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Durch trockene Schluchten zwischen Felshügeln schlängelt sich die Straße von Nima-lung nach dem Tschagring-la hinauf, einer kleinen Schwelle, wo in einem Steinhaufen eine Wimpelstange errichtet ist. Der Blick reicht hier kaum weiter als an irgendeinem Punkte des Tales. Fern in Südost sieht man noch immer die mächtigen Berge, die jenseits von Gartok liegen, und in Nordwest gewahren wir die Reihe der Ausläufer, die wir einen nach dem andern passieren werden. Das Tal ist jetzt wieder breit und offen; der Gar-tschu, an dessen Ufer wir hinziehen, gleitet nicht so lautlos dahin, wie er es weiter oben getan, sondern rauscht leise und bildet kleine Stromschnellen, die größeres Gefälle verraten.
Feierlich und still wie ein Sonntag liegt das Tal vor uns (Abb. 28); Menschen und Herden fehlen, alles ist tot und still und so verlassen, als ob feindliche Heere verwüstend durch das Land gezogen seien. Eine Manimauer und die Straße nach Ladak sind die einzigen Zeichen, die von Menschen hinterlassen worden sind. Nur bei Namru wachsen magere Sträucher zwischen üppigem Gras, und ein Ackerstück, auf welchem in günstigen Jahren Gerste gesäet wird, ist die erste Spur von Ackerbau, die ich in Westtibet gesehen habe.
28. Aussicht aus dem Industal nach Nordwesten (S. 35.)
Im Hintergrunde des auf der linken Seite einmündenden Nebentals Schinkar erhebt sich ein dunkles Bergmassiv mit schneebedecktem Gipfel – ein flüchtiger Schimmer des gewaltigen Kammes, dem wir bis nach Ladak folgen und den die englischen Topographen die Ladakkette genannt haben (Abb. 29). Sie bildet die Wasserscheide zwischen Indus und Satledsch. In früheren Zeiten sind ihre Abhänge und steilen Wände von ungeheueren Regengüssen bespült worden. Davon zeugen noch die 50 Meter hohen Flußterrassen, die wir an der Mündung des Schinkartales erblicken.
29. Ladakkette südlich des Indus. (S. 35.)
Tschusan, das »warme Wasser«, ist ein Name, der uns in Tibet oft begegnet. Dicht neben dem linken Ufer des Gar-tschu und ein paar Meter über dem Spiegel des Flusses sprudelt auch hier eine Gruppe heißer Quellen aus der Erde. Eine davon bildet ein kleines offenes Becken, auf dessen Grund das klare Wasser aufbrodelt; es hat eine Temperatur von 60,5 Grad. In dem Auge einer andern Quellader kochte das Wasser; es war demnach auf mehr als 80 Grad erhitzt. Eine dritte sprudelte wie ein winziger Geiser, und ihre Ausbrüche folgten einander mit einer Minute Pause. Von den verschiedenen Seiten her wird das Wasser durch kleine Rinnen in einem größeren Bassin gesammelt, in welchem Kranke baden, um Heilung zu finden. Eine Steinmauer schützt gegen den Wind, eine zweite Mauer dient als Entkleidungszimmer. Unmittelbar jenseits der Quelle lagern wir auf den abgegrasten Wiesen von Luma-ngoma (Lager 253).
Eben wie ein Fußboden dehnt sich der Talgrund vor uns aus, als wir am nächsten Tage nach Nordwesten weiterziehen. Die Trümmer von ein paar Hütten sind das alte Gar-gunsa, wie der Führer sagt. Der Fluß eines Nebentals hat die Stelle einst überschwemmt, und Gargunsa ist deshalb weiter talabwärts verlegt worden. In der Ferne sehen wir seine Zelte und Reisighecken; aber bis dorthin ist es ein weiter Weg über die unendliche Ebene, die bald mit Sand, bald mit Gras, Gesträuch oder Sumpfstellen bedeckt ist. Hier weiden eine Menge Yaks und Pferde, und man merkt, das der Winterumzug von Gartok hierher begonnen hat.
In Gar-gunsa nahm mein langes Warten endlich ein Ende (Abb. 30–33). Die Post kam aus Indien mit Proviant, Geld, Waffen und Munition, und am 9. November konnte ich nach Ladak aufbrechen. –
30. In Gar-gunsa. Im Vordergrund mein Diener Rabsang. (S. 36.)
31. Aus dem Lager in Gar-gunsa. (S. 36.)
32. Kloster Gar-gunsa. (S. 36.)
33. Mein Zelt mit dem Sonnensegel. (S. 36.)
Nun ist die Karawane wieder groß und stattlich; wie eine schwarze Schlange windet sie sich über den grauen Boden. In Gar-gunsa hatte ich von Gulam Rasul Maulesel gekauft. Sie durften unbeladen gehen, weil sie ihre Kräfte zu dem harten Winterfeldzug, der ihrer im Norden wartete, schonen sollten. Unser sämtliches Gepäck tragen gemietete Yaks (Abb. 34), und die tibetische Eskorte, zwei Reiter aus der Garde der Garpune aus Gartok, ordnet alles an den Lagerplätzen. Streng genommen begleiten sie uns, um unsere Bewegungen zu überwachen; aber das ist mir einerlei, solange wir auf der großen Heerstraße bleiben, und ich gedenke, ihnen keine Sorgen zu bereiten – wenigstens einstweilen nicht!
34. Lastyaks auf dem Marsch. (S. 36.)
Ich selbst reite mein Ladakipferdchen, das jetzt nach der langen Ruhe munter und feist ist. Die vierbeinige Eskorte besteht aus einer ganzen Herde der verschiedensten Hunde, aus unsern eigenen Karawanenhunden und anderen Freibeutern und Strolchen, die sich in Gartok mit ihnen angefreundet haben.
Dem Auge unmerkbar senkt sich das Tal; keine Hindernisse erheben sich auf unserm Weg, der Boden besteht aus feinstem Staub, auf dem hohes, gelbes, knochenhartes Gras und die von dem frühen Winter abgeschälten Ombosträucher wachsen. Der Marsch geht daher schneller vorwärts als sonst. Zwei Maulesel tragen Schellen und Glocken, die im Takte mit den trippelnden Schritten munter läuten; von Zeit zu Zeit ertönen die Mahnrufe der Treiber, die Pferde wiehern, die Yaks grunzen, die Hunde sausen wie Raketen hinter aufgestöberten Hasen her, und auf das Kartenblatt vor mir zeichne ich den einförmigen Weg nach Ladak auf.
Hier steht ein einsames Zelt, dort erinnern zwei Manimauern die Vorüberziehenden an die Wanderschaft jenseits des Tales der Todesschatten, und hier wieder kommen einige zottige Yaks, die Brennmaterial nach Gar-gunsa bringen, wo man diesen Abend die Ankunft der beiden Garpune erwartete.
Der Zug macht halt. Aha, hier haben wir zwei hartgefrorene Arme des Flusses vor uns! Auf dem Eise wird ein Sandweg gestreut, und dann geht es wieder vorwärts. Die Straße durchquert das Tal nach dem Bergfuße der linken Seite hin, wo einige muntere Wildesel von der Höhe eines flachen Schuttkegels in der Mündung eines Quertals herab uns neugierig betrachten. Der ebene Boden des Haupttals schillert gelblich von den Wiesenstreifen zwischen den Flußarmen, und hier und dort sieht man dunkle Flecke, das sind Sträucher. Das Wetter ist großartig, Wolken und Winde feiern heute; soweit die Sonne scheint, herrscht noch Sommer; nur mein rechter Fuß, der beständig im Schatten des Pferdes ist, wird allmählich so kalt wie ein Eiszapfen.
An der Quelle Tschiu haben Tibeter ihre Zelte aufgeschlagen, und auch wir lassen hier unsere Tiere frei grasen, aber nur, um sie beim Sonnenuntergang wieder im Lager 255 anzupflöcken. Die Gegend ist berüchtigt wegen ihrer Wölfe, die das Vieh in Rudeln angreifen. In der Nacht ertönten Flintenschüsse und lautes Rufen in der Nachbarschaft; einige unserer Leute waren draußen, um eine Schar Isegrime in die Flucht zu jagen. In der vorhergehenden Nacht war ein Wildesel außer sich vor Angst ins Lager hineingestürmt, um sich unter unsern Tieren zu verstecken. Seine Oberlippe war aufgerissen, und roter Schaum stand ihm vor dem Maul. Offenbar war er nur mit genauer Not noch lebend entkommen. Es soll in dieser Gegend zwei Arten Wölfe geben; die einen haben hellgraues, beinahe weißes Fell, die andern sind dunkelgrau.
Von der Tschiu-Quelle aus erblickt man in Nordost den leicht zu ersteigenden, flachen Paß Pele-rakpa-la, von welchem ich schon früher gehört hatte. Auf seiner andern Seite liegt das Tal des Lang-tschuflusses.
Am Abend herrschte unter meinen Leuten eine heitere Stimmung. Prächtige Feuer loderten und sprühten zwischen den Dickichten der Ombosträucher, und in ihre Schafpelze gehüllt saßen die Männer in Gruppen so dicht wie möglich am flackernden Feuer. Die braunen, wetterharten Gesichter glänzten vor Freude bei dem Gedanken an das nahe Ladak. Scharf gelb und rot beleuchtet, stachen die halbwilden Gestalten grell gegen die hinter ihnen herrschende schwarze Nacht ab. Man merkte, daß der Winter ernstlich seine Hand auf die Erde gelegt hatte. Schon um neun Uhr hatten wir 16,6 Grad unter Null, eine grimmige Kälte nach dem warmen Tage. Die Luft war in völligem Gleichgewicht; die Flamme meines Lichtes zitterte nicht ein bißchen, die Zeltleinwand hing schlaff und regungslos, und von den Lagerfeuern stieg der Rauch kerzengerade zu den Sternen empor. Über den Bergen schwebte die Mondscheibe an einem kaltblauen Winterhimmel; wir sollten auf dem ganzen Wege nach Ladak Abendbeleuchtung haben.
Als ich nach 23,2 Grad Kälte in der Nacht in das helle Licht des Morgens hinaustrat, waren alle Sträucher und Grashalme, Zelte, Sättel und Kisten, ja sogar Yaks und Pferde mit schneeweißem Reif überzogen. Ich hatte das Gefühl, als habe sich alles in Marmor verwandelt und werde wie Glas zerspringen, wenn man es zu hart berühre. Doch die Sonne zerstörte bald die Illusion, und als wir auf dem steinhart gefrorenen Boden weiterwanderten, hatte die Landschaft ihr gewöhnliches Aussehen wieder angenommen. Der Vegetationsgürtel blieb rechts liegen, während der Pfad über unfruchtbares, ausschließlich mit Granitschutt bestreutes Gelände führte. Hier stand eine Manimauer, in deren Granitplatten ausgemeißelt die heiligen Worte ihre stille Sprache sprechen.
Weiter vorwärts wird der Boden sandig und höckerig infolge der vielen Grasbüschel; der Weg zieht sich längs des Fußes der Schuttkegel der Ladakkette hin. Diese Kegel breiten sich von den Mündungen der Nebentäler aus und lösen einander, soweit der Blick reicht, wechselweise auf beiden Seiten des Haupttales ab. Zwischen ihrem vorderen Rande beträgt die Breite des ebenen Talgrundes gegen 10–15 Kilometer. Die dunklen Felsengiebel, welche die Ladakkette nach dem Haupttale ausschickt, bilden eine unendliche Perspektive bis in eine weite Ferne, wo sie in immer leichter und heller werdenden Farbentönen verschwimmen. Zwischen ihnen gähnen die kurzen, engen und finsteren Schluchten der Quertäler. Da wir oben auf der linken Uferterrasse reiten, befinden wir uns auf höherem Niveau als dem des Flusses, über dessen gewundenen Lauf wir daher eine vorzügliche Aussicht haben. An der anderen Seite steigen die mehr hügeligen Höhen des Transhimalaja an, die weit niedriger sind als die der Ladakkette. Daher sind die Schuttkegel vor den Quertälern des Transhimalaja auch kleiner. So sieht die Landschaft Tag für Tag aus.
Doch diese Ketten sind alle beide wichtige Hauptzüge der physischen Geographie Tibets; die Ladakkette wegen der Rolle, die sie als Wasserscheide spielt, und der Transhimalaja als das eigentliche Randgebirge des Hochlandes.
Das Haupttal ist merkwürdig gerade (Abb. 35). Daher konnte der Blick von einem hohen Schuttkegel aus weit nach Nordwesten schweifen, bis weit über Demtschok und die Westgrenze Tibets hinweg nach den rosigen und braunroten Gebirgen, die in Ladak liegen. Jenseits dieser Berge zeigen sich andere Gipfel in leichten stahlblauen Farbentönen, die man kaum ahnt. Im Vordergrund, und dennoch eine tüchtige Tagereise entfernt, erblickt man mitten im Tal auf einem kleinen Felsen thronend das Kloster Taschi-gang. Die Luft ist so klar, daß alle Entfernungen gering erscheinen. Und schließlich gewahren wir zur Rechten das Tal, durch welches der Singi-kamba, der eigentliche Indus, aus dem Gebirge heraustritt, um sich mit dem Gar-tschu zu vereinigen. Dort erweitert sich das Haupttal zu einer wirklichen Ebene, die von Gras gelb schillert und von Sträuchern braungefleckt ist.
35. Lager am Indus. (S. 39.)
Bald sind wir in dem kleinen Dorfe Langmar (Abb. 36) angelangt, wo sechs bis sieben Familien in schwarzen Zelten wohnen, die zum Schutze gegen Wind und Kälte mit Reisighecken umzäunt sind. Um sich der bösen Geister, die in der Luft hausen, zu erwehren, haben sie ihre Wohnungen mit Stangen, Schnüren und Wimpeln versehen.
36. Dorf Langmar. (S. 39.)
Kaum ist die Sonne im Westen untergegangen, so kommt schon der Nachtfrost angeschlichen und dringt überall ein. Dann gefriert mir die Tinte in der Feder, wenn ich mit gekreuzten Beinen auf meinem Bette sitze und meine Beobachtungen im Tagebuch eintrage; dann lodern die Feuer höher auf, und immer öfter wird mir ein frischgefülltes Kohlenbecken ins Zelt gebracht. Die Kälte sank im Lager 256 in der Nacht auf den 11. November bis auf 24,8 Grad.
An diesem Tage machten wir einen kurzen Marsch. Mein Ziel war der Punkt, wo sich die Wellen der beiden Indusarme miteinander vermischen. Der Gartong oder Gar-tschu strömte langsam und ruhig dahin, aber der Singi-kamba eilte reißend und lebensfroh aus seinem Tore im Transhimalaja heraus. Auf dem Graswalle am linken Ufer des Gartong schlugen wir im Lager 257 unsere Zelte auf. Ich hatte eine ebenso hübsche wie ungewohnte Aussicht über weite, eisbedeckte Wasserflächen (Abb. 37).
37. An der Vereinigung beider Indusarme. (S. 39.)
Nun galt es, die Wassermenge der beiden Flüsse zu messen. Vielleicht wird der Leser eine solche Arbeit ziemlich unnötig und uninteressant finden. Darin irrt er sich jedoch. Vor hundert Jahren kannte man nur den Gartong-Arm, der als die eigentliche Quelle des Indus galt. Später hörte man von einem nördlicheren Flusse, dem Singi-kamba, erzählen; aber noch vor einigen fünfzig Jahren waren die Ansichten darüber sehr geteilt, welchen der beiden Flüsse man als Hauptfluß betrachten und welchen man Nebenfluß nennen müsse. Im Jahre 1867 wurde durch Montgomeries Punditen nachgewiesen, daß der Singi-kamba bedeutend länger ist als der Gartong. Aber die Länge des Flußlaufes ist nicht allein entscheidend; die Wassermenge ist mindestens ebenso wichtig. Dennoch folgte man damals dem Beispiele der Tibeter, und der Singi-kamba durfte als Quellarm des Indus gelten. Irgendeine genaue Messung war nicht vorgenommen worden. Deshalb hatte ich am 11. November 1907 meine Zelte an dem Vereinigungspunkte der beiden Indusarme aufgeschlagen.
Daß es keine leichte Sache sein würde, konnte ich mir sagen; denn der Gartong-Arm war, eine schmale Rinne in der Mitte abgerechnet, fest zugefroren. In dem Eise an unserm Ufer wurde ein Hafen aufgehauen und dann die Eisbrücke vom Boote aus mit Spaten und Beilen angegriffen. Wir bedurften eines offenen Durchganges, um Tiefe und Stromgeschwindigkeit ungehindert messen zu können. Kaum aber war unsere Rinne fertig, so trieben von oben her gewaltige Eisschollen heran, die den Durchgang ärger als vorher verstopften. Das Boot wäre überdies beinahe zerfetzt worden.
Um Mittag trat ein Szenenwechsel ein. Das Eistreiben nahm ab, die Eisschollen in dem verstopften Durchgang begannen sich gegen einander zu pressen und zu reiben, und mit rasselndem Getöse setzte sich die ganze Masse in Bewegung, um flußabwärts zu schwimmen. Dort, wo das Bett am schmalsten und die Strömung am schnellsten war, lag die Wasserfläche beinahe eisfrei da. Im Handumdrehen wurde ein Tau über den Fluß gespannt. An acht Punkten in gleich großer Entfernung maß ich die Tiefe und die Stromgeschwindigkeit an der Oberfläche, auf dem Grunde und in der Mitte zwischen beiden. Und nun stellte sich heraus, daß der Gartong 58 Meter Breite, 0,405 Meter mittlere Tiefe, 0,780 Meter Maximaltiefe, im Durchschnitt 0,279 Meter Stromgeschwindigkeit und 6,550 Kubikmeter Wassermenge in der Sekunde hatte. Ein kleiner Arm hinter einer Schlammbank vermehrte die Wassermasse auf 6,670 Kubikmeter.
Der Singi-kamba war beim Zusammenfluß in zwei Arme geteilt, und es hatte den Anschein, als ob dieser Fluß nach ergiebigen Niederschlägen ein ausgedehntes Delta bilden könne, während der Gartong stets in einer schmalen Rinne zusammengepreßt ist. Der obere Ast des Singi-kamba hatte folgende Dimensionen: Breite 27,5 Meter, Durchschnittstiefe 0,304 Meter, Maximaltiefe 0,510 Meter, Durchschnittsgeschwindigkeit 0,678 Meter und Wassermenge 5,670 Kubikmeter in der Sekunde. Die Dimensionen des untern Armes waren: Breite 32,7 Meter, mittlere Tiefe 0,288 Meter, Maximaltiefe 0,480 Meter, Durchschnittsgeschwindigkeit 0,437 Meter und Wassermenge 4,110 Kubikmeter in der Sekunde. Der ganze Fluß führte also 9,780 Kubikmeter Wasser und war demnach gut 3 Kubikmeter stärker als der Gartong.
Daher ist der Singi-kamba, der Löwenfluß, nicht nur der längere, sondern auch der wasserreichere der beiden Arme, und das Problem ist gelöst! Man kann freilich einwenden, daß das erwähnte Größenverhältnis nur für den Spätherbst und den Winter Gültigkeit besitze. Denn im Sommer und besonders während der Regenzeit können ganz andere Gesetze mitspielen. Ohne Zweifel ist dies auch der Fall. Die Regenmenge nimmt nach Nordosten hin ab. Daher fällt in dem Gebiete des Gartong mehr Regen als in dem des Singi-kamba, dem der Transhimalaja Feuchtigkeit entziehen kann. Auch die durch die Schneeschmelze eintretende Frühlingsflut ist beim Gartong reichlicher. Wie oft treten nicht Unregelmäßigkeiten ein infolge der Richtung der Winde und des launischen Wechsels der Temperaturen! Einstweilen können wir als wahrscheinlich ansehen, daß der Gartong während des ganzen Jahrs mehr Wasser führt als der Singi-kamba. Aber ich habe wenigstens festgestellt, daß der Singi-kamba der größere ist, wenn keine störenden Einflüsse tätig sind, wenn keine Niederschläge fallen und wenn die Temperatur in beiden Flußgebieten als gleichartig angesehen werden kann.
Der Singi-kamba durchquert den Transhimalaja in einem Durchbruchstal, der Gartong strömt in einem tektonischen Tale zwischen gewaltigen Gebirgsfalten hin. Daher ist es der Gartong, der dem vereinigten Indus die Richtung vorschreibt. Von Gar-gunsa an folgt der Gartong dem Bergfuße der rechten Talseite; aber gerade beim Zusammenfluß zwingt ihn der Singi-kamba, nach der linken Talseite hinüberzugehen. Das Schlammdelta des Singi-kamba diktiert also die Lage der Vereinigungspunkte.
Nach 14 Grad Kälte in der Nacht war der Fluß am nächsten Morgen mit einer dünnen Eishaut bedeckt. Nur einige schmale Kanäle hielten sich offen; durch sie führte die Strömung Massen poröser Eisschollen flußabwärts, die helltönend gegen das am Lande haftende Eis klapperten. Über den Keil der flachen Landzunge zwischen den beiden Flüssen hinweg sah man das Treibeis des Singi-kamba dem Gartong entgegeneilen. Hier geht der Name Gartong unter in den Wellen des Kameraden, denn so weit die Tibeter den Indus auf seinem Laufe nach Nordwesten kennen, nennen sie den Fluß Singi-kamba oder Singi-tsangpo, den Fluß des Löwen.
Ein Tag wurde hier der Ruhe gewidmet. Nachmittags verschwand alles Ufereis und alles Grundeis, aber schon gegen sieben Uhr kamen neue Schollen angeschwommen, und am Abend lärmte das Eisgerassel wie eine Zuckersäge.
Im Mondschein gewährt die Landschaft ein eigentümliches Schauspiel. Unter dem Monde stehen die Berge wie rabenschwarze Silhouetten; die beleuchteten Partien gerade gegenüber sind nur schwach sichtbar. Zwischen beiden scheint der ganze Talgrund voller Wasser zu sein, und das Treibeis gleitet dahin wie ein bewegliches Trottoir aus Glasscherben und glänzendem Porzellan.