale und Manisteine bezeichnet schlängelt sich der Pfad nach dem Gipfel einer dominierenden Bodenerhebung hinauf, dessen Steinpyramide nach allen Seiten hin sichtbar ist. Hier ist es der Mühe wert, sich eine Weile umzusehen und den Blick langsam um den Rand des Horizonts gleiten zu lassen. Eben noch waren wir in dem engen Tale eingeschlossen und sahen nur die allernächsten Tonwände und Talkrümmungen. Jetzt atmen wir frei, jetzt können wir uns orientieren und einen Überblick über dieses seltsame Land erhalten, wo die Atmosphärilien und die Kräfte, welche die Erdoberfläche umgestalten, launenhafter vorgegangen sind und deutlichere Spuren hinterlassen haben als in irgendeinem andern Teile Tibets.

Nach Nordwesten hin behält das Land denselben Charakter wie bisher: ein unentwirrbares Durcheinander von Talgängen, Schluchten und Rinnen, tief in den äolischen Ton eingeschnitten, ein Gewirr von Verzweigungen und Abflußbetten jeden Grades und jeder Größe bis zu den unbedeutendsten und feinsten kleinen Furchen fließenden Wassers. Über der gelben Erde thront im Nordosten ein Schneekamm, der zur Ladakkette gehört; im Westen schließen den Horizont abgestumpfte Kuppen mit kleinen glänzenden Schneehauben ab, die unweit Schipki liegen.

Die weithin sichtbare Steinpyramide erhebt sich auf der Anschwellung zwischen drei Talsystemen. Als wir ihre vom Winde gepeitschten und der Vergänglichkeit durch Verwitterung preisgegebenen Steine verlassen, folgen wir zunächst einer der kleinsten Rinnen, dann immer größeren Schluchten und Talgängen, die sich in der losen Erdrinde immer tiefer einschneiden, bis der letzte Korridor in das große Schangdsetal übergeht, das sich südwestwärts nach dem Satledsch hinabzieht (Abb. 126). Am linken Ufer seines Baches dehnen sich saftige Gerstenfelder und sumpfige Wiesen aus, in deren Mitte etwa fünfzig würfelförmige, graugetünchte und mit Wimpeln geschmückte Häuser liegen, die zusammen das Dorf Schangdse bilden. Ein einsamstehendes, vornehmeres Haus mit einem Tschorten davor ist die Wohnung der Ortsbehörde. Auf einem Hügel an der rechten Talseite ist das Schangdse-gumpa erbaut; es besteht aus zwei roten Häusern und einem weißen Gebäude und liegt inmitten der gewöhnlichen Erinnerungspyramiden. Sieben Lamas der Gelukpasekte sollen in diesem Kloster ihren Wohnsitz und ihre Tätigkeit haben.

126. Schangdse-Tal. (S. 309.)

Der Schangdsebach führte 8 Kubikmeter Wasser, war aber am folgenden Morgen nach einer regenlosen Nacht auf 5 herabgesunken. Der Tag war strahlend heiter gewesen, und bei 21 Grad um 1 Uhr mittags war es erstickend heiß, und zwar umsomehr, als die Luft windstill war. Die Höhe betrug 4194 Meter.

Sobald das Lager 474 aufgeschlagen war, sahen wir Lamas, Dorfbewohner und Weiber vor den Zelten erscheinen, wo sie ungeniert Platz nahmen und mit uns zu plaudern begannen. Von dem Mißtrauen, mit welchem man mir in Totling begegnet war, zeigte sich hier keine Spur. Wie sollten sie auch einer Karawane mißtrauen, die aus Totling kam und einen Tibeter als Wegweiser hatte! Nun da wir uns in Totling durchgewunden hatten, würden wir sicherlich überall ungehindert freien Durchzug erhalten.

Der neue Tagemarsch glich dem vorigen. Nordwestwärts ging unser Zug, bergauf in einem langsam ansteigenden schmalen Tale, das auf eine neue hügelige Bodenerhebung hinaufführt, von deren Steinmal aus wir eine mir nun wohlbekannte Aussicht haben; dann ziehen wir nach dem nächsten Tale hinunter, nach Tschoktse, welches dem Tale von Schangdse gleicht. Die Bewohner des Tschoktsetales hausen wie Wanzen in den Lößwänden der rechten Talseite, wo sie eine kleine Anzahl mehr als einfacher Hütten haben. Jetzt waren sie alle draußen auf den Gerstenfeldern, um die Bewässerung, die mit Hilfe zweier Quellbäche geschieht, zu überwachen. Die Felder erinnern in ihrer Anlage an stufenförmige Terrassen, und das Wasser rinnt durch unbedeckte Röhren in bestimmter Ordnung von den höheren auf die tieferliegenden hinab. Dem Fleiße und der liebevollen Fürsorge, welche die guten Männer und ihre Weiber dabei zeigten, sah man es an, daß sie große Erwartungen auf die diesjährige Ernte setzten.

Auf den Wiesen in der Nähe des Dorfes Tschoktse grasten Ochsen und Kühe, die ersten, die ich seit langem erblickte, eine neue Erinnerung an wärmere Regionen. Wohl hatten wir im Laufe des Tages zwei Wildesel gesehen, und auf den Abhängen saßen muntere Murmeltierchen schrill pfeifend vor ihren Löchern. Aber was wollte das besagen? Wir waren trotzdem im Begriff, das hohe, kalte und karge Tibet zu verlassen, wir waren – o himmlischer Gedanke – auf dem Wege nach Indien, dem Lande der Sagen und der Dschungeln! Gerstenfelder hatten wir ja schon seit mehreren Tagen erblickt; nun aber hatten wir die ersten wirklich ackerbautreibenden Dörfer erreicht, eine ansässige Bevölkerung war an die Stelle der umherirrenden Nomaden, Rindvieh an die Stelle der Yaks getreten, und die Schafzucht, die droben auf den Höhen alles gewesen war, galt den Bauern, deren Dörfer wir jetzt besuchten, nur als Nebensache.

In Tschoktse haben wir nichts zu suchen. Wir reiten am Dorfe vorüber, neue Täler hinauf, über neue Höhen hinweg und erblicken vor uns das Kloster Rabgjäling-gumpa auf seinem Hügel (Abb. 127–129). Es ist wehmütig und rührend, alle diese Gotteshäuser in einem so öden Lande zu gewahren. Die Klosterzellen beanspruchen einen viel zu großen Prozentsatz der männlichen Bevölkerung; die Männer könnten hier ihre Zeit und ihre Kräfte wirklich besser anwenden als zum Lampenputzen und Liegen vor den goldenen Götzenbildern. Aber dennoch sage ich: es lebe das Mönchswesen! Aus seinem Dämmerlichte sind mir nur helle Erinnerungen geblieben!

127. Tal beim Kloster Rabgjäling. (S. 310.)
Skizze des Verfassers.


128 u. 129. Kloster Rabgjäling. (S. 310.) Skizzen des Verfassers.

Saftige Wiesen am linken Ufer des Rabgjälingflusses luden zum Lagerschlagen ein. Ich hatte eben Halt kommandiert, als Ngurub Dortsche ausrief: »Nein, hier lagert nicht, Herr!«

»Weshalb nicht? Das Gras ist gut, das Wasser klar und das Wetter beständig.«

»Wohl wahr, aber kommt über Nacht ein Regen, so sind wir abgeschnitten, denn dieser Fluß ist berüchtigt und wegen seiner Tiefe sehr schwierig zu durchwaten.«

»Schön, dann bleiben wir am rechten Ufer.«

Wir wateten durch das reine, frische Wasser und ließen die Tiere dann nach den Wiesen des linken Ufers zurückkehren. Trat Regen ein, so konnten wir sie rechtzeitig herüberholen.

Malerisch, farbenprächtig und geheimnisvoll wie ein Märchenschloß erhebt Rabgjäling-gumpa seine mit Wimpeln geschmückten Zinnen über dem Tale. Auf der höchsten Stelle des Gipfels des Klosterhügels trotzt ein rotangestrichener Lhakang den zerstörenden Kräften des Himmels, des Wassers und der Erde, dem Kapitäle einer Säule oder dem über einem Abgrund schwebenden Horste des Königsadlers vergleichbar. Der unsichere Gerölluntergrund sah aus, als ob er schon der Wucht des nächsten Regens nachgeben könne. Es war, als ob man Gott Trotz biete, wenn man auch nur eine einzige Nacht in jenem Gebäude schliefe. Am Fuße des Hügels liegt ein zweiter Göttersaal inmitten der Hütten und Gehöfte des Dorfes und eines ganzen Knäuels von Tschorten. Die Wohnhäuser der Mönche bilden einen kleinen Dorfkomplex für sich, den eine besondere Mauer umschließt.

Von zwei Mönchen geführt, stattete ich dem unteren Göttersaale einen kurzen Besuch ab und sah dort künstlerisch ausgeführte Wandgemälde, denen aber die Feuchtigkeit und das von der Decke herabsickernde Wasser übel mitgespielt hatten. Im übrigen war das Innere dasselbe wie gewöhnlich. Die beiden Diwane fehlten ebensowenig wie die acht Säulen mit ihren Tempelfahnen und Bändern. Ganze Haufen loser Blätter mit vergilbtem Rande ersetzten die »eingebundenen« Schätze der Bücherbretter. In der Mitte der Wand im Hintergrund saß Buddha, zwei Meter hoch und mit einem gelben Mantel bekleidet. Vor ihm auf dem Altartische waren die dii minores in zwei Reihen aufgestellt; vor ihnen brannten die Lampen in ihren Messingschalen. Das Ganze verschmolz zu einem harmonischen, gedämpften und zur Genüge schmutzigen Farbentone.

Ein »Kore« genannter offener Gang mit Geländer und freier Aussicht nach allen Seiten umschließt den Tempel und das Laiendorf an der Außenseite. Der »Kore« führt an einigen Tschortenpyramiden vorüber. In ihren Seiten sind ganze Reihen Gebetzylinder in Nischen angebracht. Wenn der Pilger oder der Mönch, der seine »Kore«-Wanderung macht, dorthin gelangt, so versäumt er niemals, mit der Hand alle diese Maschinen in Drehung um ihre senkrechten eisernen Achsen zu versetzen, und ihr Schnurren und Knirschen begleitet dann seine Schritte. Dieses Tun hat ganz denselben Nutzen, den der Wanderer von dem Herplappern aller der in jeder dieser Gebetmühlen auf langen Papierstreifen enthaltenen Gebete haben würde. Wehe dem, der die Mühle nach der verkehrten Seite hin drehte! Sowohl die Rotation wie auch das Durchschreiten des Koreganges müssen in der Richtung der Zeiger einer Uhr vorsichgehen.

Durch eine Scharte der inneren Seite des Ganges konnte ich in eine halbunterirdische Tempelkrypte hinunterschauen, in welche die Mönche mich nicht hineinlassen wollten. Ich sah jedoch auch von dort aus, daß lauter Medaillons in Flachrelief, die buntbemalte und teilweise vergoldete Buddhabilder darstellten, die Längswand verzierten. Auf dem Lehmfußboden lagen einige frischbehauene Manisteine und ein schön gemeißeltes steinernes Götterbild; ich hätte sie gern gegen Silbergeld erstanden, bat aber vergeblich darum.

In Rabgjäling lebten elf diensttuende Mönche. Die Außenmauern ihrer Häuser waren graublau, rot und weiß in senkrechten Streifen angestrichen, eine Zusammenstellung, welche die Verwandtschaft des Klosters mit Sakija anzeigen soll. Die Mönche zeigten sich ebenso freundlich gesinnt wie die Laien und deren Weiber, die zu meinen Zelten pilgerten, um kleine Klumpen mehr oder weniger ranziger Butter zu verkaufen.

Im Scheine der Abendsonne leuchtete der höchste Lhakang des Klosters wie das Blut auf einem Opfersteine. Aber die Schatten wurden länger und füllten das Tal, dessen Stille nur durch das Rauschen des Flusses unterbrochen wurde. Die Sterne, die Freunde aller Pilger und Wanderer, funkelten an dem kalten Abend klarer als sonst. In der Nacht sank die Temperatur auf 0,1 Grad über Null. Wir befanden uns aber auch in 4166 Meter Höhe und waren von der Klosterstadt Totling an wieder um 466 Meter gestiegen.


 << zurück weiter >>